Ausgabe

Juden in Europa

Content

Wolfgang Geier: Juden in Europa. Historische Skizzen aus zwei Jahrtausenden. Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens. Bd. 9.1

Klagenfurt: Wieser Verlag 2012.

146 Seiten, Euro 49,90

ISBN 978-3-99029-005-7

„Was soll das", mag sich der Leser denken, „noch ein Buch über jüdische Geschichte?" Wohl nichts Neues. Geier beginnt seine Einleitung denn auch ganz konventionell mit einem Konjunktiv: „das könnten ... gewesen sein", „sind ... wohl erst", „werden ... möglicherweise", wie es heute unter Historikern allgemein üblich ist, um ihre These zu bekräftigen, dass die Erzväter der Juden, Abraham, Isaak und Jakob, kaum mehr als mythologische Figuren gewesen sein dürften. Erinnern möchte ich an „Keine Posaunen vor Jericho. Die archäologische Wahrheit über die Bibel" vom israelischen Archäologen Israel Finkelstein und seinem amerikanischen Historikerkollegen Neil A. Silberman, die bemüht sind, die gesamte Geschichte des Volkes Israel bis zum Auftauchen von König David, an den eine spät gefundene Stele in Nord-Israel erinnert und der deshalb nicht totgeschwiegen werden kann, in den Bereich des Mythischen zu verweisen. Diese These wird gerne von anderen Historikern und Pseudohistorikern, siehe dazu die ausgerechnet immer wieder vor Weihnachten in DER SPIEGEL veröffentlichten Beiträge zur jüdischen Geschichte, aufgegriffen, um zu beweisen, dass es ein Volk Israel gar nicht gibt und eigentlich auch nie gegeben hat. Dieser Tendenz folgt Geier - vorläufig - anscheinend noch, als er anfangs stets von der „sogenannten ägyptischen Gefangenschaft" und vom „sogenannten babylonischen Exil" spricht.

Erst mit dem Aufstand 66 d.Z. „in und um Jerusalem" sowie dem Bar-Kochba-Aufstand 132-135 d.Z. - über beide existieren sowohl jüdische wie nichtjüdische Berichte - wird Geier konkreter. So findet zum Beispiel der israelische Archäologe Yigael Yadin 1951/52 in den Höhlen beim Toten Meer schriftliche Dokumente, die zweifelsfrei belegen, dass der Bar-Kochba-Krieg tatsächlich stattgefunden hat. Weiter erfährt der Leser, dass „die römischen Feldherren das Land verwüsten und entvölkern" (S.18), „Hunderttausende Aufständische werden massakriert, auf Sklavenmärkten verkauft oder vertrieben; die Überlebenden flüchten in kleinasiatische, ägäische und andere Gebiete am Mittelmeer" (ebenda). Damit beginnt „die eigentliche Zeit der ‚Zerstreuung, ... die fast zwei Jahrtausende dauern sollte" (ebenda).

Geier folgt den Spuren der Wanderung des jüdischen Volkes in die Diaspora. Zur Zeit der römischen Kaiser, „die es in ihrem gesamten Herrschaftsbereich mit jüdischen Bevölkerungen zu tun hatten" (S. 21), werden die Juden aus politischen und kulturellen Gründen mehr oder minder heftig verachtet und entsprechend behandelt. Geier betont, dass Feindschaft und Hass der Kirchenväter gegen die Juden ihre Ursprünge im Imperium Romanum zur Zeit der Entstehung der christlichen Religion haben.

