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Wer bin ich? Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Jasminka Domaš (ZAGREB)

Anna Maria Grünfelder

Inhalt

Jasminka Domaš wurde 1948 in Banja Luka (heute Republik Bosnien-Herzegowina) geboren und lebt seit 1951 in Zagreb. Sie studierte Politische Wissenschaften in Zagreb und wurde Rundfunkjournalistin. Seit den Achtzigerjahren tritt sie einerseits mit literarischen Arbeiten hervor, in denen sie die eigene jüdische Abstammung und diesen Teil ihrer Identität thematisiert und bald die Mitgliedschaft im Kroatischen Schriftstellerverband sowie im Kroatien-PEN erlangte, engagiert sich in Menschenrechtsorganisationen und macht sich als bekennende Jüdin für Religionsfreiheit stark, zusammen mit Muslimen, Protestanten und Evangelikalen sowie der Orthodoxie. Die Vereinigungen für Religionsfreiheit mussten in den ersten beiden Jahrzehnten der neu entstandenen Staaten zwangsläufig in Antagonie zu den übermächtigen Katholiken geraten, die Präsident Tudjmans erzkonservative Politik und deren Instrumentalisierung der katholischen Kirche zum Machterhalt unterstützten (wozu die Kirche sich nur allzu bereit fand). An der Evangelisch-Theologischen Hochschule in Osijek schloss Domaš ein Theologiestudium ab. Die theologische Qualifikation befähigte sie zu literarischen Schöpfungen, die jüdisch-religiöse Traditionen und deren TrägerInnen zum Thema haben: Obitelj -Mišpaha (Familie – Mischpoche), Tjedne minijature slobode (Wochenminiaturen zur Freiheit - Ein Meditationsband), Šabat šalom (Gedanken zur Sabatfeier), Biblijske priče - prinos razumijevanju biblijskih značenja (Biblische Geschichten – Ein Beitrag  zum Verständnis der biblischen Bedeutung). Ihre bisher bedeutendste theologische Reflexion widmete sie Edith Stein. Rebeka u nutrini duše (Rebekka im Innersten der Seele) ist die Geschichte einer jungen Frau im Angesicht des bevorstehenden, unausweichlichen, gewaltsamen Todes. Jüdische Meditationen zur Kabbala und christlichen Mystik, zum Holocaust und zu dessen Bevorstehen, wie im „Meditationsroman“ zu Anne Frank: Domaš bewegt sich in ihren Filmen und Rundfunkbeiträgen immer zwischen Meditation und Engagement. Sie wagt sich an christliche Gedankenwelten und bringt sie mit ihrer jüdischen Tradition in Verbindung. Jasminka Domaš ist eine singuläre Erscheinung in Kroatien, als Denkerin wie auch als Aktivistin, als Jüdin und als Suchende, die Karl Rahner als „anonyme Christin“ vorgeschwebt haben könnte. 

Grünfelder: Wann und unter welchen Umständen wurden Sie sich Ihrer jüdischen Herkunft bewusst?
Domaš: Mein erster „Bewusstseinsschub“ hängt mit zwei Menorot aus Olivenholz zusammen, die noch heute existieren, in deren Sockel „Jeruzalem“ eingraviert war. Als Kind wollte ich mit ihnen spielen – ich höre heute noch die Stimme der Mutter: „Nicht anrühren! Die Leuchter  sind heilig!“ In einem Zimmer steht noch heute eine grosse schwarze Truhe mit silbernen Beschlägen, in der eine Thorarolle aus dem 18. Jahrhundert aufbewahrt wird. In ihr liegt auch eine prachtvolle sefardische Tracht aus Samt – ein Gilet in Goldstickerei mit Gürtel und filigran gearbeiteter Schnalle. Wann immer ich diese Tracht herausholte, pflegte jemand in der Familie zu bemerken: „Den Rock haben wir im Krieg gegen Lebensmittel getauscht“. Wir haben ihn aufgegessen, so verstand ich als Kind diese Bemerkung. Einmal, als die Kinder aus unserem Viertel in der nahegelegene Kirche auf eine Leinwand projizierte Bilder von Heiligen und Märtyrern ansahen, erkannte der Priester sehr rasch, dass ich nicht zu seiner Herde gehörte und wies mich, nicht gerade schonend, aus der Kirche. Damals war ich etwa sechs Jahre alt. Mir war klar, dass er mir unrecht getan hatte -  aber er hat mich eben mit erhobenem, knorrigem Zeigefinger dorthin geschickt, wo mein Platz war: in den Schoss des Judentums. Mein Hinauswurf hat mich nicht so verletzt wie es mich traf, dass ich die Bilder nicht sehen durfte. Viele Jahre später begann ich selbst als Drehbuchautorin zu arbeiten und Filme zu drehen. Vielleicht hat mein Unterbewusstsein die Erinnerung an diese Verletzung gespeichert und den Wunsch in mir geweckt, selbst bewegliche Bilder zu schaffen.

