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Jüdische Gemeinden im alpinen Grenzgebiet

Gerhard SALINGER

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Ein Artikel gleichen Inhalts ist bereits 2005 in englischer Sprache erschienen, In: In Touch, The Newsletter of the American Friends of the Jewish Museum Hohenems, Jg. 6, Heft 2 (Juli 2005), S. 6 bis 9, unter dem Titel: Hohenems - Meran - St. Gallen bzw. Jewish Settlements South of Hohenems, und unter http://www.jm-hohenems.at/mat/602_AFJHM_Newsletter_6_2.pdf online abrufbar. Wir danken dem freundlichen Hinweis von Susan Shimer, Herausgeberin von In Touch, die uns darauf aufmerksam gemacht hat, sowie dem Autor für die Überlassung des deutschen Manuskripts.

Entwicklungsstränge: Von Hohenems über Meran nach St. Gallen

Die beste Quelle für das Studium der Juden in Hohenems ist Aron Tänzers Die Geschichte der Juden in Hohenems, ursprünglich im Jahre 1905 veröffentlicht. Dr. Tänzer amtierte zwischen 1896 und 1905 als Rabbiner in Hohenems.

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Hohenems selbst geht bis auf das Jahr 1617 zurück. Bereits einige Jahre vorher hatte der damalige Landherr, Reichsgraf Kasper von Hohenems, eine Einladung an jüdische Familien ausgesprochen, sich in Hohenems niederzulassen, um die wirtschaftliche Lage des kleinen Marktfleckens zu verbessern. Er liess Häuser für die neuen jüdischen Familien errichten, erlaubte den Bau einer jüdischen Schule und stellte Land für die Anlage eines jüdischen Friedhofes zur Verfügung.

Jahre später waren einige der jüdischen Familien so gut etabliert, dass sie sich elegante Wohnhäuser oder Mansarden bauen konnten. Bis nach 1850 ist ein ständiger Zuwachs der jüdischen Bevölkerung zu beobachten. Die jüdischen Einwohnerzahlen waren 274 im Jahre 1792, 493 in 1820 und zwischen 500 und 541 während der Jahre 1830 bis 1849. Als Juden später die Erlaubnis erhielten, sich anderswo anzusiedeln, sank die Zahl der jüdischen Familien, viele verliessen Hohenems. 1860 wohnen noch 490 Juden dort, 1866 465, 1868 271 und 1878 165.1 Somit hatten zwischen den Jahren nach 1850 und 1878 etwa zwei Drittel der jüdischen Einwohner den Ort verlassen. Nach dieser Zeit erfolgte ein weiterer Exodus der jüdischen Bewohner aus Hohenems.

Meran, Südtirol

In der Blütezeit der Hohenemser jüdischen Gemeinde hatte das Hohenemser Rabbinat selbst die weit entfernt jenseits der Berge lebenden Juden von Bozen, Trient und Meran mitbetreut. Südtirol gehörte bis 1918 zu Österreich, 1919 wurde dieses Gebiet Italien zugesprochen; die jüdischen Gemeinden nahmen eine von Hohenems unabhängige Entwicklung. In der Hauptstadt der heutigen Autonomen Provinz Bozen - Südtirol, der gleichnamigen Stadt (ital. Bolzano), hatten Juden bereits zur Zeit des Mittelalters gewohnt. Im nahen Trient (ital. Trento, Hauptstadt der Autonomen Provinz Trient, Trentino) kam es durch falsche Anschuldigungen zu Judenverfolgungen, wo im Jahre 1475 Juden unterstellt wurde, am Kind Simon von Trient einen Ritualmord verübt zu haben. Mehrere Juden wurden ermordet, der Rest der jüdischen Bevölkerung vertrieben. Juden wurden seit dieser Zeit in der Region Trient entweder nicht mehr geduldet oder durch einen rabbinischen Bann (hebr. Cherem) davon abgehalten, sich dort niederzulassen2, so lange, bis im Jahr 1965 die Verehrung des Kindes als Märtyrer in der katholischen Kirche offiziell beendigt wurde.

