„Golems“ scheinen in unserer Gesellschaft allgegenwärtig - vom Computer bis hin zu Robotern und anderen künstlichen Intelligenzen aller Art. Der „klassische jüdische Golem“ wird üblicherweise mit Prag und Rabbi Jehuda Löw (genannt Maharal, ca. 1521-1609) identifiziert. Das Grab des berühmten Rabbiners ist auch heute noch ein Magnet für Touristen, die sich ehrfürchtig vor dem hohen Grabstein des „kabbalistischen Golemschöpfers“ ein paar Sekunden gruseln – schließlich drängeln die anderen Besucher nach…
Die Legende um Löw und seinem Golem ist trotz zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen fest verankert. Von Beate Rosenfelds früher Untersuchung „Die Golemsage und ihre Verwertung in der deutschen Literatur“ (Breslau 1934) über Gershom Scholems bahnbrechende Studie von 1957 „Die Vorstellung vom Golem…“ (in: Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1973, S.209-261) bis zu Moshe Idels „Golem“ (New York 1990) wurde erschöpfend nachgewiesen, dass es keinerlei Hinweise auf eine Golem-Erschaffung durch Rabbi Löw gibt. In den umfangreichen Schriften Löws finden sich keine Elemente der praktischen Kabbala, auch wenn Löw, so Ben Zion Bokser (From the World of the Cabbalah, the Philosophy of Rabbi Judah Loew, New York 1954), den theoretischen Gedankengebäuden der jüdischen Mystik offen zugetan war, was für das 16. Jahrhundert ohnehin nicht ungewöhnlich ist.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden wohl die ersten Legenden um den Rabbi Löw, die aber von keiner Golemerschaffung erzählen. Der Grund für diese Legenden liegt möglicherweise darin, dass er in der „magischen Periode“ des Rudolf II. in Prag lebte und sogar am 16. Februar 1592 eine Audienz beim Kaiser hatte. Diese Audienz wird auch vom Chronisten David Gans (1541-1613) bestätigt:
„Er (der Kaiser) sprach mit ihm von Angesicht zu Angesicht, wie zu einem Freund. Die Art und Weise ihrer Worte waren geheimnisvoll, verschlossen und verborgen. Dies geschah hier in der heiligen Gemeinde zu Prag, am Sonntag, dem 3. Adar (5)352.“ (David Gans, Zemach David, Prag 1592, Neudruck Jerusalem 1983, S.145)
Es ist nicht anzunehmen, dass Löw den Kaiser in die kabbalistische Praxis einführte – wahrscheinlich erörterten sie allgemeine Probleme der jüdischen Gemeinde. Aber die Legenden, wie sie später in den „Sippurim“ – Heften des Wolf Pascheles erzählt werden, berichten dagegen darüber, wie Löw mit einer Art „camera obscura“ die Patriarchen vor den staunenden Augen Rudolfs erscheinen lässt (Geschichten aus dem alten Prag, Sippurim, hrsg. von Peter Demetz, Frankfurt a.M. 1994, S.46). Diese Geschichten machen aus Löw eine Art jüdischen Faust – Faust lässt schließlich auch im Volksbuch von 1587 vor Kaiser Karl V. Alexander den Großen auftauchen.
Bei Meir Perles, Löws erstem Biographen (Megillat Juchassin, 1718, dt. von S. H. Lieben, Jahrbuch der jüdisch – literarischen Gesellschaft 20, Frankfurt a. M. 1929, S.315-36), fehlt von einem Golem jede Spur. Interessanterweise schreibt Noah Chayyim Levin, der Herausgeber einer späteren kommentierten Version der „Megillat Juchassin“ (Warschau 1864):
„Wir sollten nicht länger über die Geschichte des Golem, den Löw erschaffen hatte, überrascht sein und die allgemein bekannt ist.“
1724 wurde Löws Grabstein erneuert. Auch auf ihm gibt es keine Hinweise auf den Golem.
Kein hebräisches Werk dieser Zeit erwähnt eine Golemerschaffung durch Löw. Selbst Yedidia Weil (1721-1805) aus Prag, der eine Liste aller bekannten Golemschöpfungen verfasste, schreibt nichts über Rabbi Löw. R. Salomo Juda Rapoport (1790-1867) hierzu:
„Die Hände des Maharals kreirten keinen Golem. Seine große Weisheit zeigt sich nicht in der Erschaffung eines Golems, sondern dadurch, dass er das Gegenteil machte: d. h. er schuf einen großen Schüler (…), Rabbi Jom Tov Lipmann Heller.“ (Gal Ed, Prag 1856, S.53).