Ich erinnere mich auch, dass die Lehrerin in der Volksschule ein Kind meiner Klasse so aufrief: “Lea Hock, was für bescheuerter Name“. Lea war Jüdin. Ich wusste das. Ich habe geschwiegen, wie eine Verschwörerin. Nach der Schule ging ich mit Lea zu ihr nach Hause. Die Wohnung ihrer Eltern war meist abgedunkelt, Leas Mutter hatte das Lager überlebt und litt unter chronischem Kopfschmerz. Damals kannte ich das Wort Holocaust noch nicht, verstand aber, dass sich meine Freundin um die Mutter und um die jüngere Schwester Miriam kümmern musste. In der Klasse teilte ich meine Bank mit Rahela, als hätten wir begriffen, dass wir zusammenhalten mussten. In unserem Wohnhaus wohnte auch Daniel, mit dem ich gerne und oft spielte. Seine Mutter war Jüdin. Auch die Grossmutter wohnte bei ihnen; sie wurde von allen mit Omama angesprochen. Als orthodoxe Jüdin trug sie ihr Haar immer unter einem Kopftuch. In meiner Erinnerung bewohnten lauter sonderbare jüdische Bewohner unser Haus. Unsere direkte Nachbarin, Frau Krisbacher, schickte mich öfters, um ihr Kreuzworträtel zu kaufen. Sie selbst ging nie aus dem Haus, sie löste nur wie besessen Kreuzworträtsel. Ich starrte manchmal auf ihren Arm, auf dem Zahlen standen – die Lagernummer. So hatte unser Haus eine besondere, geheime, innere Geschichte – die Geschichte der Leiden seiner Bewohner und Bewohnerinnen: hier waren nach dem Holocaust Menschen von weiss G‘tt wo gestrandet. 

Grünfelder: Wie sind Sie mit Ihren Erfahrungen als Jüdin umgegangen?
Domaš: Gut. Die zarte Pflanze entwickelte sich prächtig, gemeinsam mit einer anderen –  angeblich jüdischen – Haltung, der Chuzpe („hucp‘“), meinem Trotz, der Widerspenstigkeit: „Wenn Du schon bemerkst, dass ich anders bin, nun, dann bin ich es.“ Trotzdem erlebte ich mein Erwachsenwerden als seltsam quälend – ich hatte lange mit Albträumen zu kämpfen. Ständig träumte ich, fremde Leute stünden an unserer Tür und führten mich irgendwohin ab. Ein stummes Entsetzen begann mich zu beherrschen, die Ohnmacht eines hilflosen kleinen Mädchens, das jemand aus der elterlichen Wohnung entführt. Abends bemühte ich mich, möglichst lange wach zu bleiben, weil in der Dunkelheit alle Dinge seltsame Umrisse annahmen und sich in bedrohliche Gestalten verwandelten. Diese Erfahrung hat zweifellos meine Phantasie beflügelt und in mir eine Welt voll Imaginationen entstehen lassen, die mich mit meinen Ängsten, aber auch mit meiner Ästhetik geprägt hat. 