Der Hass der Kirchenväter auf die Juden und alles Jüdische wird aufgegriffen von Päpsten und Königen und mündet in die Kreuzzüge, die Inquisition und die vom Judenhass erfüllten Schriften Martin Luthers. Das gilt für Mitteleuropa. In Spanien erfreuen sich Juden eines verhältnismässig ruhigen Lebens - bis sich die westgotischen Könige zum katholischen Glauben bekehren. Daraufhin setzt eine beispiellose Unterdrückung der Juden auf der Iberischen Halbinsel ein. Kein Wunder, dass die dortigen Juden die Ankunft der maurisch-muslimischen Heere unter Tariq im Jahr 711 hoffnungsvoll begrüssen. Erst mit dem Sieg der christlichen Herrscher Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragon über die letzte muslimische Enklave Granada geht das für die Juden auf der Iberischen Halbinsel relativ annehmbare Leben zu Ende. 1492 werden alle, die sich nicht taufen lassen, des Landes verwiesen. Dank der für Juden weitgehend friedlichen Zeiten bis dahin war es zu einer beispiellosen Blüte jüdischer Gelehrsamkeit, Medizin und Philosophie sowie jüdischer Dichtung gekommen, die nun ein jähes Ende fand.

Im krassen Gegensatz dazu steht um die gleiche Zeit für die Juden das Leben in Aschkenas, also anfangs Deutschland und Nordfrankreich: Unterdrückung und Verfolgung, Pogrome und Einpferchen in Ghettos und schliesslich Ausweisung sind an der Tagesordnung. Erst im Schutz der polnischen Krone tritt eine Atempause für die Juden ein. Vom 11. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts lebt man als Jude verhältnismässig friedlich im Osten von Aschkenas, in Polen und Litauen. Das ändert sich erst, als die Saporoger Kosaken unter ihrem Hetman Bogdan Chmelnicki einen Aufstand gegen die Polen beginnen. Zwischen 1648 und 1656 wird die jüdische Bevölkerung zu neunzig Prozent in Massakern ermordet. Ihre Zahl wird auf zwischen 300.000 und 500.000 geschätzt.

Das Schicksal der aus Spanien ins Osmanische Reich geflüchteten Juden verläuft glücklicher. Sie sind willkommen, dürfen sich im gesamten Osmanischen Reich ansiedeln. Man begegnet sefardischen Juden von Bulgarien im Norden über Belgrad bis Thessaloniki und Istanbul ebenso wie in Kleinasien, in Safed und in Jerusalem.

Mitte des 19. Jahrhunderts, erklärt Geier - und tritt damit dem Mythos von der Gründung des Staates Israel allein aufgrund der Schoa ganz deutlich entgegen -, entstehen die ersten Entwürfe für das Streben „nach einer ‚Heimstatt, einer ... Rückkehr in das Land ihrer Vorväter" (S. 79). Geier weist auf Männer wie David Gordon und Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer ebenso wie auf Moses Hess und ihre wegweisenden Schriften hin. Es gründen sich Vereine, und es entstehen Bewegungen, die sich „eine Ansiedlung in Palästina" zum Ziel setzen und staatliche, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Institutionen und Strukturen bilden wollen. In den 1890er Jahren steigt Theodor Herzl dann zum Repräsentanten des Zionismus auf. Auf den Seiten 89 bis 95 befasst Geier sich mit den Juden im östlichen und südöstlichen Europa, fährt fort mit der Rettung der bulgarischen Juden und der Ermordung der Juden in Thessaloniki während der deutschen Besatzung (April 1941 bzw. März 1943 - Juli 1944). Seine Zahlen für jüdische Bevölkerungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen 1946 und 2001 kann man in Frage stellen. Sie hängen wohl von der jeweiligen Quelle ab, auf die man sich bezieht.

Zum Schluss setzt Geier sich kritisch mit den Thesen von Shlomo Sand, wie in seinem Bestseller (in Deutschland) „Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand", Tel Aviv 2008, Berlin 2010, dargelegt, auseinander. Dass Sand hier eher etwas verfasst hat, was den „richtigen" Ton Israel gegenüber getroffen hat und sich in glänzenden Absatzzahlen seines Titels widerspiegelt, als dass es den Tatsachen entspräche, dieser These Geiers stimme ich voll und ganz zu. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis über das Judentum schliesst diese am Ende doch nicht ganz so alltägliche Abhandlung der Geschichte des jüdischen Volkes ab.

Ein empfehlenswertes Buch, das überraschende Aussagen und Tatsachen bringt. Es sollte aufmerksam gelesen werden.