Ausgabe

„Pfiffige Kinojuden“ Antisemitismus in der kinematographischen Berichterstattung am Beispiel des Cabiria-Skandals1917

Paolo Caneppele/Günter Krenn

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reflektierte die Berichterstattung über das sich ausbreitende Phänomen Kino die sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten Österreich-Ungarns. Gesellschaftlichen Diskurs widerspiegelnd, wurden die Artikel auch dazu benützt, Antisemitismus sowohl in latenter, zumeist jedoch in sehr offener Form, zu transportieren. 

Inhalt

Man findet solche Beispiele vor allem in Publikationen, die der christlich-sozialen Partei nahestanden. Diese operierte offen mit antisemitischen Vorwürfen ökonomischer („skrupelloser Kapitalist und Unternehmer“), religiöser („Christusmörder“) und moralischer Natur („Brunnenvergifter“ – nun nicht mehr im mittelalterlichen Sinne von „Seuchenverbreiter“, sondern von Unmoral und Pornografie).

 

Im vorletzten Jahr des Ersten Weltkriegs fand sich wieder ein Anlass, tradierte Negativ-Propaganda auf den rhetorischen Prüfstand zu bringen. 1917 wurde in Wien der Streifen Ein Kampf um die Weltherrschaft vorgeführt. Unter dem Titel verbarg sich der von Giovanni Pastrone inszenierte italienische Film Cabiria, der am 18. April 1914, wenige Monate vor Kriegsbeginn, gleichzeitig in Turin und Mailand uraufgeführt worden war. 

 

Die Werbekampagnen bezeichneten den Dichter
Gabriele D’Annunzio als Autor, obwohl dieser lediglich die Zwischentitel zu Pastrones Szenario verfasst hatte. Für die österreichische Propaganda galt der prominente Literat wegen seines vehementen Appells zugunsten eines Kriegseintritts Italiens als das Synonym für italienische Kriegshetzerei schlechthin, zumal, da er in der Folge auch begeisterter Soldat wurde.

1914 hatte die Neutralität Italiens den ungestörten Export italienischer Filme nach Österreich-Ungarn noch erlaubt. Nach der Kriegserklärung im Mai 1915 untersagte die Monarchie erwartungsgemäss die Einfuhr italienischer Filme. Das Verbot wurde jedoch sofort unterlaufen von Zelluloiderzeugnissen, die als „von unbekannter Herkunft“ getarnt waren. Der Grund für jene vor allem über die Schweiz eingeschmuggelten ausländischen Filme entsprang dem existentiellen Bedarf des österreichischen Kinomarktes an neuen Filmen, die von der eigenen Industrie und jener befreundeter Staaten nicht in ausreichender Anzahl hergestellt werden konnten. 

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Plakatmotiv für Cabiria/Der Kampf um die Weltherrschaft. Quelle: Die Filmwoche, 16. Juni 1917, Nr. 216, S. 15.

So gelangte auch Cabiria als Ein Kampf um die Weltherrschaft auf die Wiener Kinoleinwände. Man bewarb ihn im Juni 1917 vorab als Kinosensation der Saison und phantastisches Filmschauspiel in zehn Akten, einer Länge von 3.500 Metern, von der Zensur als „schulfrei“ eingestuft, mit eigens dafür komponierter Musik. Am 11. November 1917 erschien ein Artikel, in dem man lesen konnte, der Film handle von den Punischen Kriegen und wäre noch vor dem Ersten Weltkrieg gedreht worden. Die Uraufführung wurde am 14. November zugunsten des Prothesenfonds im Wiener Zentralkino unter grossem Werbeaufwand zelebriert, der Veranstaltung wohnten zahlreiche prominente Persönlichkeiten der Wiener Gesellschaft bei. Nach der Premiere fanden sich lobende Stimmen, die das während der Punischen Kriege im dritten vorchristlichen Jahrhundert angesiedelte Leinwandgeschehen metaphernhaft zu deuten suchten: 

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Der Tempel des Moloch in Cabiria. Filmbezogene Sammlung, Österreichisches Filmmuseum, Wien, mit freundlicher Genehmigung.