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Portrait von Jasminka Domaš, mit freundlicher Genehmigung.

Grünfelder: Inwieweit haben die sefardischen und die aschkenasischen Traditionen auf Sie gewirkt? 
Domaš: Ich fand es immer lustig, wie in meiner Famile ein- und dasselbe hebräische Wort unterschiedlich ausgesprochen wurde: von den einen als „a“, von anderen als „o“. Manchmal, besonders während der jüdischen Festtage, wechselte man zu Ladino, dann wieder zu Jiddisch, zum Deutschen, Kroatischen, Bosnischen. Für mich war das, als hätten die Worte Geschmack, Aroma, Duft. Unsere Mahlzeiten verwandelten sich in Fernreisen und führten  uns unter andere Himmel. Ich liebte Rosinen im Reis, kandierte Karotten, alles, was dick macht; gleichzeitig war ich entsetzt über meine dicklichen, rundlichen Onkel und fragte mich mit Schaudern, wann ich selbst so aussehen würde. Der aschkenasische Einfluss auf mich zeigt sich in meiner Freude am Lernen. Lernen bedeutet für mich eine besonders geliebte Form der Unterhaltung, keinesfalls Zwang, ich lese gerne. Ich weiss auch, dass ich manchmal vielleicht übertrieben zurückhaltend bin, aber so bin ich eben und lebe mit all diesen „Mischungen“ in mir und um mich herum; mit Mauern, die ich niederreisse, und mit Mauern, die ich manchmal auch selbst absichtlich zwischen mir und der Umwelt aufrichte. 

Grünfelder: Wann und unter welchen Umständen haben Sie sich zum orthodoxen Judentum bekannt? Wann haben Sie in sich die Neigung zur Mystik entdeckt? 
Domaš: Ich mag keine Halbherzigkeiten: ich glaube hundertprozentig, wie wir im Sh‘ma Yisrael beten, „mit meiner ganzen Seele“, rückhaltlos. Im Gymnasium, mit beinahe sechzehn Jahren, habe ich meine visionären Neigungen entdeckt. Ich merkte, dass ich in meinen Träumen detailgetreu vorhersah, wie die Dinge bald darauf, manchmal schon am nächsten Tag, ablaufen sollten; ich begann meine Träume zu interpretieren. Nach der Kabbala findet sich in den Träumen bis zu sechzig Prozent Prophetisches. Schon als kleines Mädchen hatte ich das Gefühl, in mir wohne eine uralte Seele, die mich von Zeit zu Zeit auf die Probe stellt, indem sie mich zu einer kosmischen Stille und Einsamkeit zwingt, um mich zu prüfen, wie ich diese ausfüllen würde. Ich fühlte mich meiner Umgebung gleichzeitig zugehörig und doch nicht dazu gehörend.

Grünfelder: Hat Ihre Beschäftigung mit Leben und Werk von Edith Stein Ihre Neigung zur Mystik vertieft, oder war es die Mystik, die Sie zu Edith Stein führte? 
Domaš: Edith Steins Leben bedeutete eine Herausforderung für mich: Nur wenige Juden konvertieren zu einer anderen Religion. Nur zur Zeit des Holocaust glaubten manche, der Übertritt zur römisch-katholischen Kirche werde ihnen das Leben retten. Einige hatten damit  Glück, viele andere jedoch wurden trotzdem ermordet. Anfangs war ich, wie viele Juden, der Meinung, Edith Stein habe ihre Familie, ihre Herkunft verraten. Ich empfand ihre Entscheidung als zumindest ungewöhnlich. Von ihr und ihrem Leben hat man zu wenig gewusst. In den Texten über sie entdeckte ich viel Oberflächliches. Mich haben vor allem jene Darstellungen gestört, in denen von Edith Steins Leben vor der Konversion keine Rede war – als wäre sie davor nicht interessant genug gewesen, als habe Edith Stein nicht auch ihr Leben geführt - ein Leben als Jüdin, in einer orthodox-jüdischen Familie, die ihren Glauben auch praktizierte. Auch die frömmelnde Interpretation ihres Todes und des Todes ihrer Schwester stören mich, weil sie die realen Umstände beschönigen und uns vergessen lassen, was im Lager tatsächlich geschehen ist. 

