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Wer waren sie? Familienrekonstruktion durch Genealogieprogramme

Karl A. KUBINZKY

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So wie ein sachkundiges Team zerstörte Synagogen wenigstens optisch rekonstruierten kann, so drängt sich oft der Wunsch auf, Familienspuren aufzufinden. Die Daten, die Internetprogramme seit einigen Jahren bieten, haben nun der Familienforschung neue Möglichkeiten eröffnet. Damit hat sich ein Trend entwickelt, der in Vereinen, Arbeitsgemeinschaften, Zeitschriften und eben im Angebot von kommerziellen und nicht kommerziellen PC-Programmen seine Darstellung findet.

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Rekonstruierter Stammbaum. Abbildung: Mit freundlicher Genehmigung K. Kubinzky.

Familienforschung in Form von Stammbäumen trägt natürlich die Last der Geschichte. Zu unselig war die NS-Rassenpolitik mit ihrem Ahnenpass („Ariernachweis"), und zu schrecklich waren in vielen Fällen die Folgen vom Unvermögen, im Sinne der Nürnberger Rassengesetze genug „arische" Vorfahren vorweisen zu können. Der Versuch von staatlichen und kirchlichen Einrichtungen, die benötigten Urkunden beibringen zu können, war häufig eine Entscheidung zwischen Leben und Tod. Dass damit auch wertvolles Material über die Vorfahren gesammelt wurde, war durch die fatalen bis letalen Folgen der unter Zwang gesammelten Daten überdeckt. Dass in diesem Überlebenskampf auch verfälschte Inhalte eingesetzt wurden, war eine Konsequenz der dramatischen Umstände. So sei an dieser Stelle allen jenen Personen, insbesondere in Standesämtern und Pfarren gedankt, die zum Schutz derjenigen, die aufs Äusserste besorgt sein mussten, durch Urkundenfälschungen und Zeugenaussagen, versuchten, Leben und Existenz der Anfragenden zu retten. So konnte beispielsweise ein absichtliches Verschreiben von einem eher typisch jüdischen Namen Stern in ein neutrales Sturn den Verdacht, hier Opfer ausfindig machen zu können, entschärfen. Das falsche Beurkunden im Zusammenhang mit dem Ahnenpass und das Vortäuschen einer anderen, als die richtige Abkunft, war im Sinne der damaligen Gesetzgebung ein schwer zu bestrafendes Verbrechen. Dementsprechend hoch war für die Beteiligten einer Verfälschung das Risiko.

Es ist verständlich, dass nach dem Ende des nationalsozialistischen Systems das Interesse an Familienforschung gering war. Auch dort, wo es nicht um jüdisch oder nichtjüdisch ging, war mit dem Ende des Deutschen Reiches Hitlers in vielen Fällen die Bereitschaft, sich weiter mit der Familiengeschichte im Sinne einer Stammbaumforschung zu beschäftigen, gering. Als nun unnütz und mit negativen Emotionen belastet, wurden viele „Ariernachweise"-Ahnenpässe vernichtet. Auch in der Erkenntnis, dass nun alle gleich seien und Unterschiede durch Familiengeschichte diese Gleichheitsidee stören, verdrängten die Spuren der eigenen Familie. Man wollte nichts zurückverfolgen. Nun sind 70 Jahre vergangen, und Familienforschung kann nun hoffentlich unbelastet betrieben werden. Aber diese Aussage muss sofort abgeschwächt werden. Dies in jenen Fällen, in denen durch biographische Aussagen tragische Umstände aktualisiert und Emotionen und Betroffenheit verursacht werden. So sind Todesfälle in den dafür kritischen Jahren zwischen 1938 und 1945 viel zu oft mit der Erinnerung an Mord verbunden. Schicksale, die mit Tod und Vertreibung im Zusammenhang stehen, werden wieder bewusst. Aber dies kann auch positiv gesehen werden. Jene Personen haben sich das Recht verdient, dass man ihr Leben, soweit dies überhaupt möglich ist, rekonstruiert und dokumentiert. Das Auslöschen der Erinnerung, die Römer kannten dafür den Begriff der „damnatio memoriae", hätte jenen Recht gegeben, die den Tod jener Personen mit dem Ende der Erinnerung an sie verbunden haben wollten.