„An diesem Film wurde in jahrelanger sorgsamer Mühe noch vor Ausbruch des Weltkrieges unter Aufwendung ungeheurer Mittel gearbeitet; [...] Der geschichtliche Hintergrund der Handlung weist mit nicht zu verkennender Aehnlichkeit auf die weltbewegenden Ereignisse unserer Tage, der Kampf Rom gegen Karthago galt ebenfalls der Freiheit der Meere und das seebeherrschende Karthago - das England alter Zeiten - ist in diesem Kampfe unterlegen. Der Film bringt mit gewaltiger, wohl nicht mehr zu überbietender Anschaulichkeit, den furchtbaren Zusammenstoss zweier feindlicher Rassen und das Streben nach historischer Treue, die erstaunlichen plastischen Wirkungen, die aufgebaut erscheinen, schufen hier ein Werk von wirkungsvollster Durchschlagskraft, das in der grandiosen theatralischen Aufmachung das Filmereignis dieses Jahres darstellt und es auf lange Zeit hinaus auch bleiben dürfte.“1

 

Die Begeisterung gegenüber dem solcherart hochgelobten neuen Film mit dem gerade in Kriegszeiten so beziehungsreichen Titel verflog jedoch rasch. In der Reichspost-Nachmittagsausgabe des 24. November erschien unter dem an das punische Ante-portas-Schreckensszenario gemahnenden Titel „D‘Annunzio in Wien“ ein Artikel, der in der Folge einen Skandal nach sich zog:

 

 „Mit ausserordentlich viel Reklame wurde kürzlich der Wiener Bevölkerung ein Monster-Kinostück, betitelt ,Der Kampf um die Weltherrschaft‘, angekündigt [...] Nun hat aber der ,Der Kampf um die Weltherrschaft‘ eine Vorgeschichte, die ihn zu allem anderen, aber gerade zur Vorführung in Oesterreich nicht geeignet macht. Wir erfahren dazu: Das Stück heisst ,Cabria‘ [sic] und hat niemand anderen als Gabriel D‘Annunzio zum Verfasser. Pfiffige Kinojuden haben das Original umgemodelt, mit all dem Ausrüstungstand der modernen Kinotechnik aufgezäumt und nun werkeln die Wiener Kinooperateure den Kindern und Angehörigen unserer Tapferen, die da unten wie in Welschlands Ebenen welsche Tücke im Heldenkampfe wehren - die Geschichte eines D‘Annunzio vor, desselben D‘Annunzio, der einer der Haupturheber des Verräterkrieges Italiens, der wütendste Prediger des Hasses gegen Oesterreich-Ungarn ist. Es sei ausdrücklich bemerkt, das Stück als solches ist nicht besser und nicht ärger als derlei Kinostücke einmal sind. Zum Skandal wird ausschliesslich, dass man die Würdelosigkeit hat, das Stück des grimmigsten Hassers und Beschimpfers der Monarchie jetzt aufzuführen. Man fragt sich erstaunt, wie es denn kam, dass unsere Zensurprüfungsstellen, die sich von Berufswesen auch mit den Kinoerzeugnissen des feindlichen Auslandes befassen müssen, nicht sofort erkannten, um was es sich da handelt. Wird der Skandal, der jetzt in Wien hoffentlich endgültig seinen Schluss findet, am Ende noch in die Kronländer hinauswandern, um die Schande voll zu machen?“2

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 Werbeseite für Der Kampf um die Weltherrschaft. Quelle: Neue Kino Rundschau, 22. September 1917, Nr. 29, S. 34.

