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Die Vergessenen: Die Child Survivors melden sich

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„Bittere Vergangenheit – Bessere Zukunft?“ des

Child Survivors Deutschland e. V., hrsg. von Philipp

Sonntag. Hentrich & Hentrich. Der Verlag für jüdische

Kultur und Zeitgeschichte

Band 1:

Philipp Sonntag: Wir Überlebende des Nazi-Terrors in Aktion.

Berlin: 2017.

106 Seiten, Euro 14,90

ISBN 978-3-95565-211-1

Band 2:

Liesel Binzer: Ich prägte mein Leben in – wegen – trotz Theresienstadt.

Berlin: 2017.

83 Seiten, Euro 12,90

ISBN 978-3-95565-212-8

 

Jahrzehntelang haben sie geschwiegen. Erst am 13. April 2001 gründeten sie den Verein „Child Survivors Deutschland e.V. – Überlebende Kinder der Shoah“. Philipp Sonntag stellt diesen Verein der Vergessenen vor: seine Mitglieder, seine Ziele, seine Anliegen. Heute, im Jahr 2017, gibt es weltweit in 18 Nationen 55 Vereine von Child Survivors. 

Viele von ihnen erlebten als Kind eine intakte Familie mit Vater und Mutter, mit Grosseltern und allen Verwandten. Dann der plötzliche Bruch: die völlige Zerstörung des Lebens, das Ende aller Sicherheit, eine drastisch eingeschränkte Kindheit: ermordete Eltern, Versteck im Keller, bei Bekannten, bei Fremden. Danach fiel es schwer wieder an das alte Leben anzuknüpfen: Schule und Schulkameraden, eine halbwegs wiederhergestellte Familie oder aber Aufwachsen bei völlig fremden Menschen, auch unter einer ganz anderen Identität, die wahre Identität kam unter Umständen erst Jahre spätere wieder zum Vorschein. Kein Wunder also, dass es Schwierigkeiten in der Schule, mit der Umgebung, in der Gesellschaft gab. 

Um diese Vergangenheit aufzuarbeiten, um zu erfahren, dass man nicht alleine dasteht, das ist eines der Ziele der Child Survivors. 

Philipp Sonntag beschreibt ein Deutschland, wie es nach dem Krieg hätte sein können: ein absolutes NPD-Verbot, endgültig Schluss mit allem, was auch nur im Geringsten mit dem Nationalsozialismus zu tun hat. Stattdessen forderte schon Konrad Adenauer „ein Ende der Nazi-Schnüffelei“! (S. 23). Ja mehr noch: es gab eine starre Verwaltung gegenüber den Antragstellern, Verweigerung durch die Bürokratie, „wohlmeinende Tröster“: „Du warst 1945 noch ein Kind, da hast du also kaum was mitbekommen ... Also, du leidest unter nichts, du bist stark und brauchst keine Hilfe“ (S. 6). 

 

Im zweiten Band dieser Reihe: „Ich prägte mein Leben in – wegen – trotz Theresienstadt“, erzählt Liesel Binzer von ihrem Leben. Auch für sie, die 1936 zu Münster in Westfalen geborene Liesel Michel, ging die Idylle eines friedlichen Familienlebens jäh zu Ende. Im Alter von kaum sechs Jahren musste sie erleben wie die Fenster der Wohnung eingeschlagen wurden, wie die Familie Michel in ein „Judenhaus“ umziehen musste und schliesslich in das KZ Theresienstadt deportiert wurde. Es bedeutete für Liesel die Trennung von Vater und Mutter. Sie kam dort in ein „Kinderheim“, ein für sie traumatisches Erlebnis. In Summe wurden über 15.000 Kinder nach Theresienstadt deportiert, davon überlebten gerade einmal 150 – eine davon war Liesel. Im Kinderheim lernte sie dank der jüdischen Betreuerinnen etwas rechnen, lesen und schreiben, doch war man immer auf dem Sprung: Sobald jemand zischte: „Schnell die Bücher weg, die Nazis kommen!“, mussten die Bücher rasch verschwinden. Liesel erkrankte an Masern und Scharlach und behielt davon eine Schwerhörigkeit. Irgendwann stand Liesels Name auf einer der Todeslisten. Irgendwie gelang es ihrer Mutter, die in der Küche arbeitete, Liesels Namen im letzten Augenblick wieder von der Liste zu kriegen. Endlich das Ende der Nazi-Schreckensherrschaft. Wie durch ein Wunder überlebten Liesel, ihre Mutter und auch ihr Vater, obwohl dieser im Ersten Weltkrieg beide Beine verloren hatte. 

Die Heimkehr war schwierig. Sie zogen in das Elternhaus der Mutter. Die Nazis, die es sich darin bequem gemacht hatten, mussten ausziehen. Die Michels konnten keine Auskunft über den Verbleib ihres Hausinventars bekommen, nachdem sie nach ihrer Einweisung in das Judenhaus enteignet und ihr Besitz 1942 versteigert worden war. Es folgten unschöne Prozesse für die Eltern, wobei sie ihre Tochter vor hässlichen Einzelheiten verschonen konnten. Liesel ging nun wieder zur Schule, sie war eine scheue Schülerin, wozu ihre in Theresienstadt erworbene Schwerhörigkeit nicht unwesentlich beitrug. Ihr heutiges Fazit: „Es gab immer ein gewisses Misstrauen gegenüber älteren Menschen... Nur wer nach 1945 geboren wurde, war in meinen Augen unbelastet“ (S. 22-23), „Es fehlte die Selbstverständlichkeit des Lebens, es galt laufend zu korrigieren und nach zu justieren. Ich war laufend unruhig oder mit Beruf und Alltag allzu beschäftigt“ (S. 22).  

Liesel kam 1948 gleich in die 2. Klasse, danach aufs Gymnasium und machte 1957 ihr Abitur. Sie wurde Betriebsprüferin im Finanzamt Offenbach-Stadt, heiratete und hatte drei Kinder, dabei war sie voll berufstätig: „Ich wollte nie wieder Opfer sein!“ (S. 27) und „Man musste besonders professionell sein, konnte sich keine Verwundbarkeiten leisten“ (S. 28). Nach ihrer Pensionierung begann sie als Zeitzeugin in Schulen von ihrem Leben in Theresienstadt zu erzählen. Sie ist eine gefragte Zeitzeugin, denn sie vermeidet es, den mahnenden Zeigefinger zu heben. Sie möchte den jungen Menschen, vor allem Schülern, neben all dem Leid, das sie, ihre Familien und viele andere Juden erleben mussten, mitteilen: „Ich bin einfach glücklich darüber, dass die Nazis und Hitler nicht gewonnen haben ... Mein Überleben ist ein – kleiner – Sieg über die Nazis“ (S. 35). 

Der Verein Child Survivors Deutschland e.V. plant eine Fortsetzung dieser Reihe, denn von den Child Survivors haben offenbar nur die wenigsten gehört. 

In diesem Zusammenhang darf ich auf meinen eigenen Erlebensbericht hinweisen: „Das Brot der Armut. Die Geschichte eines versteckten jüdischen Kindes“, Lich/Hessen 2010, 328 Seiten.

Miriam Magall s.A