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Die Palais Ephrussi und Gallia an der Wiener Ringstrasse wurden von jüdischen Familien erbaut. In der NS-Zeit wurden die Nachkommen der Bauherren vertrieben und beraubt. Die Erinnerungen ihrer Erben sind erst während der letzten Jahre in Buchform erschienen und stiessen weltweit auf grosses Interesse.
Victor de Waal bei der Präsentation des Romans seiner Mutter im Palais Ephrussi, Februar 2014. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
Joachim Ephrussi (1793 - 1864), der Patriarch der Dynastie, kam als Grosshändler für Getreide Anfang des 19. Jahrhunderts aus Odessa nach Wien. Seine Söhne teilten sich in zwei Stämme, der eine in Paris, der andere in Wien. Die Enkel, der berühmte Kunstkritiker und Mäzen Charles Ephrussi (1849 - 1905), seine Brüder Ignaz (1848 - 1908) und Jules (1846 - 1915) wurden in der Belle Époque Teil der Pariser Oberschicht, bevor in Frankreich der Antisemitismus im Gefolge der Affaire Dreyfus aufflammte und die Erfolgsgeschichte der Familie dort abrupt beendete.
Der Onkel der drei Pariser, Ignaz von Ephrussi (1829 - 1899) in Wien, liess 1872-73 vom Stararchitekten Theophil Hansen das Palais an der Ringstrasse errichten, in dem auch noch seine Kinder wohnten. 1938 wurden sie und die Enkelkinder von dort vertrieben. Haus, Einrichtung, Kunstsammlung, Bibliothek wurden geraubt. Einziges Erinnerungsstück der Familie Ephrussi blieb eine Sammlung ostasiatischer Nippes-Figuren, Netsuke, gerettet von der mutigen Hausangestellten Anna. Die Figur des Hasen mit den Bernsteinaugen gab der weltberühmt gewordenen Suche nach der verlorenen Familie, die Ignaz Ururenkel Edmund de Waal 2010 als Chronik veröffentlichte, ihren Namen. „I restituted my family to this house", sagte der Autor bei seiner Buchpräsentation im Palais Ephrussi 2011.
Edmunds Grossmutter Elisabeth de Waal (1899 - 1991), die älteste Tochter von Viktor Ephrussi (1860 - 1945) und Emmy geborener Schey von Koromla (1879 - 1938), hatte 1924 als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität in Jus promoviert und verliess die Stadt, um später mit ihren Kindern hin und wieder Besuche bei Viktor und Emmy zu machen. 1938 kam sie, um ihren Eltern zu helfen. Den Vater konnte sie 1939 nach England retten. Nach Kriegsende kam sie nochmals. Zehn Jahre lang kämpfte sie für die Rückgabe der ihnen geraubten Werte. Ihre bitteren Erfahrungen verarbeitete sie, die geborene Schriftstellerin, in literarischen Werken: zwei Bücher entstanden in deutscher Sprache, zwei in englischer und eines auf Französisch. Nach Elisabeths Tod lasen ihre Nachkommen erstmals die Manuskripte und entschieden sich, diese zu veröffentlichen: The Exiles Return wurde unter dem Titel Donnerstags bei Kanakis 2014 auch in deutscher Sprache verlegt. Den Blick an der anwaltlichen Gerichtspraxis geschult, seziert die Autorin in diesem faszinierenden Zeitdokument die österreichische Nachkriegsgesellschaft mit unnachahmlicher Präzision.
Tim Bonyhady vor dem Ringstrassenpalais seines Urgrossonkels Adolf Gallia, das noch immer dessen Initialen trägt: A.G. Foto: T. Walzer 2013, mit freundlicher Genehmigung.
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen. Zsolnay Verlag Wien 2011.
Elisabeth de Waal: Donnerstags bei Kanakis. Zsolnay Verlag Wien 2014.