Die nach den Vertreibungen des Mittelalters neu gegründete jüdische Gemeinde in Bozen war recht klein und zählte um 1940 nur mehr kaum hundert Mitglieder. Meran hingegen wurde von Juden bis Mitte des 19. Jahrhunderts germieden. Erst später liessen sich in diesem Kurort wieder jüdische Familien nieder, die ersten Gräber auf dem jüdischen Friedhof stammen von 1871. 1893 wurde ein jüdisches Sanatorium für Tuberkulose-Patienten eingerichtet. Eine Synagoge wurde im Jahre 1901 gebaut, zur gleichen Zeit eröffnete ein koscheres Hotel. Eine offizielle jüdische Gemeinde gab es hier seit 1905.3 Um diese Zeit wurde das Rabbinat für Tirol und Vorarlberg von Hohenems nach Meran verlegt und Aron Tänzer wurde hier der erste Rabbiner.4 Franz Kafka, Sigmund Freud und der erste israelische Staatspräsident Chaim Weizmann zählen zu den berühmtesten Kurgästen Merans.

In späteren Jahren hatte Meran 780 jüdische Bewohner, die meisten stammten aus dem Ausland. 1930 wurde Meran ofiziell Sitz der jüdischen Gemeinde der Region Trentino-Alto Adige mit einer Gerichtsbarkeit bis hinunter nach Riva del Garda, bis zu 6.000 Juden hielten sich hier auf.5 Bis 1940 sank diese Zahl auf 64, und bis 1970 auf 30 Personen. Trotz der Verfolgungen und Vertreibungen während der Shoah kehrte der jüdische Tourismus nach Meran zurück, konnte aber an seine Blütezeit in den Jahrzehnten zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts nie mehr anschliessen. Zwischen 1990 und dem Jahre 2000 zählte man insgesamt nur mehr 38 jüdische Bewohner in Südtirol.

Hohenems im 20. Jahrhundert

Vorarlberg war jenes Bundesland Österreichs, das den geringsten jüdische Bevölkerungsanteil hatte. Das ganze Land hatte 1923 nur 139.200 Einwohner, weniger als die jüdische Bevölkerung Wiens zu der Zeit. Die kleine jüdische Gemeinde bestand damals aus 24 Personen, die alle in Hohenems wohnten.6 Der Vorsteher (Präsident) der Gemeinde war Ivan Landauer, die anderen Vorstandsmitglieder waren Harry Weil und Bernhard Schwarz. Als Kantor fungierte Jacob Weil. Dr. Link, der Rabbiner in Innsbruck war, betreute zu dieser Zeit die jüdische Gemeinde in Vorarlberg. Die jüdische Schule war zu dieser Zeit nicht mehr in Gebrauch, und Kantor Weil wohnte damals im früheren Rabbinerhaus.7 Während der folgenden Jahre unterstand die Vorarlberger Gemeinde in administrativer Hinsicht der jüdischen Gemeinde in Innsbruck.

Während der NS-Zeit und der damaligen Verfolgungen verzogen die meisten Hohenemser jüdischen Bewohner nach Wien. Zur Zeit der Deportationen im Jahre 1942 bestand die Gemeinde nicht mehr. Die nach Wien gezogenen Hohenemser Juden teilten das Schicksal der dortigen Juden.

Der jüdische Friedhof in Hohenems überstand die NS-Zeit, wurde aber nicht gepflegt und verwahrloste im Laufe der Jahre und Jahrzehnte. Die kleine jüdische Nachkriegsgemeinde in Innsbruck hatte nicht die Mittel, den Friedhof instand zu halten.