Die Nachricht wurde als sensationell empfunden, woraufhin die Reichs-
post
ihre Berichterstattung darüber tagelang fortsetzte und ausbaute. Neben D’Annunzio waren es vor allem die jüdischen Verleiher, gegen die sich der offen ausgesprochene Hass richtete: 

 

„Die in unserer heutigen Nachmittags-
ausgabe bereits kurz gestreiften ungehörten Vorgänge die der mit grossem Reklameaufwand in Szenen gesetzten Aufführung von D‘Annunzios Film ,Cabria‘ [sic] in Wien unter dem gefälschten Titel ,Der Kampf um die Weltherrschaft‘, erweisen sich nach den von uns in dieser Angelegenheit gepflogenen Erhebungen als geschmackvoller und mit den raffiniertesten Mitteln durchgeführter Versuch für ein tendenziöses Hetzstück des italienischen Oberkriegsagitators Stimmung zu machen. [...] Wie ein solches Machwerk des italienischen literarischen Schmutzfinks und Oberkriegshetzters nach Wien kam, um hier Abend für Abend das Hinterland unserer Helden von der Südwestfront zu ,begeistern‘? Wir erfahren hierüber folgende, schier unglaubliche, aber leider nur allzu wahre Einzelheiten, durch welche die Moral der gewissen Kriegsverdienerfirmen und Spekulanten in grellste Beleuchtung gerückt wird: Der Film, ein Monopol der Projektograph A.G., wurde der Zensurprüfungsstelle vor geraumer Zeit von dem Wiener Vertreter der Gesellschaft, die in Budapest ihr Stammhaus hat, Nikolaus Deutsch, wohl als italienisches Filmerzeugnis vorgelegt, aber mit den Fakturenbelegen der hiefür vor dem Kriege schon bezahlten Beträge, die durch ein eventuelles Verbot, nach der Versicherung des Deutsch, verloren gewesen wären. Dem Drängen und dem Hinweise auf den dadurch entstehenden grossen Schaden nachgebend, erfolgte die Freigabe des Films zur Aufführung. Nun wurde der ,packende Titel‘ ausgewählt, Reklame im grossen Stil geschlagen und für die Erstaufführung natürlich die jetzt so
beliebte ,Wohltätigkeitsvorstellung‘ angesetzt - alles unter wohlweislicher Verschweigung der Herkunft des Films. Das Geschäft war gemacht, die grosse Kinosensation geschaffen. Im Gegensatze zu den von Deutsch den Behörden vorgelegten Fakturen steht heute fest, dass der Film ,Cabria‘ [sic] von D‘Annunzio durch Deutsch erst vor zirka einem halben Jahre von der Turiner Filmfabrik ,Italia‘ durch Vermittlung einer Schweizer Firma, die dem Deutsch über Verlangen eine vordatierte Faktura gab, um den Betrag von über 100.000 Kronen erworben wurde. [...] Und ein solcher Film von einem solchen Autor wird während unseres Verteidigungskrieges gegen die räuberische, verräterische D‘Annunzio Irredenta von einer - natürlich! - jüdischen Firma um den Betrag von 100.000 Kronen, der zur ,Aufbesserung‘ unserer Valuta nach Italien geschickt wird, erworben und auf die Wiener losgelassen, deren Gutmütigkeit den Preis der Schande noch vielfach überzahlen soll!“3

 

Der aus einem nun verfeindeten Land stammende Film wurde immer mehr zum staatsgefährdenden Präzedenzfall hochstilisiert, in den alle negativen Machenschaften der Kinobranche verwickelt schienen. Nicht nur die „natürlich jüdische“ Verleihfirma, auch die Kinobesitzer wurden von der Reichspost als skrupellose jüdische Geschäftemacher attackiert: 

 

„Für sie, den Nikolaus Deutsch, die saubere Projektograph A.G. und die Besitzer des Zentralkinos, die Juden Brüder Wilhelm, gibt es nur das Geschäft und wenn es gerade mit D‘Annunzio zu machen ist - warum nicht?“4

 

Am 29. November verkündete die Reichspost stolz, die Moral habe gegen das Spekulantentum gewonnen, nachdem die Behörden weitere Vorführungen des Films untersagten. 

