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Das jüdische Worms – (noch) nicht wieder auferstanden

Miriam MAGALL

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In Worms, diesem im Mittelalter bedeutenden Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit, gibt es schon seit 1034 eine Synagoge. Im Laufe ihrer Existenz hat sie eine ganze Reihe von Um- und Anbauten erfahren. Die Synagoge von 1174/75 ersetzte die 1034 erbaute und besass allem Anschein nach rundbogige romanische Fenster. Die sogenannte „Frauenschul", der Betsaal für Frauen, die laut einer Inschrift 1212/13 dazukam, wies Zeichen des Übergangs zu gotischen Formen auf: Die Fenster im Osten besassen romanische Bögen, jene im Westen gotische. Zwei Säulen teilten und teilen den Synagogenraum in der Mittelachse in zwei gleich lange Schiffe mit insgesamt sechs Kreuzgratgewölben. Der Thora-Schrank steht in einer nach aussen vorspringenden Nische. Dass diese Ädikula eher barock wirkt, verdankt sie der Tatsache, dass der Wiederaufbau auf die Zeit um 1700 zurückgeht, als die 1699 aus Worms geflüchteten Juden wieder in die Stadt zurückkehren dürfen.

 

Gemäss aschkenasischem Brauch stand die Bima in der Mitte des Betsaals zwischen den beiden Säulen. Auf einen kaiserlichen Erlass hin wurde die ganze Anlage 1616 umfassend restauriert; 1620 erneuerte man auch die Bima, eine grosszügige Stiftung von David Oppenheim. Zu diesem Zeitpunkt erhielt sie die Gestalt, wie sie uns dank eines Aquarells von Heinrich Hoffmann aus dem Jahr 1840, also noch vor dem Umbau der Männersynagoge 1842 entstanden, überliefert wurde. Es zeigt die Bima als einen Kubus mit einer Seitenlänge von drei Metern, der ebenso hoch ist und ähnlich aussieht wie derjenige, den man für die Synagoge in Speyer rekonstruiert hat. Während eines umfangreichen Umbaus der Synagoge in den Jahren 1841 und 1842 wurde diese aufwändige Bima entfernt, und seither dient, auch in der heutigen, rekonstruierten Synagoge, lediglich ein einfaches Pult zwischen den beiden Säulen auf einem um eine Stufe erhöhten Podest als Bima. Bei dieser Gelegenheit, also 1841/42, hat man auch eine Öffnung für eine Tür zwischen Frauenschul und Männersynagoge in die Wand gebrochen. Ansonsten behielt die Synagoge ihre barocke Innenausstattung bei.

1186 konnte aufgrund der grosszügigen Spende eines Privatmanns namens Joseph an der südwestlichen Ecke der Männersynagoge eine unterirdische Mikve, ein Ritualbad, eingerichtet werden. 1624 wurde dann dank einer weiteren grosszügigen Spende, diesmal von David ben Josua Joseph Oppenheim, an der Westwand der Männersynagoge die sogenannte Raschi Jeschiwa angebaut. Dieser einschiffige, mit einer Apsis abschliessende zweijochige Bau ersetzte einen grösseren Hörsaal, der sich bis 1615 im Erdgeschoss der Jeschiwa südlich hinter der Männersynagoge befunden hatte. In jenem Saal, nicht in der Raschi Jeschiwa, studierte und lehrte der Raschi. Dabei soll er auf dem sogenannten Raschi-Stuhl gesessen haben, wie die Legende berichtet. Allerdings dürfte dieser Stuhl aufgrund seiner Ornamentik nicht älter sein als der ganze neue Anbau selbst, das heisst, auch er stammt vermutlich aus dem Jahr 1624.

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Historische Abbildung aus dem 19. Jahrhundert, Innenraum der Synagoge Worms mit Blick auf die Bima. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung M. Magall, Rechteinhaber nicht bekannt.

Jüdische Opfer der Kreuzzüge

Die Zeit, in der Raschi in Worms studierte und anschliessend lehrte, darf als eine relativ friedliche Periode für die Juden in Aschkenas gelten. Nie hätte er es sich in seinen wildesten Träumen vorstellen können, welches Leid noch zu seinen Lebzeiten über die jüdische Gemeinde zu Worms hereinbrechen sollte. Fanatisierte Teilnehmer des Ersten Kreuzzugs (1096) stellten die Wormser Juden vor die Wahl, sich entweder zu bekehren oder getötet zu werden. Am 18. Mai 1096 wurden 800 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet oder in den Tod getrieben. Selbstredend erlitt auch die erste Wormser Synagoge schwerste Beschädigungen. Der Zweite Kreuzzug (1146) ging ebenfalls nicht ohne Schaden an Leib und Leben für die Wormser Juden vorbei. Über 25 Jahre lang behalf man sich, nachdem das Leben in Worms für Juden wieder sicherer geworden war, mit notdürftig eingerichteten Beträumen. Das Entstehungsdatum des Neubaus - im Jahr 4035 nach dem hebräischen Kalender, nach der allgemeinen Zeitrechnung 1175 - kann anhand des Zahlenwerts der Buchstaben einer hebräischen Inschrift (einem Zitat aus 1. Kön. 7,40-49 entnommen) errechnet werden, die in das Kapitell einer Säule gemeisselt ist.