Da in früheren Jahren eine Anzahl Hohenemser jüdischer Familien nach St. Gallen (Schweiz) gezogen waren, gründeten deren Nachkommen den Verein zur Erhaltung des Jüdischen Friedhofs in Hohenems. Dreihundertfünfzig Jahre nach Einweihung des Friedhofs traf sich diese Gruppe von Nachkommen am 3. September 1967 in Hohenems zu einer Gedenkfeier, wo der St. Galler Rabbiner Dr. Lothar Rothschild sprach.8 Ein Zeitungsbericht aus dem Jahre 1970 erwähnt die Beerdigung von Harry Weil, der in die Vereinigten Staaten ausgewandert war. Auf seinen Wunsch wurde er auf dem jüdischen Friedhof in Hohenems beigesetzt. Viele Ortsbewohner nahmen an dieser Beerdigung teil. Er wurde 1898 in Hohenems als Sohn des dortigen Kantors geboren. Vor seiner Emigration spielte er die Orgel in der Synagoge und war aktiv im dortigen Gesang- und Orchesterverein.

St. Gallen, Schweiz

Die jüdische Gemeinde in St. Gallen war erst im Jahre 1863 gegründet worden. Als durch einen Todesfall im Jahre 1869 die Notwendigkeit eines jüdischen Begräbnisses entstand, wurde um diese Zeit der jüdische Friedhof eingeweiht. Bis dahin waren die Toten nach Hohenems überführt worden. Das erste Betlokal stammt aus dem Jahre 1866. Es befand sich in gemieteten Räumen in einem Hinterhaus in der Nähe des Stadtzentrums. Um diese Zeit stellte die Gemeinde ihren ersten Rabbiner ein, Dr. Engelbert. Die gemieteten Räume waren nur eine vorübergehende Lösung. Im September 1881 wurde eine repräsentative Synagoge errichtet. Diese befindet sich noch heute in der Frongartenstrasse. Unter den Rednern bei der Einweihung befand sich Dr. Adolf Guttmann, der damals Rabbiner in Hohenems war. Beide Gemeinden adaptierten gemässigte Reformen im Gottesdienst. Während die Grundlage traditionell war, gab es gewisse Neuerungen und Änderungen. Neben den hebräischen Gebeten gab es deutsche Passagen. Die kantoralen Gesänge wurden von einem Harmonium begleitet. Gewisse Abweichungen von der Tradition fanden auch an Fest- und Feiertagen statt.

Dr. Engelberts Nachfolger wurde Rabbiner Dr. Emil Schlesinger, der zwischen 1900 und 1939 in St. Gallen amtierte. Weitaus bekannter ist Rabbiner Dr. Lothar Rothschild, der 1943 nach St. Gallen kam und 1968 in den Ruhestand trat.9 Sein Nachfolger wurde Rabbiner Imre Schmelczer.

Über die Grösse der jüdischen Gemeinde in St. Gallen liegen wenig statistische Angaben vor. In einem Interview im Jahre 1990 schätzte Simon Rothschild, der Gemeindevorsitzende, die Zahl auf 120 Personen. Da die jüdische Religion im Kanton St. Gallen als Konfession nicht anerkannt wird, können Juden nicht gezwungen werden, Mitglieder einer jüdischen Gemeinde zu werden, da diese keine Korporationsrechte haben. Er versprach alles, was in seiner Macht stände, zu tun, um den legalen Status zu ändern. Nach seiner Schätzung könnte die Zahl der Juden im Kanton etwa 350 betragen (1990).

Kontakte:

Jüdisches Museum Meran

Schillerstraße 14
39012 Meran

Email: e.innerhofer@virgilio.it

 

Jüdisches Museum Hohenems

Villa Heimann-Rosenthal
Schweizer Strasse 5, A-6845 Hohenems
Tel. 0043-(0)5576-73989-0
Fax 0043-(0)5576-77793
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Öffnungszeiten Büro
Dienstag bis Freitag 9-12 Uhr und 14-17 Uhr

Jüdische Gemeinde St. Gallen

c/o Dr. Roland Richter
Merkurstrasse 4
9000 St. Gallen
Tel.: 071- 222 16 14
Fax: 071- 222 57 34
Email: r.richter@bluewin.ch

