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Jüdinnen als Pionierinnen der Frauenemanzipation

Ursula PROKOP

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Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals Frauen in die Berufswelt drängten, waren es nicht zuletzt Jüdinnen aus bürgerlichem Umfeld, die sich als Vorreiterinnen verdient machten. Bis dahin waren Frauen weitgehend nur als einfache Arbeiterinnen tätig gewesen. Erst allmählich entwickelten sich auch in qualifizierteren Sparten Berufsaussichten, insbesondere im Unterrichtswesen oder im Kunstgewerbe. Da Frauen die längste Zeit der Zugang zu Hochschulen und Akademien verwehrt war, war der Eintritt in Berufe, die eine akademische Ausbildung voraussetzten, jedoch nahezu unmöglich. Auch gab es Bereiche, die ganz besonders männlich besetzt waren, wie zum Beispiel die Baubranche.

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Der Pestalozzi-Hof. Foto: U. Prokop.

Umso mehr ist die Pionierleistung von Ella Briggs zu würdigen, die als erste Architektin in Österreich tätig war. Erstaunlicherweise wird dieses Verdienst immer Margarete Schütte-Lihotzky zugesprochen, die allerdings fast eine Generation jünger war und noch zu einem Zeitpunkt studierte, als Ella Briggs bereits ihre ersten Inneneinrichtungen der Öffentlichkeit präsentiert hatte.1 Sicherlich ist dieses Missverständnis dem Umstand zuzuschreiben, dass Schütte-Lihotzky, die sich verdienstvollerweise im Widerstand betätigt hatte, nach dem Zweiten Weltkrieg in Österreich lebte und bis ins hohe Alter aktiv war, während Ella Briggs durch ihre Emigration dem Bewusstsein der österreichischen Architekturhistoriker weitgehend entglitten ist. Dementsprechend liegt auch bis heute vieles von ihrer Biografie im Dunkeln. Die Fakten sind nur mühsam aus der äusserst spärlichen Literatur und aus Angaben von entfernten Verwandten zu rekonstruieren. Bezeichnenderweise ist auch bis heute kein Foto von ihr aufgetaucht, das helfen würde, uns ihre Person zu vergegenwärtigen.

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Ledigenheim in der Billrothstrasse. Foto: U. Prokop.

Als Tochter des Advokaten Josef Baumfeld 1880 in Wien geboren, entstammte sie einem gutbürgerlichen jüdischen Milieu, das, künstlerisch und  intellektuell offen, sich allen Neuerungen gegenüber aufgeschlossen zeigte. In der Folge hatte sie die Möglichkeit, eine qualifizierte Ausbildung zu durchlaufen, zumindest im Rahmen dessen, was Frauen damals überhaupt möglich war. Die junge Ella Baumfeld belegte an der Wiener Frauenerwerbsschule einen Malkurs bei Prof. Adalbert Seligmann, der damals eine der wenigen Möglichkeiten einer künstlerischen Ausbildung für Frauen bot. Die Akademie der bildenden Künste verwehrte Frauen den Zugang, unter anderem mit der Begründung, dass das Aktzeichen nach lebenden Modellen - ein Pflichtfach - für Frauen nicht schicklich wäre. Die Schule von Prof. Seligmann, der selber ein sehr konservativer Künstler war, bot sicher keinen vollwertigen Ersatz, aber immerhin eine Ausweichmöglichkeit. Die zweite Institution, die Ella Briggs von 1901 bis 1906 besuchte, war die Wiener Kunstgewerbeschule, die eng mit der Künstlern der Secession zusammenarbeitete und daher damals eine Stätte der Avantgarde war. Frauen wurden hier in Hinblick auf eine kunstgewerbliche Tätigkeit immerhin verschiedenste Ausbildungsmöglichkeiten geboten.

