Ausgabe

Er wusste alles! – Ein neuer Blick auf einen Massenmörder

Content

Peter Longerich: Hitler. Biographie.

München: Siedler Verlag 2015.

1296 Seiten, 15 Abbildungen, Euro 41,20

ISBN 978-3-8275-0060-1

 

Der Autor: Peter Longerich, geboren 1955 in Krefeld (NWF), ist ein ausgewiesener Spezialist für die Geschichte des Nationalsozialismus. Er promovierte 1983 an der Universität München mit einer viel beachteten Arbeit über die „Presseabteilung des Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop“ (erschienen 1987 bei Oldenbourg, München). 1984-1989 war er Mitarbeiter am renommierten Institut für Zeitgeschichte in München, lehrte 2002-2003 als Gastprofessor am Fritz-Bauer-Institut zu Frankfurt am Main, forschte 2003-2004 als Senior Scholar in Residence am Centre for Advanced Holocaust Studies des Holocaust Memorial Museum in Washington und 2005-2006 am Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. Danach wirkte er als Professor am Royal Holloway and Bedford New College der Universität London und als Direktor des dortigen Research Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History. Seit 2015 ist er wieder als Zeithistoriker in Deutschland tätig. Seine Forschungsschwerpunkte: Weimarer Republik, Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg, Holocaust, NS-Propaganda, Heinrich Himmler, Joseph Goebbels und Adolf Hitler. 

 

Peter Longerich präsentiert hier ein voluminöses Werk von insgesamt 1296 Buchseiten mit 186 Seiten Anmerkungen, 33 Seiten Bibliografie sowie 18 Seiten Personen- und Ortsregister. 

Hinter dem bescheidenen Buchtitel verbirgt sich nicht nur eine präzise gearbeitete Hitler-Biographie, sondern auch eine beeindruckende, detailreiche Studie zum Nationalsozialismus. 

 

Longerich verspricht einen völlig neuen Zugang zu seinem Protagonisten, an dem Historiker sich bereits mehrfach abgearbeitet haben: Ian Kershaw erklärte das Phänomen Hitler primär durch die gesellschaftlichen Kräfte und das Bedingungsgefüge des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Für Hans Mommsen stand dieser Mann im Schatten seines eigenen Charismas, entfernte sich immer mehr von der Realität, liess die Dinge laufen und zog sich aus dem eigentlichen politischen Prozess weitgehend zurück. Für Joachim Fest war Hitler im Grunde eine „Unperson“, er spiegelt damit die weit verbreitete Neigung der Historiker wider, Hitler wenn möglich nicht auf einer „menschlichen Ebene“ begegnen zu müssen.

 

Dem setzt Longerich ein differenzierteres Hitler-Bild entgegen. Er zeigt einen Diktator, der weit mehr als bisher angenommen, direkten persönlichen Einfluss in fast allen Bereichen von Politik und Gesellschaft nahm – bis hinein ins Tagesgeschäft. Hitler war offenbar ein Kontrollfreak. Ob Aussenpolitik und Kriegführung, Terror und Massenmord, Kirchenpolitik, Kulturfragen oder das Alltagsleben der Deutschen, überall bestimmte Hitler. Seine persönlichen engmaschigen Entscheidungen prägten das Regime in einer bislang durchaus unterschätzten Weise. 

Dem bekannten Ausspruch Hitlers „Ich aber beschloss, Politiker zu werden“ setzt Longerich eine präzise Analyse dessen entgegen, wie Hitler von „äusseren Kräften“ zum Politiker gemacht wurde und wie sein Herrschaftssystem funktionierte. Ausführlich beschreibt Longerich Hitlers Werdegang von einem „Nichts“ bis hin zum Diktator, der die Welt in Angst und Schrecken versetzte. Dabei steht insgesamt weniger die Person Hitlers an sich, als dessen Handlungweise im Vordergrund.

 

In einem „Prolog“ befasst sich Longerich mit Hitlers Familien- und Vorgeschichte, seiner Herkunft aus dem miefigen Milieu einer niederösterreichischen kleinbürgerlichen Familie. Als Heranwachsender war Hitler – zunächst in Linz, später in Wien – ein Einzelgänger, der selten Freunde hatte, und diese wenigen auch nur, wenn sie ihm nützlich waren. Von Frauen hielt er sich gänzlich fern. In späteren Jahren benutzte er junge Mädchen vor allem als dekoratives Beiwerk. 