Im Karmel in Rom, wo ich während eines Frühlings einen Dokumentarfilm über den Burgenland-Kroaten Filip Vezdin drehte, den Karmelitermönch, Orientalisten, Pionier der Indologie und der vergleichenden Linguistik, begann ich auch die Arbeit an meinem Roman Die Auserwählte – Das Leben von Edith Stein. Inzwischen sind sogar Übersetzungen des Romans ins Englische und ins Deutsche druckfertig und ich bin auf der Suche nach Verlegern. Nach der Veröffentlichung des Romans in Kroatien bekam ich E-Mails von mir völlig unbekannten Personen; dieser Roman hat mir gezeigt, dass es in Kroatien viel mehr Verehrer von Edith Stein gibt, als ich erwartet hatte. 
Das Leben von Edith Stein hat in mir den Sinn für Mystik nicht vertiefen müssen: Edith Stein war selbst eine begabte Dichterin, auch ich schreibe geistliche Poesie. Dank dieser schaffe ich es, Oben und Unten in Balance zu halten. Mir als Frau imponieren Ediths vielseitige Talente, ihre Intelligenz, Bildung, ihre geistige Stärke und ihre Fähigkeit, in den tragischesten Momenten ihres Lebens ihren Glauben an eine zukünftige bessere Menschheit aufrecht zu erhalten. 

Grünfelder: Aus welchen Gründen haben Sie sich zum Studium der Evangelischen und Evangelikalen Theologie entschieden? Gab es Persönlichkeiten, die Sie dazu hinführten?
Domaš: Der über die Grenzen Kroatiens hinaus bekannte evangelisch-evangelikale Theologe und Dekan der Evangelisch-Theologischen Lehranstalt in Osijek, Peter Kuzmič, übt einen mächtigen, positiven Einfluss auf Gläubige aller Konfessionen in Kroatien aus. Er hat auch mich geprägt, mit seinem weiten Horizont, seiner Offenheit, Toleranz und Grosszügigkeit. Er lehrt stets: Respektiere Dich und Deine Meinung, aber respektiere auch die anderen und das Dir Fremde.

Grünfelder: Wie sehen Sie als in christlicher Theologie gebildete Jüdin das dramatische und konfliktreiche Auseinanderdriften von Ecclesia und Synagoga?
Domaš: Die Lehren, die mir Peter Kuzmič vermittelt hat, bestimmen meine Haltung zu dieser Geschichte. Während des letzten Krieges in Kroatien [1991-1995, Anm.] haben wir, eine Gruppe von etwa zehn Personen – Katholiken, Protestanten, Moslems, Juden und Orthodoxe – gegen den Krieg „angeschrieben“ und die Zeitschrift Herausforderung Friedensvermittlung (Mirotvorni izazov) gegründet. Heute kann ich stolz behaupten, dass wir Licht in die damals tiefe Finsternis gebracht und während des Blutvergiessens den Menschen Mut gemacht haben. Wir haben Überzeugungsarbeit geleistet, dass Waffen die Probleme nicht lösen, und dass es irgendwann doch einmal zu Dialog und Versöhnung kommen muss. Ich habe den Krieg auch am eigenen Leib erfahren, denn ich habe die abgebrannten Dörfer und Städte selbst bereist. Überall wurde mir schmerzlich bewusst, welchen Schock der Anblick der in Schutt und Asche liegenden Häuser auslöst, wie schrecklich vor allem die Erkenntnis ist, dass auch Verteidiger Kriegsverbrechen begehen. Nach der Heimkehr von solchen Touren benötigte ich Stunden, um die furchtbaren Bilder und die Beispiele von Unmenschlichkeit zu verarbeiten. Ein Krieg ist niemals gut. Gute Kriege gibt es nicht. 