Nicht sehr viel besser erging es den Juden in Worms im Pestjahr 1348/49. Aufgebrachte Menschenmengen stürmten das jüdische Viertel, nachdem die Verleumdung verbreitet worden war, die Juden hätten die Brunnen vergiftet. Die Memorbücher verzeichnen die Namen von fast 600 ermordeten jüdischen Bewohnern der Stadt Worms. Die Häuser der Juden und die Synagoge werden angezündet. Die Gewölbe von Männersynagoge und Frauenschul stürzen ein, ebenso wie grosse Teile der Umfassungsmauern. Erst 1355 kehren die vertriebenen Juden wieder in die Stadt zurück. Wenig später beginnt der Wiederaufbau im gotischen Stil.

Anfang des 17. Jahrhunderts bricht erneut ein Pogrom gegen die Wormser Juden aus. Handwerker greifen sie an und vertreiben sie am 21. April 1615 ein weiteres Mal aus der Stadt. Wieder werden Männersynagoge und Frauenschul zerstört, verschwindet die Einrichtung anscheinend für immer. Ein Jahr später kehren die Juden jedoch nach und nach in ihre Heimatstadt zurück. Aber die verarmte Gemeinde ist nicht dazu in der Lage, den Synagogenkomplex wieder aufzubauen. Es ist einzig grosszügigen Spenden zu verdanken, dass die Männersynagoge schon im August 1620 wieder ein Dach hat, dem schliesst sich die Erneuerung der Frauenschul an.

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Aussenansicht. Foto: mit freundlicher Genehmigung M. Magall.

Zerstörung 1938 und getreue Rekonstruktion nach 1945

Zusammen mit der ganzen Stadt müssen die Juden und mit ihnen ihre Synagoge im Jahr 1689 eine weitere Zerstörung, diesmal durch die Franzosen, über sich ergehen lassen. Alle Dachstühle ausser dem der Vorhalle brennen ab, die Gewölbe der Frauenschul stürzen ein. Einquartierte Soldaten lassen wertvolle Stücke der Inneneinrichtung mitgehen, die Männersynagoge dient als Pferdestall. Erst zehn Jahre später wird den geflüchteten Juden die Rückkehr gestattet und sie dürfen sich an den Wiederaufbau ihrer Häuser sowie ihrer Synagoge begeben. Um 1700 erhält die Frauenschul neue Gewölbe, der neue Thora-Schrank in der Männersynagoge übernimmt die Struktur seines Vorgängers, wird aber eher barock im Aussehen.

Die Gestalt dieser renovierten Synagoge bleibt, nebst den oben beschriebenen Nebengebäuden, bis zum Jahr 1938 praktisch unverändert. Dann jedoch wird der gesamte Komplex in der Reichspogromnacht 1938 niedergebrannt, ihre Reste 1942 gesprengt. Ein grosser Teil der wertvollen Gerätschaften, Inschriften und Architekturteile, die die Zerstörungen überstanden haben, werden dank des Muts und der Umsicht des damaligen Stadtarchivars aus dem Schutt geborgen. Schon 1949 kann das Portal des Männerbaus errichtet werden. 1957 beginnt die Enttrümmerung des Synagogenbezirks, 1958 die Wiederherstellung der Raschi Jeschiwa. Der Wiederaufbau des Synagogenkomplexes wird von der Bundesregierung, dem Land Rheinland-Pfalz und der Stadt Worms gemeinsam finanziert. Die Grundsteinlegung erfolgt am 27. September 1959, die Neueinweihung am 3. Dezember 1961, am ersten Chanukka-Tag des jüdischen Jahres 5722. Die Synagoge von Worms ist demnach so, wie man sie heute sieht, eine treue Rekonstruktion der alten Synagoge, für die Innenausstattung werden zum Teil die alten barocken Elemente von der letzten Restaurierung von 1841/42, für die Frauenschul die spätromanische Säule mit dem Würfelkapitell von 1620 wiederverwendet.

Ein Gedenklicht, am Gewände der westlichen Öffnung zwischen Männer- und Frauensynagoge angebracht, erinnert an die im Dritten Reich ermordeten jüdischen Bürger von Worms. Im rechten Gewände des östlichen Durchgangs ist ein Stein aus Israel eingemauert: Er soll an die Verbindung der Juden in der Diaspora mit dem Verheissenen Land erinnern. Der Raschi wäre mit diesem Neubau wohl zufrieden gewesen.

Allerdings existiert nach 1945 keine eigenständige jüdische Gemeinde mehr in Worms. Die Juden, die sich seither in der Stadt niedergelassen haben, werden - vorläufig noch - von der jüdischen Gemeinde zu Mainz betreut.