 

Im Weltkrieg diente Hitler als Freiwilliger in der Bayerischen Armee, wo er als „Meldegänger“ eingesetzt wurde. Auch dort blieb Hitler ein Einzelgänger. Im Schützengraben an der Westfront war ein Hund namens Foxl sein bester Freund. Deutschlands Niederlage 1918 empfand er – wie viele Deutsche – als „Schande“. Damit begann seine Politisierung. Er nahm an Schulungen der Reichswehr teil. Schon bald erkannte man Hitlers herausragendes Rednertalent und griff auf ihn als Propagandaredner zurück. Dieses Talent half ihm, sogar in höchsten Kreisen der Münchener, später auch Berliner Gesellschaft die Menschen für sich einzunehmen. Er war alsbald ein gern gesehener Gast in den „besseren“ Häusern – trotz seiner unmöglichen Kleidung, seines ungepflegten Äusseren, seiner schlechten Manieren – bei Tisch und ganz allgemein. Offenbar konnte er – trotz seiner bekannt ausführlichen Monologe – die Zuhörer „hypnotisieren“. 

Schritt für Schritt verfolgt Longerich Hitlers Weg durch die Parteien und Institutionen: lange Zeit ein „Niemand“, gelang es ihm in die anfangs noch unbedeutende DAP aufgenommen zu werden (aus der 1920 die NSDAP hervorging) und an deren Spitze zu gelangen, zunächst in München, dann in Berlin. Dort erfolgte 1933 sein Aufstieg zum Reichskanzler und schliesslich, nachdem er – mit Ausnahme der NSDAP – Parteien, Gewerkschaften und alle demokratischen Institutionen des Deutschen Reiches ausgeschaltet hatte, zum Diktator, zum allmächtigen „Führer“. Danach griff er nach den Nachbarländern und errichtete alsbald auch dort seine Schreckensherrschaft. 

 

Adolf Hitler tritt bei Longerich nicht als aussergewöhnliches Naturtalent oder geniale Führergestalt in Erscheinung. Die Macht über das Volk erklärt sich bei ihm nicht aus Hitlers Charisma, sondern vor allem aus den „Machtmitteln der Diktatur“. Longerich zeigt, dass Hitler sich nicht der Gefolgschaft der Mehrheit der Deutschen sicher sein konnte. Allerdings war er, nachdem die Diktatur mit seinen Zwangsmechanismen einmal in Gang gesetzt war, auf die Zustimmung der Bevölkerung nicht mehr angewiesen. 

 

Natürlich erfährt man bei Longerich auch von Hitlers Hass gegen Juden und alles Jüdische. In Wien und später in München machte er hin und wieder Geschäfte mit Juden. Er war damals noch kein fanatischer Antisemit. Die Wende dürfte nach dem Ersten Weltkrieg in München eingetreten sein. Ab den 1920er Jahren lernte er antisemitische Hetze und Agitation, betonte in seinen Reden fortwährend „die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen Deutschen und den von den Juden beherrschten Westmächten“. Hitler wurde nicht müde zu wiederholen: „Die Juden müssen weg aus Deutschland!“ (S. 85). 

 

Es scheint als hätte Longerich die These, die Lucy S. Davidovicz in ihrer Untersuchung „The War Against the Jews, 1933-1945“ von 1975 vertritt, übernommen, der zufolge Hitler die Weltherrschaft anstrebte, um alle Juden auszurotten. Zudem bestätigt der Autor wiederholt, dass sämtliche Befehle zur Judenverfolgung und -vernichtung letztlich von Hitler selbst ausgegangen waren, Hermann Göring lediglich sein williger Vollstrecker gewesen sei. Akribisch beschreibt Longerich die einzelnen Schritte des Massenmordes an den Juden Europas. Der Massenmord an den Juden Nordafrikas wird von ihm allerdings nicht erwähnt.

 

In der „Bilanz“ des Buches (S. 997ff.) postuliert Longerich, Hitlers Rassenpolitik sei nicht von der Mehrheit der Deutschen enthusiastisch mitgetragen worden, andererseits erklärt er (S. 850), „die historischen Ursachen für den Holocaust seien vielfältig und liessen sich nicht auf die Person Hitlers verengen.“ 

 

Wie erwähnt, liefert Longerich in seinem Werk eine äusserst materialreiche, ausführliche Analyse der Funktionsweise des Systems der NS-Herrschaft und der Rolle Hitlers darin. Er zeichnet dabei – der nüchternen Quellenanalyse verpflichtet – das Bild eines Diktators jenseits von Tiefenpsychologie und Dämonisierung. Longerichs Hitler-Biografie ist nicht nur solide gearbeitet, sondern auch flüssig geschrieben. Sie sei jedem empfohlen, der sich für die jüngere deutsche Geschichte interessiert und keine Scheu vor dicken Büchern hat. 

 

Miriam Magal s. A.