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Ungarn in der völkischen Sackgasse

Karl PFEIFER

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Am 11. und 25. April 2010 fanden die Wahlen zum ungarischen  Parlament statt, die mit einem eindeutigen Sieg der „national-konservativen" Fidesz und dem Einzug der antisemitischen Jobbik ins Parlament endeten.

Diesen Wahlausgang haben die Ungarn erwartet, es ist alles so gekommen, wie es verschiedene Publizisten während des Wahlkampfs vorausgesagt hatten. Im Jahr 2010 werden in Ungarn nicht nur jüdische Friedhöfe geschändet, sondern auch Gedenktafeln, die an die jüdischen Opfer des Holocaust erinnern. Juden, die heuer nicht weit vom Tempel in der Budapester Dohánystrasse in der Wohnung eines Rabbiners Seder feierten, wurden durch Steinwürfe gestört und Polizisten gaben Juden den "guten" Rat, in der Stadt keine Kippa zu tragen.
Es herrscht wieder einmal Angst in Ungarn: Der Direktor einer Fachschule im Budapester Bezirk Zugló bekam antisemitische Drohbriefe, weil er einen seiner Schüler auforderte, in der Schule keine nationalistischen Symbole zu verwenden. Auf einer neonazistischen Website steht über diesen Direktor, "es sei allgemein bekannt, dass er Jude ist und noch stolz darauf". Ausserdem veröffentlicht sie sein Foto, seine Telefonnummer und seine e-mail Adresse. Damit nicht genug, wird dort auch gedroht:

"Wenn jemand seine Wohnadresse wüsste und uns dies mitteilen würde, dann könnte er von ein paar Menschen besucht werden, die ihm erklären könnten, welche Konsequenzen es haben wird, wenn er so weitermacht".

 
Am 18. Januar 2010 schrieb Erzsébet Scipiades in der Budapester Tageszeitung Népszava unter dem Titel "Ungarn 2010: Sind die Lehrer machtlos?" über eine Jugendvorstellung des Kolibri-Theaters, die ein zeitgeschichtliches Thema behandelt. Eine anonym bleiben wollende Lehrerin berichtete nach der Vorstellung:

"In unserer Schule bereitet man eine Liste jüdischer Schüler vor und die Jugendlichen sammeln Unterschriften, damit die jüdischen Kinder die Schule verlassen. Oder sie sagen einem Lehrer, von dem ich nicht wusste, dass er Jude ist, was sucht der hier, er soll nach Israel gehen".

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Am Titelblatt der Jobbik Wochenzeitung „Barikád" prangt das Bild der Statue des Heiligen Gellert, der anstatt des Kreuzes eine Menora in der Hand hält. Der Text: „Das erwachende Budapest. Wollt ihr das". Mit freundlicher Genehmigung K. Pfeifer.

In einem Land, in dem die Justiz noch die wildeste Hetze als „Meinungsfreiheit" gelten lässt, kann all das nicht überraschen. Eher hat es überrascht, dass das ungarische Parlament kurz vor seiner Auflösung ein Gesetz erlassen hat, um die Leugnung des Holocaust zu bestrafen. Dabei enthielt sich Fidesz der Stimme, Jobbik hingegen lehnte das Gesetz mit dem bekannten neonazistischen Argument ab, ein historisches Ereignis könne nicht "zum Dogma erhoben werden".
Die junge Generation in Ungarn weiss - mit wenigen Ausnahmen - nur wenig, beziehungsweise gar nichts über die Tragödie des ungarischen Holocaust. Denn die ungarische Gesellschaft nimmt meist nur Zerrbilder zur Kenntnis, und in den Schulen gibt es viele Geschichtelehrer, die mit Jobbik sympathisieren. Von 176 Jobbik - Kandidaten fürs Parlament waren 15 Studenten oder Lehrer der Geschichte.
Nachdem Jobbik bei den Wahlen zum Europa-Parlament im Juni 2009  fast 15 Prozent der Stimmen gewonnen hatte, kam es zu einer Annäherung zwischen Fidesz und Jobbik. Schliesslich ging es darum, den möglichen Koalitionspartner Jobbik zu legitimieren.
Der Fidesz nahe stehende  Journalist Zsolt Bayer übernahm die Rolle, zwischen den beiden Parteien Verbindungen herzustellen und veröffentlichte krude antisemitische Artikel in der rechtskonservativen Tageszeitung Magyar Hirlap. Bayer, dessen Stil sich durch vulgäres Schimpfen auszeichnet, hatte seine Karriere als linksliberaler Journalist begonnen und wanderte von Zeitung zu Zeitung, bis er bei der Budapester Tageszeitung Magyar Hirlap - die gelegentlich antisemitische Texte bringt - landete.
Jobbik aber konnte mit antisemitischer Propaganda die fidesznahen Medien übertrumpfen. Ein Beispiel von vielen: Die Jobbik-Zeitschrift Barikád titelte mit einem Bild der Budapester Statue des katholischen Heiligen Gellért und ersetzte das Kreuz durch eine Menora, um die Budapester zu fragen, ob sie das wünschten.