Die ersten schriftlichen Versionen der Prager Golemsage entstanden erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie beruhen auf älteren Vorlagen, so dass Frederic Thieberger (The Great Rabbi Loew of Prague, London 1955) die Entstehung der Golemsage um den Rabbi Löw auf ca. 1730 datiert. Berthold Auerbach erzählte 1837 erstmals die Prager Golemsage in seinem Roman „Spinoza“ nach:
„In meines Vaters Haus ist eine alte Magd, die heißt Chaje, die hat mir einst erklärt, warum man in Prag das Gebet am Freitag, worin Israel eine mystische Ehe mit dem Schabbat schließt, zweimal sagt. Es lebte vor Zeiten daselbst ein großer Kabbalist, der hohe Rabbi Löw genannt, dieser formte sich aus Lehm eine menschliche Gestalt, hinten am kleinen Gehirn ließ er eine Öffnung, in welche er ein Pergament legte, worauf der unausprechliche Name Gottes geschrieben war. Sogleich erhob sich der Kloß und ward ein Mensch; er verrichtete seinem Schöpfer alle Dienste eines Knechts, er holte Wasser, spaltete Holz etc. man kannte ihn in der ganzen Judengasse unter dem Namen der Golem des hohen Rabbi Löw. Jedes Mal am Freitagabend nahm ihm sein Herr das Pergament aus dem Kopfe, dann war er wieder Lehm bis Sonntagmorgens. Einst hatte der Rabbi diese Vorrichtung vergessen. Alles war in der Synagoge, man hatte soeben das schabbatliche Minnelied begonnen, da stürzten Frauen und Kinder in die Versammlung und schrien: Der Golem, der Golem zerstört alles. Sogleich befahl der Rabbi dem Vorsänger, mit dem Schlusse des Gebetes innezuhalten, jetzt sei noch Rettung möglich, später aber könne er nicht wehren, dass die ganze Welt zerstört würde. Er eilte nach Hause und sah, wie der Golem eben die Pfosten seines Hauses erfasst hatte, um das ganze Gebäude einzureißen; er sprang hinzu, nahm ihm das Pergament und toter Lehm lag wieder vor seinen Füßen. Von dieser Zeit betet man in Prag das schabbatliche Brautlied stets zweimal.“ (Berthold Auerbach, Spinoza, Stuttgart 1837, S.18-20)
Nachdem sich bedeutende Autoren der deutschen Romantik, darunter Achim von Arnim und E. T. A. Hoffmann, mit dem Golem-Motiv befasst hatten, verwundert es nicht, dass nun noch weitere Golemgedichte um den Prager Golem (Gustav Philippson, Der Golem, 1841) oder Novellen (Daniel Uffo Horn, Der Rabbi von Prag, 1842) erschienen.
Unter all diesen Bearbeitungen sollte es Gustav Meyrinks (1868-1932) Roman „Der Golem“ (Leipzig 1915) sein, der die Prager Golemsage noch stärker im Bewusstsein der Allgemeinheit verankern sollte. Von den ersten Auflagen wurden immerhin 145 000 Exemplare verkauft. Der Roman hat tatsächlich nur wenig mit Rabbi Löw und dem Golem zu tun. Er ist ein düsteres doppelbödiges Meisterwerk der phantastischen Literatur, das an Alfred Kubins (1877-1959) Roman „Die andere Seite“ (1908) erinnert. Meyrink, der mit dem Buddhismus sehr vertraut war, hatte leider nur oberflächliche Kenntnisse von jüdischen Inhalten. So spricht er davon, dass der Golem als Diener die „Glocken der Synagoge“ im 17. Jahrhundert geläutet habe. Die Welt des Prager Golem wird dagegen in den Buch-Illustrationen von Hugo Steiner-Prag (1880-1945) viel besser eingefangen als im Text selbst.