Soweit es dafür auf Grund fehlender Familienmitglieder und verschwundener Dokumente es ohnedies nicht schon zu spät ist, ist es nun eine Aufgabe der gegenwärtig aktiven Generationen, sich mit der Familiengeschichte und so auch mit dem Umfeld des Familienstammbaumes auseinander zu setzen. Hier kommen wiederum die anfangs erwähnten Serviceprogramme der Genealogie-Serviceleister zu Wort. Wie nicht anders zu erwarten war, gibt es viele - zu viele? - Programme und Forschungseinrichtungen zur Familienrekonstruktion. Regionale Schwerpunkte, religiöse Spezialisierung, unterschiedliche inhaltliche Tiefe und Datenfülle und die Frage, ob es etwas kosten darf oder nicht, unterscheiden die Forscher in eigener Familiensache. Meine Erfahrungen beziehen sich auf die Programme MyHeritage und geni. Beide sind leicht über das Internet zu erreichen und sind besonders für Personen, die Vorfahren jüdischen Glaubens haben, geeignet.  

Wie soll man nun vorgehen und was kann man erwarten? Voraussetzung ist, dass es möglichst viele Daten über Vorfahren und Verwandte gibt. Der Begriff der Verwandtschaft schliesst in der Alltagssprache auch jenen der Verschwägerung mit ein. Dies für Personen, die nur durch Heirat oder Partnerschaft mit der Hauptperson in Verbindung zu bringen ist. So gehören unmittelbare Vorfahren und deren Verwandte zum Personenkreis der Verwandtschaft. Der Partner und dessen Familie im weiteren Sinn sind die „Verschwägerten". Da manche Familien durch viele Generationen zurück zu verfolgen sind und allein schon durch die früher übliche grosse Zahl an Kindern die Familie weit gestreut ist, ist unter Einschluss der angeheirateten Verschwägerten, der weitere Familienkreis sehr gross. Sieben Generationen zurück ist allein die Zahl der unmittelbaren Vorfahren mit 128 Personen schon recht gross. Rechnet man die Partner und wiederum deren Familienmitglieder samt deren Partner u. s. w. dazu, dann ergibt sich nach wenigen Generationen eine sehr grosse Zahl von Verwandten und Verschwägerten. Hier ist also z. B. auch der Onkel der Tante der Schwägerin gemeint. Computerprogramme ordnen nun alle die Personen, die ihnen mitgeteilt werden, graphisch in eine ansprechbare und ausdruckbare Form. Ein weiterer wichtiger Vorteil der Programme ist der Datenvergleich. Wenn andere Teilnehmer des Programms dieselbe Person eingeben, dann erhält man eine Verständigung. Man kann dann die Personendaten, meist ist es nur Name, Vorname, Geburts- und Todesjahr mit den eigenen vergleichen, und, so man dazu gewillt ist, mit dem Nenner dieser Daten Kontakt aufnehmen. Aus eigener Erfahrung kann ich schreiben, dass auf diese Weise oft eine grosse Zahl naher und entfernter Verwandter und Verschwägerter gefunden werden kann. Dies auch unter Berücksichtigung der Emigration und sehr entfernter Verschwägerung. Wie weit sich daraus irgendwelche Konsequenzen ableiten lassen, ist Sache des Bearbeiters. Voraussetzung ist, dass am Anfang möglichst viele Personen und deren Daten ins Programm eingegeben werden.

Wenn der Grundstammbaum mit allen seinen Verzweigungen so gut wie es möglich ist, in der Datensammlung des Genealogieprogramms enthalten ist, dann ergibt sich eine weitere Möglichkeit der Nutzung. Man kann als angemeldetes Mitglied eines solchen Programmes abfragen, ob es irgendeine, und sei sie noch so fern, Verbindung mit anderen Personen und Familien gibt. Voraussetzung ist wieder, dass das Programm auch möglichst viele Daten anderer Familien enthält. Hat man die Möglichkeit durch prominente Namen und Personen auch nur den geringsten Zugang zu den kleinen Eliten der Vergangenheit, so ergeben sich ungeahnte Ausweitungen im Sinne der vorhin erwähnten kleinen Eliten. Nur so ist es zu erklären, dass man - oh Überraschung - mit vielen Interessanten und Prominenten der Vergangenheit irgendwie in Verbindung steht. Das tröstet zwar nicht über den Tod von Verwandten, bringt aber wenigstens einen quasi spielerischen Gewinn. Wer schmückt sich nicht gerne mit berühmten Verschwägerten, auch wenn diese Verbindung nur sehr weit hergeholt ist? Insgesamt sehe ich die Rekonstruktion und Dokumentation der Familiengeschichte als Pflicht und Gewinn.