Doch während der Wahlkampagne 2010 musste Fidesz befürchten, ein Teil seiner Wähler würde zu Jobbik abwandern. Politiker und Journalisten, die dem Fidesz nahe stehen, wandten sich deswegen immer mehr gegen Jobbik, manchmal auch mit Angriffen unter der Gürtellinie. In dieser Auseinandersetzung gab Zsolt Bayer zu, Fidesz fördere die Karrieren des Anführers der Jobbik, Gábor Vona, sowie von Krisztina Morvai, der Vertreterin von Jobbik im Europa-Parlament, tatkräftig. Krisztina Morvai wurde auch daran erinnert, dass ihr Fidesz und insbesondere der Vorsitzende der Menschenrechtskommission im ungarischen Parlament, Pfarrer Zoltán Balog, dabei halfen, eine Organisation zur Verteidigung von „patriotischen" Gewalttätern zu gründen. Morvai ist Lehrbeauftragte an der Rechtsfakultät der Universität Budapest, und ihr Wahlspruch - den sie bei jeder Gelegenheit von sich gibt -  lautet: „Ungarn darf nicht Palästina werden." Sie zeigt sich gerne mit Palästinensertuch und stellt immer wieder die Menschen „unserer Rasse [oder Art]" den Menschen „ihrer Rasse [oder Art]" gegenüber. Auch scheute sie sich nicht, einem Juden, der sie kritisierte, eine nicht druckreife Antwort zu geben.
Nachdem Israels Präsident Shimon Peres 2007 bei einer Rede vor der Handelskammer in Tel Aviv eine launige Bemerkung über Investitionen in Ungarn machte, warb nun Jobbik mit Plakaten, auf denen die Pfeilkreuzlerfahne, ein Davidstern und der Kopf von Peres zu sehen sind. Der Text dazu lautet: "Du wirst nicht unsere Heimat besetzen..."
Die paranoide Zwangsvorstellung, Israel wolle Ungarn erobern, sowie der Schutz der Mehrheit vor der gierigen „antimagyarischen" Minderheit sind Bestandteil einer antisemitischen Agitation, die in Ungarn auch hinter „christlicher" Maske betrieben wird. Besorgniserregend ist, dass mit dieser aggressiven antisemitischen Stimmungsmache Jobbik schon während des ersten Wahldurchgangs fast 17 Prozent der Stimmen erhielt.
Am 18. April nahmen ungefähr 20.000 Menschen am „Marsch des Lebens" in Budapest teil.

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Am 18. April 2010 wurde mit dem Marsch des Lebens, an dem heuer über 20.000 Menschen teilnahmen, der Opfer des Holocaust gedacht. Foto: P. Morvay. Mit freundlicher Genehmigung K. Pfeifer.

