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„Zweifache Unterdrückung“ – als Frau und als Jüdin – ist oft das jüdischen Frauen zugeschriebene Attribut, gleich, ob von jüdischer oder christlicher, männlicher oder weiblicher Seite.
Noch überzeichneter wird dieses Bild auf das „finstere“ Mittelalter rückprojiziert, wo Frauen nach landläufiger Meinung ohnehin beinahe Leibeigentum des Ehemannes waren, keinerlei Machtbefugnisse hatten und zu „Kindern, Küche, Kirche“ verbannt waren. Wenn dies für Christinnen galt, umso mehr dann, so könnte man meinen, für die einer unterdrückten Minderheit angehörenden Jüdinnen.
Im Widerspruch, aber passend dazu, steht ein anderes Klischee, das vor allem durch die Literatur der Schtetl-Romantik wie die Romane von Isaac Bashevis Singer und anderen verbreitet wurde: das der „Eschet Chail“ (der „starken Frau“ aus Prov. 31, 10-31), der geschäftstüchtigen, realistischen Frau, die ihrem weltfremden Ehemann den Lebensunterhalt und damit die Hingabe an seine religiösen Studien ermöglicht. Dieses Ideal einer den üblichen Geschlechterordnungen entgegengesetzten Arbeitsteilung besteht seit Jahrhunderten. Der Lobpreis der „tüchtigen Frau“, die mit eigener Hände Arbeit ihre Familie ernährt, ist einer der meistzitierten Texte der hebräischen Bibel. Der Talmud (bNed. 59a) berichtet über Rachel, die Frau des berühmten Rabbi Akiba, die während der 24 Jahre dauernden Abwesenheit ihres studierenden Mannes die Familie ernährte, ohne die ihr zustehende Versorgung und ein geregeltes Eheleben einzufordern – ein wahrhaftiges Beispiel von Selbstaufopferung zugunsten der Erfüllung der männlichen religiösen Pflichten. Diese Ermöglichung wird einer Frau, wie die Rabbiner immer wieder versicherten, in gleichem Maße als Verdienst angerechnet, als würde sie selbst geistliche Studien betreiben.
Auch im Mittelalter war dieses Frauenideal wirksam. In überaus poetischer und auch herzergreifender Form bringt einer der berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, Rabbi Elasar ben Jehuda von Worms, Verfasser des „Sefer ha-Rokeach“, (ca. 1165-1260) seine Wertschätzung und Trauer für seine 1196 von christlichen Räubern ermordeten Frau Dulce zum Ausdruck. Er greift dabei den biblischen Text der „Eschet Chail“ aus Proverbia 31, 10-31 auf und paraphrasiert ihn als gereimten Kommentar, dessen Zeilenanfänge dem hebräischen Alphabet folgen. Die Bibelzitate sind kursiv gesetzt:
„Eine starke Frau, wer findet sie? Wie meine Gattin, die fromme Frau Dulce.
Eine starke Frau, die Krone ihres Mannes, die Tochter von Wohltätern. Eine gottesfürchtige Frau, gepriesen für ihre guten Taten.
Das Herz ihres Mannes vertraut auf sie: Sie ernährte ihn und kleidete ihn in Ehre, damit er sitze unter den Ältesten des Landes, zur Lehre und zu guten Taten.
Sie tut ihm Gutes und niemals Böses, alle Tage seines Lebens mit ihr. Sie fertigte ihm mit eigener Arbeit Bücher; ihr Name ist: „die Liebliche“.
Sie suchte weiße Wolle für Schaufäden, und schafft mit eifrigen Händen.
Sie sann darauf, die Gebote zu erfüllen, und alle, die sie sahen, priesen sie.
Sie gleicht den Schiffen des Kaufmanns, um ihren Mann zu ernähren, damit er sich der Tora widmen konnte.
Ihre Töchter sahen sie und priesen sie glücklich, denn gut war ihre Ware.
Und sie gibt Nahrung ihrem Haus, und Brot den jungen Männern.“
Schon dieser, nur ein Drittel umfassende Ausschnitt von Elasars Trauergedicht spricht alle klassischen Fähigkeiten und Tätigkeiten der Frau Dulce an: Sie ist aus gutem Hause, von edlem Charakter, fromm, bescheiden, wohltätig und gebildet, und sie ernährt ihren Mann und ihre Familie sowohl durch traditionelle Handarbeit als auch durch Handelstätigkeit, damit er seinem Studium nachgehen kann. Die Frage ist nun, entsprach diese Beschreibung der Realität einer jüdischen Frau des mittelalterlichen Aschkenas, oder müssen wir sie als liebevolle Übertreibung eines trauernden und poetisch begabten Ehemannes ansehen, der die Topoi der Literatur gut zu bedienen wusste?
Geschäftstätigkeit jüdischer Frauen
Die Geschäftstätigkeit jüdischer Frauen interessiert die historische Forschung erst ungefähr seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als sich die Fragen und Methoden der Frauen- und Geschlechtergeschichte auch auf die Geschichte des jüdischen Mittelalters auszudehnen begannen. Im Großen und Ganzen steckt die Erforschung der jüdischen Frauen im Mittelalter noch in den Kinderschuhen, und Fachliteratur erschien bisher vor allem im hebräischen und englischen Sprachraum.