Grünfelder: Erleben Sie selbst Angriffe und Vorurteile aus katholischen oder lutherisch-protestantischen Kreisen?
Domaš: Solche gibt es; aber das sind deren eigene Probleme, die ich nicht übernehmen will. Ich wappne mich dagegen und verweigere mich ihren Provokationen. 

Grünfelder: Wie denken Sie über die von Christen angestifteten Judenverfolgungen und die Entwicklung der christlichen Judenfeindschaft? 
Domaš: Widerspricht nicht dies alles dem ursprünglichen Geist des Christentums? Ein politisch instrumentalisierter Glaube hat niemals etwas Gutes hervorgebracht. Die Judenfeindschaft hat beträchtlich dazu beigetragen, dass es im Zweiten Weltkrieg zu solchen grauenhaften Verirrungen kommen konnte, dass die Menschlichkeit verloren ging und Menschen verfolgt wurden, weil sie angeblich einer anderen Rasse angehörten und anders beteten. Wir lernen daraus, dass die Judenfeindschaft die Krankheit nicht der Juden ist, die Juden aber daran sterben. Der Talmud lehrt, dass das Böse anfangs ein dünner Faden ist, wie der eines Spinnennetzes, der aber so schwer wie ein Schiffstau wird, das man nicht zerreissen kann. Die Judenfeindschaft hat jahrtausendealte Wurzeln, aber sie entbehrt jeglicher Logik. Als Journalistin konnte ich hierfür reichlich Erfahrung sammeln. An einem Tag wurde ich zur Kommentatorin von Radio Tel Aviv ernannt, am Tag darauf war ich dann schon die Journalistin, deren Leitartikel zur Lage in Israel die Hauptnachrichten im Radio begann. In manchen Kreisen pflegt man noch immer die Mode, Menschen in Rassen einzuteilen und zu sortieren. 

Grünfelder: Stossen Sie noch immer auf Residuen der christlichen Judenfeindschaft?
Domaš: Ja – und zwar auf eine Judenfeindschaft, die mangelnde Bildung offenbart. Dieses Manko wird durch Hassparolen und unverschämte Angriffe kompensiert. Die Wortführer verstecken sich, besonders im Internet, flüchten in die Anonymität oder legen sich Phantasienamen zu. Ein Verlag suchte Sponsoren zur Herausgabe einer meiner Monographien, an der ich zehn Jahre lang gearbeitet hatte, und berichtete mir danach: „Ich komme in eine Institution und erläutere, warum Ihr Werk wichtig ist und es verdient, veröffentlicht zu werden. Alle nicken und stimmen mir zu. Aber sobald ich als Mitherausgeberin die jüdische Gemeinde nenne, machen sie einen Rückzieher.“ Ein Mitglied einer ethnischen oder konfessionellen Minderheit wird hier aber auch kaum jemals einen Staatspreis für Literatur erhalten, Prosa oder Poesie, einerlei. Das ist die Realität, und mit ihr müssen wir leben. 

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Jasminka Domaš, Foto mit freundlicher Genehmigung.
 

Grünfelder: Wie wurde Ihr Roman Rebeka – im Inneren der Seele in Kroatien aufgenommen?
Domaš: Rebeka ist ein begabtes jüdische Mädchen, dessen musikalische Karriere mit der Gründung des unabhängigen Staates Kroatien ein jähes Ende nimmt. Die Presse berichtete vom Erscheinen dieses Romans, aber er wurde nicht in die Liste jener Titel aufgenommen, die sich mit der Vernichtung des Judentums in Kroatien beschäftigen und zur Lektüre empfohlen werden. Ich wurde zu einem internationalen Literatursymposium in Lecce (Italien) eingeladen und erfuhr dort, dass die Schüler der italienischen Gymnasien zu Yom haShoah, dem Gedenken an die Verfolgung und das Heldentum der Juden im Holocaust auch Passagen aus Rebeka lesen. Damals hatte ich schon den neuen Roman Kadišl i nebeski putnici (Khadis und die himmlischen Reisenden) fertiggestellt. Er sollte in Varaždin als Drama aufgeführt werden, da sich die Presse begeistert zeigte.