 

Die Verleihfirma Projektograph A.G. versuchte vergeblich, sich mit seitenlangen Inseraten in Branchenblättern gegen die massiven Anschuldigungen zu wehren. Man habe, teilte man mit, den Film Ende November „trotz der enormen Höhe der täglichen Einnahmen“5 abgesetzt und führte aus: 

 

„Eine Wiener Tageszeitung hat in demagogischer Art mit Skandal und Fenstereinwerfen gedroht. Mittel, mit denen und gegen welche wir nicht kämpfen.“6 

 

Böswilligkeit, Hass und Unverstand hätten in der Branche gezielt Unwahrheiten veröffentlicht und man warne daher:

 

 „Kinobesitzer, suchet die Schädlinge in Eueren Kreisen, ihnen könntet Ihr es verdanken, wenn Euere Programme in Zukunft noch weitere Einschränkungen erfahren.“7

 

Interessant mutet der Umstand an, dass der Film nur wenige Monate nach dem Wiener Skandal nach Deutschland verkauft werden konnte. Am 16. März 1918 las man in der Lichtbild-Bühne, dem Berliner „Fachorgan für das Interessengebiet der kinematographischen Theaterpraxis“, ähnlich wie zuvor in Wien die für patriotische wie pekuniäre Zwecke gleichermassen wichtige Beschwichtigung, der Film 

„befand sich schon Anfang 1914 im Besitz der deutschen Firma Otto Schmidt, Berlin, Friedrich-Strasse 220. Er hat ohne Ausschnitt die Berliner Zensur passiert. Deutsches Kapital lag in diesem Film brach seit 1914.“8 

 

Ein paar Seiten danach betonte man im selben Magazin in grammatikalisch wohl nur notdürftig korrigierten Sätzen: 

 

„Der Kampf um die Weltherrschaft ist der grösste Film aller Zeiten. Er wurde überall mit wirklich noch nie dagewesenen Erfolgen gespielt, erzielte in Wien Einnahmen, welche an Wochentagen die Einnahmen der ausverkauften Hofoper, an Sonn- und Feiertagen die Einnahmen der Hofoper bei dem ersten Caruso-Gastspiel gleichkamen.“ 9

 

Der in österreichischen Medien massiv gescholtene Gabriele D’Annunzio besuchte den Schauplatz seiner Schmähung, Wien, am 9. August 1918. Er kam per Flugzeug und ohne die Absicht, zu landen. Stattdessen warf er über der Stadt anstelle von Bomben Flugblätter ab, auf denen er pazifistische Botschaften verbreitete, ohne sich dabei jedoch manchen Seitenhieb verkneifen zu können: 

 

„WIENER! Man sagt von euch, dass ihr intelligent seid, jedoch seitdem ihr die preussische Uniform angezogen habt ihr [sic] seid auf das Niveau eines Berliner-Grobians [sic] herabgesunken, und die ganze Welt hat sich gegen euch gewandt. Wollt ihr den Krieg fortführen? Tut es, wenn ihr Selbstmord begehen wollt. Was hofft ihr? Den Entscheidungssieg, den euch die preussischen [sic] Generale versprochen haben? Ihr Entscheidungssieg ist wie das Brot aus der Ukraina [sic]: Man erwartet es und stirbt bevor es ankommt.“10

 

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Werbeinserat für den „grössten Film aller Zeiten“. Quelle: Neue Kino Rundschau, 8. Dezember 1917, Nr. 40, S. 24.

Anmerkungen

1 Reichspost, Morgenblatt, Nr. 532, 17. November 1917, S. 7.

2 Reichspost, Nachmittagsausgabe, Nr. 545, 24. November 1917, S. 4.

3 Reichspost, Morgenblatt, Nr. 546, 25. November 1917, S. 6.

4 Reichspost, Morgenblatt, Nr. 547, 26. November 1917, S. 6.

5 Österreichischer Komet, Nr. 394, 1. Dezember 1917, S. 13.

6 Ebenda, S. 14.

7 Ebenda, S. 16.

8 Lichtbild-Bühne, 16. März 1918, S. 96.

9 Ebenda, S. 99.

10 https://de.wikipedia.org/wiki/Flug_%C3%BCber_Wien