Ella Baumfeld belegte unter anderem an der Kunstgewerbeschule einen Malkurs bei Koloman Moser, einer der führenden Protagonisten der Wiener Moderne und Mitarbeiter der „Wiener Werkstätte". Es ist quellenmässig nicht eindeutig erwiesen, aber mit grosser Wahrscheinlichkeit hat sie auch Lehrveranstaltungen bei Josef Hoffmann, dem führenden Architekten dieser Jahre und Leiter der Architekturklasse an der Kunstgewerbeschule, belegt. Nach Abschluss der Schule 1906 ging sie erstmals in die USA, wo ihr älterer Bruder Maurice lebte, der in New York ein deutsprachiges Theater betrieb. Hier heiratete sie auch ein Jahr später den aus Wien stammenden Journalisten Dr. Walter Briggs.2 Die Ehe ging aber schon 1912 in die Brüche, und Ella kehrte nach Wien zurück, um als Architektin zu arbeiten, wobei sich ihre Tätigkeit vorerst auf Inneneinrichtungen beschränkte.3 1914 präsentierte sie im Rahmen einer vom „Frauenclub" organisierten Ausstellung ein Damenzimmer.4 Bemerkenswert in diesem Kontext ist der Umstand, dass die junge Ella Briggs offensichtlich nicht zu den Persönlichkeiten gehörte, die sich mit den gegebenen Umständen zufrieden gab, sondern selbst die Initiative ergriff und im oben angeführten Verein auch organisatorisch tätig war. Generell bot der 1900 ins Leben gerufen „Frauenclub" im Rahmen seiner Diskussionsabende, Vortragsreihen, Kursen, Ausstellungen u.a.m, Frauen eine Chance der Weiterbildung, der Aufnahme sozialer Kontakte und der Präsentation in der Öffentlichkeit.5 Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass insbesondere Frauen aus jüdisch bürgerlichem Milieu hier eine führende Rolle spielten. Zu den Gründerinnen des Vereines gehörte unter anderen auch Editha von Mauthner-Markhof, die aus der berühmten Braudynastie stammte, wie Ella Briggs an der Kunstgewerbeschule studiert hatte und auch selber kunstgewerblerisch tätig war.6 Durch ihre Ehe mit Kolo Moser ergab sich ihre künstlerische Nähe zur „Wiener Werkstätte". Es ist anzunehmen, dass die beiden Frauen, aufgrund des gemeinsamen künstlerischen und personellen Umfeldes, des Öfteren zusammengearbeitet haben.

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Bautafel beim Pestalozzihof. Foto: U. Prokop.

Ella Briggs gab sich jedoch mit ihrer Tätigkeit als Innenarchitektin nicht zufrieden. Neben der Absolvierung eines Praktikums in einem Wiener Baubüro, wobei weder der Name noch der Zeitpunkt bekannt sind, und dem Besuch der Staatsgewerbeschule in Salzburg, studierte sie - nachdem Frauen endlich zugelassen worden waren - nach dem Ersten Weltkrieg in München an der Technischen Hochschule bei dem berühmten Architekten Theodor Fischer, der einen grossen Einfluss auf das deutsche Architekturgeschehen der Zwischenkriegszeit hatte. Hier erwarb sie 1920 das Abschlussdiplom und führte ab diesem Zeitpunkt den Titel „Diplom Ingenieur" - was damals für eine Frau ein absolutes Novum war. 1921 wurde  sie auch das erste weibliche Mitglied des elitären „Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereins", der nur Akademikern  und Hochschulabsolventen vorbehalten war.7 Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation nach dem Ersten Weltkrieg in Österreich ging sie jedoch neuerlich für einige Jahre in die USA, wo sie im Baubüro von Kahn & Gregory in New York und Philadelphia arbeitete und insbesondere mit Entwürfen von Einfamilienhäusern befasst war.  Um 1923 kehrte sie wieder nach Wien zurück, um sich im Herbst des Jahres an einer Ausstellung zu beteiligen und vor allem auch als Fachpublizistin tätig zu sein. Zu diesem Zweck unternahm sie eine längere Studienreise nach Süditalien, in der Absicht über die dortige Architektur ein Buch zu publizieren. Als sie fotografierend und zeichnend durch die Gegend reiste, erregt ihre Tätigkeit eine derartige Aufmerksamkeit, dass sie als vermeintliche Spionin vorübergehend sogar verhaftet wurde.