Grünfelder: Mit Ihrer Anthologie von Gedichten unter dem Titel Žena Sufi (Frau Sufi) haben Sie Ihre eigene religiöse Tradition hinter sich gelassen? 
Domaš: Nein, das sehe ich nicht so. Sufismus spiegelt eine besondere Spiritualität. In Indien und Ägypten, aber auch in Bosnien und Herzegowina gab es vor mehreren Jahrhunderten jüdisch-sufistische Dichter – diese Tatsache ist kaum bekannt. Zudem ist der Sufismus dem Chassidismus ähnlich. Nicholas de Lange, Verfasser eines Werkes über das Judentum, glaubt an Einflüsse des Sufismus auf die jüdische Mystik, wofür er das Werk von Ibn Pakuda, Dužnosti srca (Pflichten des Herzens), ein den Chassiden gewidmeten Buch zitiert, das auch unter den Kabbalisten zirkulierte. Nach de Lange erkenne man den Einfluss des Sufismus auf das Judentum besonders in Ägypten, wo Sohn und Enkel von Maimonides sufitische Werke verfassten und auch Nachfolger fanden. Die sufitische Poesie wurde mit arabischen, persischen und türkischen Lettern geschrieben. Eine Kuriosität: zur Zeit der osmanischen Herrschaft über Bosnien schrieben sufitische Dichter in Bosnien in bosnischer Sprache. Dies trägt die spanische Bezeichnung Alhamiado-Poesie. Die Judaistin und Orientalistin Jasna Šamić verwies darauf, dass bosnische Juden Alhamiado- (Sufi-) Poesie geschrieben haben: aber nicht in arabischen, sondern hebräischen Schriftzeichen, und dazu noch in bosnischer Sprache.1

Grünfelder: Wie erfahren Sie den jüdisch- muslimischen Dialog?
Domaš: Ich bin in der glücklichen Lage, Freunde und Freundinnen unter Menschen verschiedener Konfessionen zu haben, auch unter Muslimen. Meine muslimische Freundin informiert mich manchmal über wichtige Neuerscheinungen. Von ihr erfuhr ich auch von Feruddin Muhammed Atars Buch Govor  ptica (Die Sprache der Vögel), eines sufitischen Werkes aus dem 12. Jahrhundert, von der Poesie des iranischen Dichters Mevludin Rumi Die Liebe sagt mir aus dem 13. Jahrhundert, sowie vom Roman des bosnischen Schriftstellers Rešad Kadić (1912-1988)  Ilhamijin put u smrt (Ilhamijas Weg in den Tod): Ilhamija, ein Derwisch in Travnik, tadelt die osmanischen Machthaber und muss dafür mit dem Leben bezahlen. Der Legende zufolge bleibt er, zum Entsetzen der Augenzeugen, auch als Toter aufrecht stehen. Auf dem muslimischen Friedhof der bosnischen Stadt Travnik steht noch heute sein Denkmal. Illhamija gilt inzwischen wieder als Vorbild für aufrechte Haltung in einer Zeit, in der alle ethischen Normen gebrochen werden. Die Sprache dieses Werkes atmet den Geist einer fernen Vergangenheit, denn das dort benützte altmodische Bosnisch ist dem heutigen Leser kaum mehr verständlich. 
Ein Mensch, der sich in seiner Religion sicher fühlt, hat keine Angst vor der Begegnung mit Andersgläubigen. Die Immigranten, die in Westeuropa Juden und jüdische Einrichtungen attackieren, wollen Israel treffen. Ihre Israelfeindlichkeit beruht auch auf der traditionellen Judenfeindschaft. Einmal, vor vielen Jahren, sagte mir in Wien Simon Wiesenthal: „Merk Dir, nur die Technik hat sich geändert; die menschliche Natur ist die gleiche geblieben.“ Daran muss ich immer denken, wenn ich auf Fremdenfeindlichkeit, Antijudaismus, Islamophobie und andere Extremismen stosse.  