Erst das legendäre Volksbuch um Rabbi Löw sollte den Durchbruch für die Prager Golemsage ermöglichen. Der Autor des Volksbuches war Jehuda Judel Rosenberg (1859-1935), der es 1909 unter dem Titel „Nifla’ot Maharal mi-Prag – Wundertaten des Rabbi Löw“ in hebräischer und jiddischer Sprache veröffentlichte. Er behauptete, dass es Isaak Ben Samson Katz (gest. 1624), der Schwiegersohn von Rabbi Löw, verfasst hätte. Lange Zeit wäre die Handschrift in der Bibliothek von Metz unerkannt verstaubt. 1917 übersetzte Chajim Bloch sie ins Deutsche unter dem Titel „Der Prager Golem, von seiner ‚Geburt’ bis zu seinem ‚Tod’“. In Rosenbergs Volksbuch wird der Golem zum Retter des Ghettos. Löw hat in den „Wundertaten“ einen besonders gemeinen Gegner – den Priester Taddäus. Er versucht mit Hilfe von erfundenen Ritualmordbeschuldigungen die Juden aus Prag zu vertreiben. Aber Löw setzt den Golem als Spion ein und kann alle Übel abwenden. Mitunter erinnern die Geschichten an die damals äußerst beliebten Detektiv-Geschichten rund um Sherlock Holmes.
Das ist kein Zufall. Rosenberg hat später eine Sherlock-Holmes-Geschichte (Arthur Conan Doyle, The Jew’s Breastplate 1899) umgedichtet (Choshen Ha-Mishpat, zweiter Band, Piotrkow 1913). So wundert es nicht, dass er schon aus Rabbi Löw eine Art jüdischen Holmes machte. Aber nicht nur diese Elemente lassen deutlich erkennen, dass dieses Volksbuch nicht auf „uraltes Material“ zurückgreift. 1924 gab Chajim Bloch zur Festigung der Legende die „Sammlung von Originalbriefen des Bescht…nebst einem Originalbriefe des bekannten Maharal (R.Löw) aus Prag aus dem Jahre 1583“ heraus. Jedoch Gershom Scholem bewies in seiner Rezension zu Blochs Sammlung, dass Rosenbergs Golem-Geschichten den modernen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts widerspiegeln und kabbalistische Elemente enthalten, die keineswegs aus der Zeit Löws stammen können (Qiriat Sefer 1,1924-25, S.106).
„Sprache und Inhalt weisen zwingend auf einen nach den Ritualmordprozessen der 1880er und 1890er Jahre schreibenden chassidischen Autor mit kabbalistischer Bildung und (in diesen Kreisen höchst ungewöhnlichen!) belletristischen Neigungen.“ (Scholem, Golem, S.286)
Trotz dieser Kritik haben das Volksbuch und all seine Epigonen, die im Zuge des Erfolges erschienen, dafür gesorgt, dass Löw, Prag und der Golem ein nicht mehr zu trennendes Dreieck bildeten. In traditionellen Kreisen sind Rosenberg und Rabbi Löw als Golemerschaffer immer noch umstritten. Während Shnayer Z. Leiman ganz deutlich die „Wundertaten“ als „moderne Fälschung“ bezeichnet (The adventure of the Maharal of Prague in London, in: Tradition 36, 1, 2002, S.26-58), beharren Autoren wie Israel Holland (Beilage zu Jated Ne’eman, Elul 5747, S.6-7) oder Aaron Brody (auf einer eigens Rosenberg gewidmeten Homepage: http://rabbiyehudah yudelrosenberg.com) auf der Wahrheit der Legende. Als Unterstützung dienen oft weitere „Original-Briefe“ Rabbi Löws, in denen er über seine Golemerschaffung berichtet. Rosenberg war kein klassischer „Fälscher“. Für ihn gehörten die „Wundertaten“ zur jüdischen Volksliteratur. Rosenberg, der als Rabbiner in Montreal wirkte, ist besonders durch seine hebräische Zohar-Übersetzung bekannt. In einer Broschüre zur Feier seines 70. Geburtstages wurde das Werk „Nifla’ot Maharal“ bewusst in die Reihe seiner Schriften zur Volksliteratur aufgenommen.
„Im Gegensatz zu der geläufigen Meinung der Forschung kann hier nicht die Rede sein von einer Fälschung des authentischen Materials. Es ist vielmehr die Begegnung mit einer neuen Interpretation des Stoffes, ein symbolischer Erinnerungsakt, der das Alte neu belebt.“ (Goodman-Thau, Eveline, Golem, Adam oder Antichrist, in: Eveline Goodman-Thau, Gert Mattenklott, Christoph Schulte [hrsg.], Kabbala und die Literatur der Romantik zwischen Magie und Trope, Tübingen 1999, S.110-111)
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Jüdisches Prag/Jewish Prague
"Dieses Mütterchen hat Krallen" mahnte Franz Kafka seinen Freund Oskar Pollak 1902 vor Prag. Es lässt einen nicht mehr los. Dieses krakenhafte Mütterchen, dieses goldene Prag, ist eine Stadt, die ihren Reiz aus der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart, von Phantasie und Wirklichkeit schöpft...