Glühstrumpf und Secession: Gallia
Die Brüder Adolf und Moriz Gallia kamen aus dem südmährischen Bisenz (heute Bzenec, Tschechische Republik) nach Wien und arbeiteten für den österreichischen Erfinder Carl Auer von Welsbach in dessen Gasglühlicht- und Elektrizitäts-Aktiengesellschaft: Adolf als Anwalt, Moriz als Direktor. Adolf (1852 - 1925) liess sich 1903 vom jüdischen Architekten Jakob Gartner ein Ringstrassenpalais errichten, das Eckgebäude Stubenring 24 - Dr. Karl Lueger-Platz 6 (heute: Café Prückel). Sein Bruder Moriz (1858 - 1918) lebte in der Wohllebengasse in bester Gesellschaft - in unmittelbarer Nachbarschaft residierten die Schwarzenberg, Rothschild, Wittgenstein, Redlich, Wolff-Knize, Kraus. Die herrschaftliche Wohnung liess er sich von Josef Hoffmann ausstatten, seine Gemahlin Hermine geborene Hamburger (1870 - 1936) vom Star-Porträtisten Gustav Klimt in Öl verewigen. Moriz und seine Frau gehörten zu den ersten Förderern der Secession.
Moriz und Hermines Töchtern Käthe (1899 - 1976), Gretl (1896 - 1975) und der Enkeltochter Annelore (1922 - 2003) gelang es, sofort nach der Pogromnacht des Novembers 1938, mitten im grössten Tumult, aus Wien zu fliehen. Sowohl das Klimt-Portrait als auch ein Grossteil der Hoffmannschen Einrichtung konnten sie wundersamer Weise ins Exil hinüber retten. In einem Wohnblock eines Vorortes von Sidney wurden die kostbaren Stücke wieder aufgestellt, das Gesamtkunstwerk aus Wiener Werkstätte und Secession seltsam entrückt in eine kleine Wohnung hineingequetscht. Hier besuchte Tim, Annes Sohn, seine Grossmutter und deren Schwester. Die Erwachsenen beschrieben die Wohnung als klaustrophob, ihm blieb ihre Aura der Vertrautheit in Erinnerung. Gesprochen haben die Schwestern über die traumatischen Fluchterfahrungen nicht. Erst nach dem Tod der Mutter 2003 tauchte Tim Bonyhady, der australische Umweltanwalt, in die Wiener Vergangenheit seiner Vorfahren ein, und erschloss sich eine ihm bis dorthin völlig unbekannt gebliebene Welt. Um dem Leben seiner Mutter jenen Wert zu geben, den sie ihm selbst nicht zugeschrieben hatte, verfasste er seine Geschichte der Familie Gallia.
Befragt zur Entwicklung seiner Identität und den Einfluss des Schreibens darauf, sagt Tim Bonyhady:
„In unserer Familie war es ganz typisch, damit zu kämpfen, was man war. Moriz und Hermine sind
konvertiert. Gretl freute sich als Kind, katholisch zu werden, heiratete aber Paul Herschmann, einen Juden aus der Leopoldstadt. Anne mochte Juden nie, heiratete aber einen Juden aus einer Grazer gläubigen Familie, meinen Vater Eric Bonyhady. Meine Mutter wollte für mich die Taufe, mein Vater nicht. Ich beschäftigte mich beruflich mit der aus-tralischen Landschaft. Alles, was ich viele Jahre tat, drehte sich um Australien. Nun wollte ich etwas ganz anderes tun, aus dieser Welt heraustreten, in jene andere Welt hinein. Das Buch habe ich geschrieben, um mich selbst zu verändern. Ich wollte mehr über meine Familie wissen, und mehr darüber, wer ich eigentlich bin. Als ich meine Mutter dazu brachte, ihre Familiengeschichte niederzuschreiben, war es immer noch ihre Geschichte, und nicht meine. Ich wollte meine eigene Geschichte schreiben. Auch wollte ich mehr über mein Jüdischsein erkunden. Das Buch brachte mich aus Australien heraus und hierher zurück, nach Wien. Schliesslich bin ich ein Produkt all dieser anderen Generationen, und dessen, was sie waren, trotz all meines Australischseins. Adolf Gallias Initialen am Gebäude des Café Prückel haben überlebt.1998 war ich zum ersten Mal dort, da fiel mir das auf: ein Zeichen der Familie in der Stadt (in der Wohllebengasse gibt es das nicht). Vielleicht ist es ein Produkt von Machtwille und Hochmut, aber dennoch. Es ist wichtig für mich. Nicht an der Seite zum Stubenring sind die Initialen angebracht, sondern an der Rückseite. Für mich ist das als Symbol sehr stark."
Tim Bonyhady: Wohllebengasse. Die Geschichte meiner Wiener Familie. Zsolnay Verlag Wien 2013.