Ausgabe

Es ist nichts los in Gattendorf

Michael Bittner

Durch einen Artikel der Burgenländischen Volkszeitung mit dem seltsamen Titel Jüdische Friedhöfe im Bezirk - einsam und verlassen1 erfuhr ich von der Existenz eines Friedhofs in Gattendorf. Herbert Brettl nennt ihn in seinem Blog „verwaist“.2 Was aber soll denn auf einem jüdischen Friedhof los sein? Totenruhe ist ja oberstes Gebot in einem „Haus der Ewigkeit“. Haben die Autoren zu viel Wolfgang Ambros gehört („Es lebe der Zentralfriedhof“)?  Mir fiel dann ein, dass Gattendorf derjenige Ort war, an dem 1996 die noch bestehende Synagoge abgerissen wurde. Dort gibt es noch einen jüdischen Friedhof?

Inhalt

„Schuld daran“ ist das Naturhistorische Museum, es richtete an die Gemeinde am 14. August 1939 folgendes Schreiben:

„Im Auftrag […] der Zentralstelle für jüdische Auswanderung Wien weise ich Sie hierdurch darauf hin, daß aus dringenden wissenschaftlichen Gründen bis auf weiteres keinerlei Veränderung an dem Ihnen unterstehenden jüdischen Friedhof, bzw. jüdischen Friedhof, vorzunehmen ist. […]“3

 

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde und ihres Friedhofs ist gut erforscht.4 Gattendorf war eine kleine und relativ arme Gemeinde, sie entstand zu Beginn des 18. Jahrhunderts.5 Infolge der Pestverordnung von 1739 wurde ein Friedhof nötig, acht jüdische Männer pachteten das Gelände von der gräflich Esterházy’schen Herrschaft.6 Die erste jüdische Gemeinde bestand aus achtzehn Familien, die im „Schlossberghof“ lebten (1764). Den höchsten Personenstand erreichte die Gemeinde 1857, als es zweihundertsechs Menschen mosaischen Glaubens gab, 1934 waren es nur noch neunzehn, bevor die Nationalsozialisten die Gemeinde endgültig zerstörten.7

Der Friedhof ist ein Sonderfall unter den ostösterreichischen jüdischen Begräbnisstätten. Zwar konnte sich die kleine Gemeinde keinen Rabbiner leisten, jedoch gab es hier viele Begräbnisse, da Juden aus den Dörfern zwischen Bruck an der Leitha und Hegyeshalom in Gattendorf beerdigt wurden.8 

 

Dies ist umso erstaunlicher, da es im benachbarten Kittsee – einer der berühmten Schewa Kehillot - nicht nur einen Friedhof, sondern auch einen Rabbiner für die Begräbnisse gegeben hätte, während für jedes Begräbnis in Gattendorf ein Rabbi anreisen musste.9

Der Friedhof liegt am Ortsende – bei dieser Lage kann hier nichts los sein –, vorbei an der Kläranlage, am Grillplatz, zwischen Maisfeld und Wäldchen. Er ist 2.733 m² gross und etwa 120 Grabsteine sind erhalten.10 Zählt man auch die Fragmente dazu, kommt man auf 209 Spuren von Begräbnisstätten. Bei meinem Besuch stellte sich heraus, dass der Friedhof nicht so unberührt ist wie in der Literatur behauptet. Die erhaltenen Grabsteine stammen grösstenteils aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Vor etwa hundert Jahren wurde ein Plateau von einem Meter Höhe aufgeschüttet, wurden neue Gräber errichtet und ältere Steine integriert. Grabsteine aus der Barockzeit sind nicht mehr vorhanden, was aber aufgrund der Armut der ersten Judengemeinde nicht verwundert.11

Es ist ein aschkenasischer Friedhof, es gibt keine Grabbauten, keine skulpturale Gestaltung und nur wenige Relief-Medaillons, hauptsächlich handelt es sich um kleine Stecksteine aus Sandstein mit hebräischen Inschriften. Es finden sich auch keinerlei Spuren eines Gebäudes oder einer Wasserstelle (wo hat man sich hier die Hände gewaschen?), dabei besass die lokale Chewra Kaddischa sogar einen Totenwagen mit aufklappbarem Sarg.12

