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Geschichtsmanipulation in Ungarn

Karl PFEIFER

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Seit Mai 2010 regiert in Ungarn eine Koalition aus dem nationalistischen und zum Teil völkischen „Ungarischen Bürgerbund" (Fidesz) und der kleinen klerikalen „Christlich-Demokratischen Volkspartei" (KDNP). Mit ihrer Zweidrittel-Mehrheit im Parlament änderte die Regierung im April 2011 die Verfassung, was unter anderem zu einem Protest von 42 Historikern führte, weil sich die neue Verfassung neben aller Schwülstigkeit durch problematische Inhalte auszeichnet.

Die Präambel führt aus: „Wir datieren die Wiederherstellung der am 19. März 1944 [deutsche Besatzung, K.P.] verlorenen staatlichen Selbstbestimmung unseres Vaterlandes auf den zweiten Mai 1990, die konstituierende Sitzung der ersten frei gewählten Volksvertretung."

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Ungarischer Soldat beobachtet die Hinrichtung von Juden in Ungarn. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Archives Yad Vashem.

Laut dem Historiker Krisztián Ungváry ist diese Feststellung „unwahr, inakzeptabel und fachlich nicht zu begründen, denn es wird uns einfach ein Teil unserer nationalen Geschichte geraubt". Ungváry argumentiert dagegen, „dass ein Gesetz vorschreibt, wie man sich über historische Fakten zu äussern hat", und stellt fest:

„Nach der Besetzung Ungarns durch die Deutschen war das Parlament weiterhin unverändert tätig. Die Massnahmen der Regierung Sztójay wurden von eben diesem Parlament ohne jeden Zwang beschlossen. Auf den einzelnen Abgeordneten, die im Jahr 1939 in allgemeinen und geheimen Wahlen ihr Mandat erringen konnten, lastete kein äusserer Druck. Die Regierung bestand ausnahmslos aus solchen Ministern, die auch schon zuvor Minister gewesen waren - sie taten ihre Arbeit nicht wegen eines Zwangs, sondern aus innerer Überzeugung. Die Massnahmen der Regierung führten nicht zu landesweiten Streiks, sie hatten keine massenhafte Unzufriedenheit oder bewaffneten Widerstand zur Folge. Im Gegenteil. Als Folge der schon lange vorbereiteten und praktisch ohne deutsche Hilfe (Eichmanns 50 Mitarbeitern standen 200.000 Offizielle in Ungarn gegenüber) durchgeführten „Arisierung"  kam es eine Zeit lang zum Anstieg des Lebensstandards."


Ungváry meint:

„Wenn das Land nämlich seine Unabhängigkeit nach der deutschen Besatzung verloren hätte, dann gehören (die beschämenden) Taten unserer Politiker, an die wir uns heute bei historischer Betrachtung erinnern und welche die Zusammensetzung der ungarischen Bevölkerung ebenso wie das bewegliche und unbewegliche Vermögen stark verändert haben, eben nicht in den Verantwortungsbereich der handelnden Personen. Die Verantwortung könnte ein anderer tragen. Nun, genau das ist das Ziel."1

Ausgerechnet am 19. März 2011, dem Jahrestag des deutschen Einmarsches in Ungarn, führte der Staatssekretär für Justiz und öffentliche Verwaltung András Levente Gál mit sich selbst ein Interview, in dem er - wahrscheinlich nicht beabsichtigt - eine antisemitische Argumentation gebrauchte. Wie er am Ende seines Selbstinterviews erklärt, pflegte er „immer die Organisationen, die sich mit Restitutionen befassen zu fragen, wenn sie, wie sie behaupten, in diesen Sachen, das Judentum der Welt vertreten, [hier deutet der Staatssekretär einige Prozesse an, die vor einem Jahr in Chicago begonnen haben, wo die ungarische Staatseisenbahn und einige Banken geklagt werden], dann kann man diese Prozesse von ihnen unabhängig nicht erklären." Dem Staatssekretär hätte man natürlich erklären müssen, dass es keine jüdische Weltverschwörung gibt, dass Juden nicht einer Zentrale, die über der ganzen Welt herrscht, gehorchen. Es gibt durchaus Juden oder jüdische Organisationen, die sich nicht um andere jüdische Organisationen kümmern, sondern nur um ihre eigenen Interessen.

Gál kritisierte auch die Ausstellung des Budapester Holocaust-Gedenkmuseums, besonders empörte ihn:

 „Wenn man auf einem Foto Reichsverweser Miklós Horthy sieht, wie er mit der ungarischen Armee in die von Ungarn besiedelten Regionen zurückkehrt, und daneben die Märsche der in den Tod getriebenen Menschen, dann ist das eine Verzerrung historischer Tatsachen, die unnötige Spannungen erzeugt."

