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Erdogan, Mursi und die Demokratiefrage

Gustav C. GRESSEL

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Die Niederschlagung der Jugendproteste in Istanbul durch türkische Bereitschaftspolizei und die Absetzung Mursis durch das ägyptische Militär werden im Westen kontroversiell diskutiert. Dabei kommen Kommentatoren oft auf die Demokratiefrage zurück: Erdogan sei demokratisch gewählt, also darf er niederschlagen. Mursi sei auch demokratisch gewählt, also dürfe man ihn nicht des Amtes entheben. Dabei scheinen aber diese Kommentatoren aus den Augen verloren zu haben, dass „Demokratie" nicht nur bedeutet, einmal Wahlen gewonnen zu haben.

Das Frühjahr 2013 sah zwei bedeutende Umbrüche im Orient: In Istanbul erhoben sich die junge urbane Mittelschicht, Studenten, Oppositionelle und Vertreter enthno-religiöser Minderheiten zum ersten Mal gegen die Regierung Erdogan. Formell entzündete sich der Protest an einer auf „allerhöchsten Befehl" angeordneten Umgestaltung des Gezi-Parkes im Herzen Istanbuls zu einem Einkaufszentrum. Doch bauten sich die Spannungen, die sich im Gezi-Park und Taksim-Platz entluden, aus verschiedenen Gründen auf. Erstens nutzt Erdogan die sehr weitläufigen Anti-Terrorgesetze der Türkei zur Verfolgung von Opposition und politischen Konkurrenten. Im Zuge des Ergenekon Prozesses - angeblich hätten säkulare Kräfte einen Putschversuch gegen Erdogan geplant - wurden um die 12.000 Personen festgenommen und zum Teil jahrelang ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgehalten. Der Prozess stützte sich letztendlich auf eine einzige (höchst wahrscheinlich gefälschte) Tonbandaufnahme als Beweismittel und darf als Farce bezeichnet werden. Immerhin mussten rund 250 Personen wegen dieser Farce zum Teil lebenslang hinter Gitter. Zweitens begann Erdogan zunehmend seine konservativ-religiösen Vorstellungen der türkischen Gesellschaft per Gesetz aufzuoktroyieren. Ob es sich um die verschärfte Zensur „unmoralischer" Internetseiten oder um das Verbot von Alkoholverkauf zu Abendstunden handelt, werden auch nicht-sunnitische bzw. nicht-muslimische Türken mit der Islamisierung ihres persönlichen und des öffentlichen Lebens konfrontiert. Drittens sind auch Erdogans Baupläne als Provokation anzusehen: Sultan Selim I, nach dem die neue Brücke über den Bosporus benannt werden soll, ist in die türkische Geschichte in erster Linie als Alevitenschlächter eingegangen. Auch das Einkaufszentrum soll in Erinnerung an osmanische Glorie im Stil einer ehemaligen Kaserne erbaut werden, die im Zuge der Stadtmodernisierung 1921 entmilitarisiert und 1940 geschliffen wurde. Viertens verfestigen sich die Gerüchte, dass Erdogan die Verfassung der türkischen Republik umschreiben möchte. Neben einer Machtstärkung für seine Person (Präsidentielles System) wird vor allem befürchtet, dass er seine gesellschaftskonservativen und religiösen Anliegen in dieser Verfassung verankern möchte.

In Ägypten entmachtete das Militär im Juni 2013 Präsident Mursi. Auch hier gingen intensive Auseinandersetzungen um die soziale und politische Ordnung Ägyptens den Ereignissen voraus. Das Problem war, dass mit der gewählten Übergangsregierung Ägypten zwar eine Regierung, aber keine Verfassung bekam. Diese sollte durch die neue Regierung ausgearbeitet werden. Die schlussendlich präsentierte Verfassung sah neben der Stärkung des Präsidentenamtes vor allem auch eine Stärkung des sunnitischen Islams als Staatsreligion und der Scharia als Rechtsquelle vor - und dieses stieß vor allem urban-säkularen Kräften und religiösen Minderheiten auf. Das Referendum über die Verfassung wurde durch Gewaltexzesse islamistischer Mobs überschattet und trotz geringer Wahlbeteiligung von  33 Prozent und Fälschungsvorwürfen von der Regierung angenommen. Die sich verschlechternde Sicherheitslage und wirtschaftliche Lage führte zu einer weiter sinkenden Popularität des Regimes. Eine Unterschriftenaktion im Juni 2013, die Mursi zum Rücktritt aufforderte, sammelte mehr Unterschriften als Mursi 2011 Stimmen bekam.