Grünfelder: Begegnen Sie Vorurteilen, und wie gehen Sie damit um?
Domaš: Dazu kann ich nur sagen: solange ich nicht physisch angegriffen werde, bleibe ich dabei, dass Hass nicht mein, sondern das Problem des Hassenden ist. Mein Engagement in diversen NGOs beruht auf meiner Überzeugung, dass es heute nicht reicht, einfach nur gut zu sein. Ich war mehrfach Präsidentin der Vereinigung für Religionsfreiheit in der Republik Kroatien und wurde dafür auch von zwei Präsidenten – Stipe Mesić und Ivo Josipović – ausgezeichnet. In den schweren Jahren der unmittelbaren Nachkriegszeit war ich Mitglied des kroatischen Helsinki-Komitees für Menschenrechte. Ich habe aus dieser Tätigkeit viel gelernt und mir vor allem den Ausspruch des bekannten Intellektuellen und politischen Analytikers Žarko Puhovski, der dort auch Mitglied war, zu eigen gemacht: „Wir sind nicht dazu da, dass uns die Politiker lieben“.

Grünfelder: Sie haben eine Trilogie mit Zeitzeugenberichten und Jahrhunderte zurückreichende Chroniken jüdischer Familien in Kroatien veröffentlicht. 
Domaš: Menschen sterben, ihre Hinterlassenschaft endet nicht selten im Müll, darunter auch viele wertvolle Dokumente. In die Trilogie Obitelj-mišpaha (Familie – Mischpoche), Glasovi, sjećanja, život (Stimmen, Erinnerungen, Leben) und Ako tebe zaboravim (Wenn ich Dich vergesse) habe ich zahlreiche Fotos aufgenommen, habe die Zeitzeugen zu Wort kommen lassen und Stammbäume abgebildet. Die jüdische Gemeinschaft in Kroatien ist klein, verletzlich, vielleicht wird sie in Zukunft gezwungen sein, sich zu assimilieren. Dann werden diese Bücher die Stimmen, Erinnerungen, Leben ihrer einstigen Mitglieder überliefern. Daher war es wichtig, sie aufzuzeichnen und so vor dem Vergessen zu bewahren. Manchmal musste ich meine Gesprächspartner erst von der Wichtigkeit überzeugen, alles zu berichten, auch wenn ihre Erlebnisse schlimm und schmerzlich gewesen sein mochten. Für diese Trilogie habe ich von Yad Vashem, dem Museum des Holocaust in Jerusalem und vom Museum des Warschauer Aufstandes mehrfach Anerkennung erhalten. In Kroatien wurde das Resultat zehnjähriger Arbeit, diese Trilogie, offiziell nie gewürdigt. Aber ich freue mich, wenn ich von Historikern höre, dass  sie meine Monographien gerne für ihre Lehrtätigkeit verwenden, um den Studenten erlebte Geschichte nahezubringen. Von 1995 bis 1998 nahm ich für Steven Spielbergs amerikanische Stiftung Visual History –Testimonies of the Holocaust 253 Interviews mit ZeitzeugInnen aus Kroatien auf. Dabei lernte ich viel von den Interviewpartnern, die als Kinder jüdischer Familien erst im Verlauf ihres Erwachsenwerdens erfuhren, dass ihre Eltern in einem Lager gewesen waren. Solche Kinder waren gezwungen, schnell erwachsen zu werden und, manchmal, die Rolle der vermissten, ums Leben gekommenen, nach Kriegsende verschollen gebliebenen Mutter oder jene des Vaters zu übernehmen. 