Gál begreift nicht, dass es anachronistisch ist, im Jahr 2011 die faschistischen Schiedssprüche positiv zu bewerten. Doch gerade darum geht es ihm.

Im Rahmen der „Wiener Schiedssprüche" wurden durch die Entscheidungen des deutschen und italienischen Aussenministers - Ribbentrop und Ciano - grossteils von Ungarn besiedelte Gebiete, die im Frieden von Trianon (4.6.1920) der Tschechoslowakei bzw. Rumänien zugesprochen worden waren, wieder Ungarn angegliedert. Durch den 1. Schiedsspruch vom 2. November 1938 erhielt Ungarn die Südslowakei und annektierte nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939 die Karpato-Ukraine. Der 2. Schiedsspruch vom 30. August 1940 sprach Ungarn Nordsiebenbürgen zu. Dazu kam noch der im April 1941 nach einem ungarischen Angriff auf Jugoslawien annektierte jugoslawische Landesteil Vojvodina, in dem die ungarische Soldateska im Januar 1942 ein schreckliches Pogrom veranstaltete, dem 3.309 Menschen zum Opfer fielen, davon über 1.000 Juden.

Gál ging es offensichtlich darum, die Verantwortung des Horthy-Regimes zu minimieren. Doch all diese Gebiete erhielt Ungarn auf Betreiben Hitlers, und die Juden wurden als Ergebnis in diesen Gebieten diskriminiert, weil die in Ungarn mit Zustimmung der Kirchen beschlossenen, Juden diskriminierenden Gesetze auch dort angewendet wurden. Die dortige Judenverfolgung, wie auch jene in Kern-Ungarn, wäre ohne Mithilfe des Horthy-Regimes undenkbar gewesen.
Gál behauptet auch, dass nach der Besatzung „eine von den deutschen Truppen ernannte Marionettenregierung die Macht übernahm". Nun wurde die vom ehemaligen ungarischen Botschafter in Berlin Döme Sztójay geführte  Regierung am 22. März 1944 von Horthy und nicht den Deutschen ernannt. Horthy verweigerte seine Zustimmung zur Ernennung von drei rechtsextremen Politikern, die ihm Edmund Veesenmayer vorschlug. Horthy hatte zwar eine beschränkte Macht nach der deutschen Besetzung, aber er zeigte sich ziemlich häufig in der Öffentlichkeit, er nahm an Manövern teil, und am 23. Juni 1944 zeichnete er Sztójay - offensichtlich für seine Rolle bei der Deportation der Juden - mit dem Titel „vitéz" aus.

200.000 Ungarn, darunter 20.000 Gendarmen, mehrere tausend Polizisten, Ärzte, Eisenbahner und Soldaten, „arbeiteten" Tag und Nacht, um die Juden binnen kürzester Zeit in Ghettos zu konzentrieren und sie später in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zu verschicken.

Gál zitiert den Schriftsteller Sándor Márai, der tatsächlich über die Freude vieler Ungarn schrieb, als die Gebiete wieder an Ungarn angeschlossen wurden. Doch Márai vermerkt in seinem Tagebuch im Mai 1944: „Man kann mit den Menschen nicht reden. So wie man mit Besoffenen oder Geistesgestörten nicht diskutieren kann: Die ungarische Mittelklasse ist verrückt und besoffen geworden von der Judenfrage. Die Russen sind schon bei Körösmezö, die Engländer und Amerikaner über Budapest, und diese verrückte und tobsüchtige Gesellschaft, will nicht, kann nicht über etwas anderes reden, nur über die Juden."

Der Staatssekretär spricht von "unnötigen Spannungen". An wen denkt er da? Gál möchte suggerieren, dass es nur Privatpersonen waren, die über eine halbe Million als Juden kategorisierte ungarische Staatsbürger deportiert haben. Doch dafür tragen nicht irgendwelche Privatpersonen die Verantwortung, sondern der damalige ungarische Staat, dessen offizielle Organe und dessen Administration. Doch der von der Regierung Orbán postulierten Grösse und dem Stolz der Ungarn würde es nicht gut tun, wenn die Ungarn auch an ihre Schande denken würden.

Wessen Ruhe soll also gewährleistet werden? Die Ruhe derjenigen, die wieder einmal Ungarn in ein revisionistisches Abenteuer stürzen möchten, die Ruhe derjenigen, die den europäischen Konsens, dass Grenzen nicht geändert werden, beiseite schieben möchten.

Diese Spannung gibt es hauptsächlich bei Rechtsextremisten, und anscheinend ist die ungarische Regierung sehr bemüht, mögliche spätere Bündnispartner nicht zu verärgern.