Heuer fand diese Gedenkveranstaltung für die Opfer des Holocaust zum 18. Mal statt, und noch nie zuvor waren soviel Teilnehmer gekommen. Bei den links-liberalen antifaschistischen Demonstrationen der letzten Jahre waren nie mehr als 500 Menschen zusammengekommen. Diese kraftvolle Demonstration, an der nicht nur links-liberale Politiker, sondern auch solche des Fidesz teilnahmen, zeigt, dass es in der ungarischen Gesellschaft doch Kräfte gibt, die sich gegen den Vormarsch von Jobbik wenden.
1979 gründete Pastor Sándor Németh in Budapest die kleine christliche Pfingstgemeinde Versammlung der Gläubigen (Hit Gyülekezete). Grund dafür war das fast völlige Scheitern des ungarischen Christentums während der Zwischenkriegszeit und insbesondere 1944, nach der deutschen Besetzung Ungarns, als binnen sechs Wochen mehr als eine halbe Million jüdischer Ungarn mit tatkräftiger Hilfe der Administration unter Reichsverweser Horthy nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Das Kádárregime versuchte diese Gemeinde zu zerstören. Im Laufe der Jahre entwickelte sich diese jedoch zur viertgrössten Glaubensgemeinschaft in Ungarn und stellt sich immer wieder auf die Seite der von Antisemiten angegriffenen ungarischen Juden.

Am 18. April hielt Pastor Sándor Németh bei einer Veranstaltung eine bemerkenswerte Rede, die zeigt, dass es Christen in Ungarn gibt, die nicht mit zwei Zungen sprechen, die sich nicht damit begnügen, bei solchen Anlässen Gemeinplätze zu artikulieren, um dann in ihren Kirchen trotzdem explizite und öfter noch implizite Judenhetze zu dulden. Er betonte, es gäbe einen Punkt, an dem man konfrontieren müsse:

„Man muss es aussprechen, dass es heute nicht mehr genügt, die nazistischen, pfeilkreuzlerischen Schandtaten und Mörder anzuprangern, dass es nicht genügt, nur an die Opfer zu erinnern. Die Jobbik[partei] hat mit offener antisemitischer und gegen Roma gerichteter Rhetorik fast 17 Prozent der Wählerstimmen erhalten und zieht in das Parlament ein, dessen Sitzungsräume bereits vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Einbringen von rassistischen, judenfeindlichen Gesetzen beschmutzt wurden. Unsere Erinnerung wird nur dann authentisch, wenn wir auch an Werktagen den Kampf aufnehmen. Wenn wir es in unserer nächsten und weiteren Umgebung eindeutig artikulieren: Wir dulden die Hetze der aggressiven Nationalisten nicht, die dem Beispiel der Nazis folgen und Herz und Geist unserer Nation vergiften."

Nun hängt vieles davon ab ob Fidesz, der beim zweiten Wahlgang mit 263 Abgeordneten eine 2/3-Mehrheit errungen hat, die Aufforderung von Pastor Németh berücksichtigt und in ihren Reihen keinen Antisemitismus und keinen Antiziganismus dulden und auch allen diesbezüglichen Initiativen von Jobbik, die als dritte Kraft mit 47 Abgeordneten ins Parlament einzieht, entgegentreten wird, oder ob er mit nationalistischer Agitation und gelegentlichen expliziten oder impliziten antisemitischen Äusserungen weitermacht.  Es ist zu befürchten, dass Fidesz eine Schaukelpolitik betreiben, dem Ausland gegenüber auf seine jüdischen Abgeordneten und auf Gesten des Wohlwollens gegenüber der jüdischen Gemeinschaft hinweisen, im Inland aber weiterhin "Ausrutscher" tolerieren wird, um auch antisemitische Unterstützer bei der Stange zu halten.


Jobbik bereits hat angekündigt, ihre Abgeordneten würden im Parlament in der Uniform der gerichtlich verbotenen Ungarischen Garde auftreten. Für Fidesz wird es wohl ein Lakmustest sein, ob er dies toleriert. Der Weg Ungarns aus der völkischen Sackgasse wird schwierig werden.