Über die Orientierung der Grabinschriften herrschte offensichtlich keine Einigkeit13, fast alle „alten“ Steine sind nach Westen ausgerichtet, die neueren nach Osten, der Stein von Josef Rottenberg, der 1903 im Alter von zwanzig Jahren verstorben ist, steht ganz allein nach Süden ausgerichtet am Rand des Friedhofs – ungeklärte Todesursache? Selbstmord? Die Grabsteine der kleinen Kinder schmiegen sich an die ihrer Mütter an, aber Helene Reisman, gestorben 1910 mit erst fünf Jahren, liegt ganz allein beim Zaun, weit weg von ihrer Familie.

Was erzählt der Friedhof uns Heutigen? Man kann an den Steinen die langsame Besserung der wirtschaftlichen Lage in der Biedermeier-Zeit erkennen, als es aber noch immer viele Menschen hier gab, die sich als „Binkl-Juden“14 ihr Leben verdienen mussten. Die Tradition macht sich durch die kleinen, schmucklosen Grabsteine mit hebräischen Inschriften bemerkbar, seit der Franz-Joseph-Zeit allerdings werden die Steine immer grösser und prächtiger, die Namen werden auf Deutsch geschrieben, der Sprache, die viele Juden des 19. Jahrhunderts als Idiom der Zukunft sahen. Schliesslich konnte man sich auch Obelisken aus Granit leisten, ab 1930 zieht die Moderne ein mit schmucklosen massiven Granitsteinen, welche die Prosperität der jüdischen Bevölkerung im 20. Jahrhundert zeigen. Allein der Zionismus kam nicht bis Gattendorf – kein einziger Stein trägt einen Davidstern

Es ist also nichts los hier – G’tt sei Dank – einsam, verlassen, verwaist wartet man friedlich auf den Maschiasch.

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Der jüdische Friedhof Gattendorf. Foto: M. Bittner, mit freundlicher Genehmigung.

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Grabsteine am jüdischen Friedhof Gattendorf. Foto: Ingrid Bittner, mit freundlicher Genehmigung.

Anmerkungen

1https://www.bvz.at/neusiedl/reportage-juedische-friedhoefe-im-bezirk-einsam-und-verlassen-frauenkirchen-gattendorf-kittsee-bezirk-neusiedl-friedhoefe-juedischer-friedhof-171819379

2 https://www.brettl.at/blog/der-verwaiste-juedische-friedhof/

3 https://www.brettl.at/blog/der-verwaiste-juedische-friedhof/

4 Klaus Derks: Kattondorff. Die vergessene Judengemeinde von Gattendorf., Herausgegeben vom Verein zur Erforschung der Ortsgeschichte von Gattendorf 2010, ISBN 978-3-200-01970-6.  Vgl. https://davidkultur.at/buchrezensionen/die-judische-gemeinde-von-gattendorf

5 https://regiowiki.at/wiki/J%c3%bcdische_Gemeinde_Gattendorf. Der hier als Quelle angegebene Artikel aus dem DAVID von Evelyn Adunka ist leider nicht mehr abrufbar.

6 https:/ /www.brettl.at/blog/der-verwaiste-juedische-friedhof/

7 https://regiowiki.at/wiki/J%c3%bcdische_Gemeinde_Gattendorf; Siehe Diagramm bei Derks S. 249.

8 Nach Klaus Derks, http://www.forschungsgesellschaft.at/routes/gattendorf.html#video2

9 https://regiowiki.at/wiki/J%c3%bcdische_Gemeinde_Gattendorf

10 https://www.friedhofsfonds.org/detailansicht/6

11 Klaus Derks, Kattondorff. Die vergessene Judengemeinde von Gattendorf. Gattendorfer Rückblicke Band 6 (2010) S. 92 ff, S. 326.

12 Derks S. 289 ff.

13 Tina Walzer, Jüdische Friedhöfe in Österreich und den europäischen Ländern. Wien: Böhlau Verlag 2011, S. 31.

14 Derks, S 76.