Im Bild westlicher Medien war Erdogans Reaktion auf die Proteste zwar übertrieben hart, aber nach dem Motto „Taksim ist nicht Tahrir" sei Erdogan gewählt, also dürfe er das. Umgekehrt sei das Verhalten der Armee in Ägypten nichts anderes als ein verurteilenswerter Militärputsch gewesen. So einfach ist die Lage aber nicht. Denn um von „Demokratie" sprechen zu können, braucht es mehr als nur den Wahlentscheid über die Besetzung von Machtpositionen! In der Tat warnten die aufklärerischen Vorväter der amerikanischen wie der französischen Revolution Demokratie als „Diktatur der Mehrheit" fehlzuinterpretieren. Das Land sei nicht Beute des gerade durch Wahlen an die Macht gespülten, der dann mit Hilfe einer gesetzgebenden Mehrheit mit diesem machen könne, was er wolle. Manfred Hättich zählt folgende Merkmale demokratischer Herrschaftsordnungen auf: konkurrierende Willensbildung (Antreten verschiedener Strömungen zu Wahlen), pluralistische Herrschaftsstruktur (Gewaltenteilung, Checks and Balances), partielle politische Repräsentation (es gibt Lebenssphären individueller und sozialer Art, die der politischen Herrschaft und ihrer Repräsentationsfunktion entzogen sind).1 Zu allen drei Punkten muss man Erdogan und Mursi kritisieren: beide versuch(t)en die Opposition kleinzukriegen, beide haben die Unabhängigkeit ihrer Justiz und die Freiheit der Medien unterhöhlt und beide versuchen alle sozialen und individuellen Lebenssphären ihren (religiösen) Stempel aufzudrücken.

Wie weit staatliche Regelungsmacht gehen soll, wie die Kompetenzen einzelner Herrschaftszentren eingerichtet sind und nach welchen Modalitäten politische Gestaltungsideen miteinander Konkurrieren sollen, ist freilich eine offene Diskussion und es gibt hierzu unterschiedliche Lösungen. Aber es ist auch Merkmal eines demokratischen Systems, dass diese fundamentalen, das Herrschaftssystem an sich konstituierenden Regeln von einer breiteren Mehrheit als bloß der einfachen Regierungsmehrheit akzeptiert werden. Konstitutionalismus und die schwere Abänderbarkeit von Verfassungen sind Ausdruck dieses Konsenssuchens. Dieser beinhaltet auf der Gegenseite aber auch, dass sich Bürger, die zwar mit den gegenwärtigen Amtsinhabern unzufrieden sind, dennoch an die verfassungsmäßigen Spielregeln halten und politische Veränderungen nicht durch Maßnahmen jenseits des konstitutionellen Rahmens zu erwirken suchen.

Und jetzt kommen wir zum Kern der Problematik: Mursi versuchte im Herbst 2012 Ägypten eine nicht-konsensfähige Verfassung aufzuoktroyieren, Erdogan scheint dieses in der Türkei zu versuchen. In beiden Fällen fühlten sich namhafte religiöse Minderheiten (Aleviten in der Türkei und Kopten in Ägypten) sowie die säkularen Kräfte vom politischen System zunehmend ausgeschlossen. Und dagegen begann sich Widerstand zu äußern. Insofern sind die Demonstrationen von Istanbul (und nunmehr Ankara) als demokratisch äußerst legitim zu bezeichnen und auch die Absetzung Mursis hatte noch eine demokratiepolitische Berechtigung. Das Problem ist nun, dass das Militär in Ägypten nun denselben Fehler macht wie Mursi zuvor. Denn anstatt nach einer konsensfähigen Verfassung zu suchen, diese unter geordneten Bedingungen erneut zur Abstimmung zu bringen, regiert man nun per Dekret und sucht die Muslimbruderschaft aus dem politischen Willensbildungsprozess zu drängen. Das könnte sich noch bitter rächen. Denn wenn sich die ägyptische Straße aus Unzufriedenheit mit dem Militärregime auch gegen die derzeitigen Machthaber erheben sollte, werden die Muslimbrüder versuchen, ihre Macht erneut zu sichern: aber diesmal schneller, totaler und vermutlich auch grausamer, als dies 2011 der Fall war.

1  Manfred Hättich (1969), Theorie der politischen Ordnung, Lehrbuch der Politikwissenschaft, 3 Bde., Bd. 2, Mainz, S. 41.