Heuer sind in Ungarn politische Kampagnen gegen Intellektuelle und zur Umschreibung der Geschichte zu bemerken. Dazu gehört auch das Umbenennen von Strassen und Plätzen, beispielsweise des Budapester Roosevelt Platzes.

In den USA leben 1,4 Millionen Bürger ungarischer Abstammung, und es gibt fast keine amerikanisch-ungarische Familie, in der nicht irgendein Verwandter im Zweiten Weltkrieg gegen die Achsenmächte gekämpft hätte. 1941 versicherte der Verband amerikanischer Ungarn Präsident Roosevelt seiner Treue, zu einer Zeit, als Ungarn den USA den Krieg erklärt hatte. Trotzdem hat die Roosevelt-Administration die Ungarn human behandelt. Während die italienischen, deutschen und hauptsächlich japanischen Amerikaner zu Hunderttausenden in Anhaltelager verschickt wurden, wurde kein einziger amerikanischer Ungar interniert.

Roosevelt wird heute in Amerika verehrt. In Paris hat man eine Metrostation und einen Boulevard nach ihm benannt, eine Statue erinnert an ihn in London, und hier können nicht die hunderten Städte - darunter auch Wien - genannt werden, die Strassen oder Plätze nach Roosevelt nennen. Ausgerechnet in Ungarn hat man diese Platz-Benennung geändert. Weder der ungarische Botschafter in Washington noch Ungarns Präsident haben dazu etwas zu bemerken gehabt, obwohl ihre Enkel als Bürger der USA dort leben.

Jedoch tragen gleich zwei Plätze seit Mitte Mai 2011 den Namen des antisemitischen Blut- und Boden-Schriftstellers Albert Wass. Für die Rechtsextremen ist er ein Nationaldichter, und erst unlängst hat das Staatsfernsehen ihm einen ganzen Fernseh-Abend gewidmet. Der Verband der jüdischen Gemeinden Ungarns und die Budapester jüdische Gemeinde haben dagegen protestiert. Sie halten es

„für einen historischen Fehler, dass sich István Tarlós, der Oberbürgermeister von Budapest, den Vorschlag der offen nationalsozialistische Ansichten vertretenden Partei Jobbik zu eigen machte und die Mehrheit des Budapester Gemeinderates diesem Vorschlag  zustimmte und öffentliche Flächen nach Albert Wass benannt hat.

Dieser Beschluss ist eine Ohrfeige für diejenigen Budapester Bürger, die am Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr als ein Fünftel der Bevölkerung ausmachten und sehr viel dafür taten, damit diese Stadt eine der schönsten und modernsten Grossstädte Europas wurde. [...]

Es bedeutet eine Schändung des Andenkens der zehntausenden Juden, die in Budapest ermordet wurden, wenn man einen Platz nach einem Menschen benennt, der bis an sein Lebensende seine antijüdischen Ansichten äusserte und sein ganzes Leben stolz war auf seinen offenen Antisemitismus ..."

Githu Muigai, der Rassismus-Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, besuchte vom 23. bis zum 27. Mai Ungarn. Er bemerkte u. a.: „Sofortige Aktion ist notwendig, um den Antisemitismus in Ungarn anzugreifen. Die Regierung sollte wachsam sein und die notwendigen Mechanismen, um diesen zu bewältigen, sollten eingerichtet werden."

 „Ungarn ist eine junge und dynamische Demokratie", sagte der Sonderberichterstatter und forderte „die besondere Wachsamkeit der Regierung gegenüber dem Wiederaufleben extremistischer politischer Parteien, Bewegungen und Gruppen." Muigai hat auch die Aufmerksamkeit der Regierung auf Hetzreden gerichtet. „Es ist wichtig, ein solches Benehmen zu unterbinden und sicherzustellen, dass die Verantwortlichen für rassistische Aktionen verantwortlich gemacht und die Opfer mit den geeigneten rechtlichen Entschädigungen versehen werden."

Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen hat trotz seines verhältnismässig kurzen Aufenthalts in Ungarn bemerkt, wie man dort versucht das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Viktor Orbán und seine Regierung signalisieren ganz offen, dass sie am liebsten dort weitermachen würden, wo Horthy aufgehört hat. Da Ungarn am 1. Juli 2011 die EU-Präsidentschaft abgibt, ist zu befürchten, dass sich die Lage noch verschlechtern wird, wenn die Medien nicht mehr so aufmerksam verfolgen, was in unserem Nachbarland geschieht.

1) http://hungarianvoice.wordpress.com/2011/04/15/krisztian-ungvary-praambel-enthalt-verfalschte-darstellung-der-ereignisse-von-1944/