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt kann sie endlich Arbeiten übernehmen, die über die Gestaltung von Inneneinrichtungen hinausgehen. Im Rahmen der Bautätigkeit des „Roten Wien", wo es in erster Linie um die Schaffung von Sozialwohnungen ging, erhält sie einige Aufträge. 1925/26 kann sie in Wien-Döbling den „Pestalozzi-Hof" (Philippovichgasse 2-4) errichten. Diese Wohnhausanlage, die ihren Namen nach dem berühmten Schweizer Pädagogen erhalten hatte, gehörte mit rund 120 Wohnungseinheiten und einem Kindergarten zwar nicht zu den monumentalen Superwohnblocks des „Roten Wien", war in ihrer Grössenordnung jedoch beachtlich, ebenso das Faktum, dass Ella Briggs allein für die Planverfassung verantwortlich und nicht in ein Team eingebunden war, wie es bei der Vergabe dieser Bauten zumeist der Fall war. Alle diese Umstände zeigen, dass sie damals als Architektin durchaus anerkannt und geschätzt war. Ella Briggs schuf mit dem „Pestalozzihof" einen Wohnbau, der bis heute durch seine Helle und Freundlichkeit überzeugt. Die Anlage, deren Hauptfront sich zum Währinger-Park hin öffnet, ist strikt symmetrisch organisiert. Im Zentrum steht der etwas zurückgesetzte Bauteil, in dem der Kindergarten untergebracht ist, der der Bautypologie entsprechend stets prominent platziert war und damit die Zukunftshoffnung der Arbeiterschaft symbolisierte. Die beiden seitlich gesetzten, leicht gestaffelten Wohnungsflügel umschliessen einen Vorplatz, der Raum für Begrünung bietet. Bemerkenswert ist, dass dieser Bau aus der Mitte der zwanziger Jahre sich generell durch eine grosse Klarheit der Formen auszeichnet und nicht, wie damals üblich, von einem expressionistischen Pathos geprägt ist - was die üblichen Klischees von „weiblicher Verspieltheit" widerlegt.

Ein weitgehender Verzicht auf Dekor und schlichte Formen, die von der zeitgenössischen Bauhausästhetik beeinflusst sind, kennzeichnen auch das nahezu gleichzeitig entstandene „Ledigenheim" an der Billrothstrasse 9. Im Gegensatz zu den üblichen Sozialwohnungen, die für Familien gedacht waren, wurden hier kleine Wohneinheiten für Unverheiratete geschaffen - für die damalige Zeit eine äusserst fortschrittliche Idee. Auch dieses Gebäude, das praktisch an der Rückseite des „Pestalozzi-Hofes" zu liegen kommt, ist strikt symmetrisch gegliedert. Trotz der Absenz von jeglicher Zierart  ist die mittels Vor- und Rücksprünge gegliederte Fassade, die auch durch eine unterschiedliche Farbigkeit betont wird, keinesfalls nüchtern, sondern überzeugt durch ihre ausgewogenen Proportionen.8

Ungeachtet der hohen architektonischen Qualität dieser Bauten war es Ella Briggs leider nicht beschieden, ihre Tätigkeit als Architektin in Wien fortzusetzen. Infolge der einsetzenden Wirtschaftskrise zu Ende der zwanziger Jahre verliess sie Wien und ging nach Berlin, wo die beruflichen Voraussetzunge zu diesem Zeitpunkt offenbar besser waren. Auch diese Periode in ihrem Leben ist leider sehr unzulänglich dokumentiert. Gesichert ist, dass sie neuerlich auf dem Gebiet des Wohnungsbaus tätig war und anfangs der dreissiger Jahre unter anderem eine Wohnhausanlage in Berlin-Mariendorf und eine Villa in Klein-Machow errichten konnte. Daneben beteiligte sie sich auch an einigen Ausstellungen und veröffentlichte mehrere Artikel in diversen Fachzeitschriften. Bezeichnenderweise reflektieren die Themen ihrer Aufsätze, wie „Praktische Fragen zur Erwerbslosensiedlung"9 oder „ Die Wohnungsteilung"10 die prekären sozialen Verhältnisse dieser Zeit.