Verein zur Erhaltung des Jüdischen Friedhofs in Hohenems
Präsident: Yves M. Bollag, CH-6926 Montagnola
Ehrenpräsident: Kurt Bollag, CH-9443 Widnau
Kassier: Heinz Baum, FL-9492 Eschen

Bankverbindungen:
Alpha Rheintal Bank, CH 9442 Berneck,
Kto. 30.38154-9
Dornbirner Sparkasse
Filiale A-6845 Hohenems, PC 0200-048924

Gerhard Salinger, geboren 1922 in Stolp/ Pommern (heute Slupsk, Polen), zwischen 1943 und 1945 in den Konzentrationslagern Auschwitz, Buchenwald, Dachau. Lebt seit 1947 in den USA, MBA an der New York University in Geschäftsverwaltung, beruflich in Steuerangelegenheiten tätig. Zahlreiche Veröffentlichungen zur jüdischen Geschichte in Ost- und Mitteleuropa, neben der Schweiz und Österreich und hier vor allem dem Hohenemser Raum zu Polen, Ungarn, Rumänien, der Slowakei, Teilen der südlichen Ukraine sowie Tschechien (Mähren); u. a. „Die einstigen jüdischen Gemeinden in Pommern" (4 Teile, 1.200 Seiten, Privatdruck) und „A Journey in Hungary" (rund 700 jüdische Gemeinden, Privatdruck), „The Jewish Cemetery in Hohenems", In: In Touch, The Newsletter of the American Friends of the Jewish Museum Hohenems, Jg. 10, Heft 1, Juni 2009, Seite 4-8.

Teil 2 dieses Artikels erscheint im nächsten Heft, DAVID, Jg. 22, Heft 86, September 2010.

1   A. Tänzer, Die Geschichte der Juden in Hohenems, Seite 310.

2   Philo Lexikon, 1935, Seite 766.

3   Encyclopedia Judaica, Band 11.

4   Zwei Jahre später - 1907 - übernahm Tänzer das Rabbinat in Göppingen in Württemberg.

5   Annie Sacerdoti/ Luca Fiorentino: Guida all' Italia Ebraica, Seite 142f.

6  Jüdisches Jahrbuch für Österreich 5693 (1932/1933), Seite 8.

7   Ebenda, Seite 89/90.

8   Montfort, Zeitschrift für Geschichte, Heimat- und Volkskunde Vorarlbergs, 19. Jahrgang 1967, Heft 3, Seite 198.

9   Dr. Lothar Rothschild, der am 27. März 1974 in St. Gallen starb, wurde 1909 in Karlsruhe (Baden) geboren. Seinen ersten Posten als Rabbiner hatte er in Saarbrücken inne. Er war ein hervorragender Sprecher und war auch publizistisch tätig. Seine wöchentlichen Torah-Kommentare wurden in deutschen und österreichischen jüdischen Zeitungen veröffentlicht. Neben seiner Position in St. Gallen betreute er die kleine jüdische Gemeinde in Kreuzlingen, einem Ort nahe der deutschen Grenze bei Konstanz. Zu seinen Veröffentlichungen gehörte „Im Strom der Zeit, Hundert Jahre israelitische Gemeinde St. Gallen - 1863 - 1963".

Robert Kratz trug in einem Leserbrief drei wichtige Ergänzungen zur jüdischen Geschichte von St. Gallen (vgl. Teil 1 dieser Artikelserie) bei, die hier gerne wiedergegeben werden: Die von St. Gallen aus getätigten Hilfsaktionen für vom Holocaust verfolgte Juden seitens Saly Mayer, die von St. Gallen getätigten Hilfsaktionen für vom Holocaust verfolgte orthodoxe Juden seitens der Familie Sternbuch, sowie die Grundidee zur Gemeindegründung in Kreuzlingen. DAVID dankt für diese Hinweise!