Grünfelder: Sie haben sich nicht zur Alijah, zur Auswanderung nach Israel entschlossen?
Domaš: Nein, denn die Diaspora-Juden glauben, dass „mein Jerusalem dort ist, wo mein Heim ist“. 
Grünfelder: Würden Sie als praktizierende Gläubige und anerkannte „Wahrheitssuchende“ (in gleichem Sinne wie Edith Stein) sich mit dem katholischen Theologen Karl Rahner als „anonyme Christin“ apostrophieren lassen, oder was würden Sie Rahner entgegnen?
Domaš: Als nicht-anonyme Jüdin sehe ich keinen Grund, mich als „anonyme Christin“ zu betrachten. Im Falle von Edith Stein lagen die Verhältnisse anders. Sie hat in den entscheidenden Jahren ihrer Entwicklung jüdisch-philosophisches und theologisches Erbe nicht erfahren. Ob dies ihre Entscheidung, Karmeliterin zu werden, beeinflusst hat, wissen wir nicht. Wir müssen akzeptieren, dass G‘tt sich die Menschen wählt, die er für eine bestimmte Mission benötigt, ob uns dieser Gedanke gefällt oder nicht. Vielleicht waren es gerade ihre Gefasstheit und die Kraft ihrer Persönlichkeit, die in Auschwitz benötigt wurden.

Als Papst Johannes Paul II. sie heiligsprach, erhob sich aus jüdischen Kreisen ein Sturm der Empörung: Warum gerade Edith Stein unter sechs Millionen jüdischer Opfer, die das gleiche oder ein ähnliches Schicksal wie sie erlitten hatten? Die katholische Kirche sprach sie als „Märtyrin des Glaubens“ heilig. Die Juden können dieser Aussage entgegenhalten, dass doch auch viele von ihnen unmittelbar vor ihrer Ermordung oder im Moment ihres Todes das Sh‘ma Yisrael auf den Lippen hatten. Viele sehen in Edith Stein das lebende Zeichen der Gemeinschaft von Juden und Christen. Ich sehe, dass Menschen bestimmte Persönlichkeiten gerne in eine Schublade einordnen oder ihnen Etiketten umhängen und glauben, damit alles verstanden zu haben. Edith Stein ist eine Ikone, aber meiner Meinung nach eine Ikone brillanten philosophischen Denkens, als Dichterin und Literatin ihrer Zeit, mit ausgeprägter Individualität, hoher Bildung und mutig bei der Wahl ihres Glaubens. Dies ist es, was ich ihr mit meinem Roman schenken kann: Sie selbst zum Sprechen zu bringen und sie zu hören, wie sie G‘tt und sich selbst die Frage beantwortet: Wer bin ich?

Anmerkung
1 Jasna Šamić: Mistika i mistika, Sarajevo: Buybook 2014 (Mystik und Mystiker)

Werke von Jasminka Domaš:
Jewish Heritage in Zagreb And Croatia, 1993
Obitelj-mišpaha; Glasovi, sjećanja, život;  Ako tebe zaboravim; Trilogie, 1996 (Familie – Mischpacha; Stimmen, Erinnerungen, Leben; Wenn ich Dich vergesse. Dt. Übers.: Die Familie – Mischpacha, 2003)
Tjedne minijature slobode, 1997 (Wochenminiaturen zur Freiheit. Ein Meditationsband)
Šabat šalom, 1999 (Gedanken zur Sabatfeier)
Biblijske priče - prinos razumijevanju biblijskih značenja, 2000 (Biblische Geschichten - ein Beitrag zum Verständnis der biblischen Bedeutung)
Rebeka u nutrini duše“, 2001 (dt. Rebekka im Inneren der Seele, Klagenfurt-Wien: Kitab Verlag)
Židovska meditacija - istraživanje mističnih staza judaizma, 2003
Knjiga o ljubavi ili kako sam srela Anu Frank, 2004
Kabalističke poruke, 2006
72 imena Boga, 2008
Nebo na zemlji, 2010 
I BOG moli - prinos istraživanju usmene židovske predaje, 2013
Žena sufi, 2014 (Frau Sufi)
Dan po dan - židovska duhovnost, 2014
Glasovi, sjećanja, život - prilog istraživanju povijesti židovskih obitelji, 2015
Duša je nebo, 2016
Izabrana, život Edith Stein, 2017 (Die Auserwählte. Das Leben von Edith Stein)
Ako tebe zaboravim, 2018 
Kadišl i nebeski putnici, 2019 (Khadis und die himmlischen Reisenden)