Aber auch ihre Zeit in Berlin fand infolge der Machtergreifung der Nazis bald ein Ende. Bereits 1936 verliess sie Deutschland. Da die Mitgliedschaft in einer der Fachkammern eine Voraussetzung für die Ausübung des Berufes war, diese jedoch 1935 nach der Einführung des „Arierparagrafen" Juden verwehrt war, gehörten freiberufliche Künstler und Architekten zu den Ersten, die emigrierten. Ella Briggs ging nach England, wo sie sich in London niederliess. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch Frieden herrschte und sie im Gegensatz zu vielen anderen Emigranten über gute Sprachkenntnisse verfügte, stiess sie dennoch anfangs auf grosse Schwierigkeiten, ihren Beruf  auszuüben, indem ihr Ansuchen um eine Architektenbefugnis vorerst zurückgewiesen wurde.11 Es ist ungewiss, wann genau sie ihre Arbeit aufnehmen konnte. Jedenfalls erhielt sie erst nach Kriegsende die britische Staatsbürgerschaft und wurde Mitglied des Royal Institute for British Architects (RIBA) - eine unbedingte Voraussetzung, um in England als selbständige Architektin tätig zu sein. Zu diesem Zeitpunkt war sie auch im Rahmen der zahlreichen Wiederaufbauprojekte 1946 in das Komitee für „Housing and Planing" eingebunden, wo sie u. a. eine Wohnsiedlung in Bilston realisieren konnte.12  Nach dem Tod ihres Bruders Fritz, mit dem sie in einem gemeinsamen Haus in London gelebt hatte,  zog sie sich 1953 nach Ensfield in Middlesex (heute ein Teil von London)  zurück, wo sie schliesslich 97-jährig an Leukämie verstarb.13

Die Wohnbauten des „Roten Wien" sind in der Zwischenzeit zur Legende geworden, und zahlreiche Bücher und Ausstellungen haben sich mit diesem Thema befasst - die Architektin des „Pestalozzi-Hofes" ist hingegen weitgehend vergessen.

1  Siehe dazu S. Plakolm-Forsthuber, Künstlerinnen in Österreich 1897-1938, Wien 1996 u. I. Scheidl, Ella Briggs, in: www.architektenlexikon.at

2  Auskunft Oliver Bryks (Grossneffe), San Francisco, USA.

3  Laut Meldearchiv der Stadt Wien war sie ab 1914 als „Architektin" gemeldet.

4  Siehe Anm. 1.

5  Siehe dazu www.2.onb.ac.at/ariadne

6  Siehe dazu Gustav Klimt und die Kunstschau 1908 (Kat.), Berlin u. a. 2008, S. 543.

7  Aufnahmeformular des Österreichischen Ingenieur- u. Architektenvereines und Schreiben des Präsidenten (Archiv des Österr. Ingenieur u.  Architektenvereines).

8  E. Briggs; Wohnhausblock „Pestalozzihof" und Ledigenheim in Wien. In: Wasmuths Monatshefte  1928, S.69ff.

9  E. Briggs, Praktische Fragen zur Erwerbslosensiedlung, In: Bauwelt  22.1931, H.44, S.1394ff.

10  E. Briggs, Wohnungsteilung- Stockwerkswohnungen - Teilungen. In: Bauwelt 23.1932, H.59, S.1273ff.

11  Ch. Benton, A different world, Emigree Architects in Britain 1928-1958 (Kat.) London 1995, S.146.

12  Freundliche Auskunft Oliver Bryk und Architects Journal 2. Jan. 1947, p.15ff.

13 Freundliche Auskunft Celia Male (Grossnichte).