Ausgehend von der Quellenlage – noch stärker als im christlichen Bereich fehlen im jüdischen von Frauen selbst verfasste Quellen – ist die Geschäftswelt am ersten und besten erfasst, und der hohe Frauenanteil ist verblüffend: die Hälfte aller Darlehen in Nordfrankreich im 13. und 14. Jahrhundert und ein Drittel in 41 deutschen Gemeinden zwischen 1350 und 1500 führten Frauen durch. Für diese Angaben wurden nur die von Frauen alleine oder an der Spitze eines Konsortiums gewährten Darlehen herangezogen, also nicht die Mitnennungen mit Ehemann oder männlichen Verwandten, die ja über die Vermögensbeteiligung von Frauen keinen Aufschluss geben.
Die Analyse der Quellen zur jüdischen Wirtschaftsgeschichte in Österreich ergab ein differenziertes Bild: Jüdische Frauen gaben nur etwa ein Zwanzigstel der hochdotierten Darlehen an Adelige – und zwar ausschließlich als Witwen von Spitzenbankiers. Frauen dieser Schicht konnten sich aber in Lebensstil und Präsentation durchaus mit adeligen und ratsbürgerlichen Frauen vergleichen, wie die prächtigen Wandmalereien im Haus der Geldleiherin Minna in der Züricher Brunngasse um 1330 beweisen. Jüdische Oberschichtfrauen verwendeten eigene Siegel, konnten reiten und orientierten sich in Kleidung, Speisen, Musik und Buchmalereien an den Moden des Adels. Solche weiblichen „Topbankiers“ waren auch innerhalb der jüdischen Gemeinde eine Minderheit, konnten aber beachtlichen Einfluss erringen, wie sich im Folgenden zeigen wird.
Im mittleren Bereich weisen die Darlehen an Ratsbürger und andere Bürger in Wien und Wiener Neustadt, den beiden größten jüdischen Gemeinden im mittelalterlichen Österreich, einen Frauenanteil zwischen einem Elftel und einem Siebentel auf. Die meisten Frauen – wie auch Männer – liehen jedoch geringe Summen an Kleinbürger, Handwerker und Inwohner, was einen Frauenanteil von einem Drittel ergab. Der enge Geschäftskontakt von Jüdinnen mit den unteren städtischen Schichten, sogar mit Prostituierten, stand sichtlich nicht im Widerspruch zur oftmaligen Aufforderung der Rabbiner zu Sittsamkeit und häuslicher Zurückgezogenheit. In Brünn waren beispielsweise 1379 der Jüdin Noba von der Dirnenvorsteherin vier Dirnenhäuser verpfändet. Isserlein bar Petachja, Rabbiner von Wiener Neustadt (ca. 1390-1460), fand es moralisch nicht weiter bedenklich, dass seine Schwiegertochter Redel Kleinstdarlehen an die Prostituierten der Stadt gab.
Diese starke Verankerung im Geschäftsleben brachte eine Verbesserung der Lage der jüdischen Frau in wichtigen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens mit sich. Eigenverantwortliche Rechtspersönlichkeit, Gerichtsfähigkeit, Eidesleistung, Mobilität und eine gewisse weltliche Bildung waren Voraussetzung oder aber auch direkte Folge der weiblichen Geschäftstätigkeit. Eine Zunahme der Anerkennung durch Familie und Gemeinde und damit ein Steigen in der Ehrenskala brachte vermutlich indirekt den Schutz vor Misshandlung durch den Ehemann sowie die Erleichterung in gewissen halachischen Sachzwängen wie z. B. Aguna und Gefangenschaft. Einige Entwicklungen haben Parallelen im christlichen Bereich, andere, wie die strenge Bestrafung des Ehemanns bei Misshandlung, sind unabhängige jüdische Rechtsneuerungen.
Geld und Macht
Die Existenz der jüdischen Gemeinden im Mittelalter hing von ihrer Steuerleistung ab, welche dem Landesherrn kollektiv bezahlt wurde. Verarmten ihre Mitglieder und konnten den fiskalischen Forderungen nicht mehr genügen, drohte Vertreibung oder Schlimmeres. Die Gemeindevorsteher handelten den Anteil ihrer Kehila an der allgemeinen Judensteuer aus, die Gemeindemitglieder deklarierten ihr Vermögen unter Eid, und die Schatzmeister (Gabbaim) schätzten den Anteil der einzelnen Steuerzahler und -zahlerinnen nach deren Vermögenserklärung ein. Frauen waren also in der Steuerberechnung eine wahrnehmbare Größe und werden daher auch in den meisten Steuererlässen des Spätmittelalters ausdrücklich erwähnt. Einzelne Frauen, wie zum Beispiel Zorline von Frankfurt, deren Steueranteil 1391 über 60% aller Geldhändler ihrer Stadt betrug, sicherten mit ihrem Beitrag die Existenz ihrer Gemeinden und genossen sicher dementsprechendes Ansehen und Bedeutung. Am unteren Ende der sozialen Leiter stand bei Männern wie bei Frauen das steuerbefreite Dienstpersonal und die Kinderlehrer.
Wenn auch die Machtstruktur der mittelalterlichen patriarchalischen Gesellschaft bei Juden wie bei Christen nicht grundlegend aufgebrochen werden konnte, war es doch einzelnen Frauen möglich, kraft ihres finanziellen Vermögens auch gemeindepolitische Macht zu erlangen – dieser Aspekt der jüdischen Geschichte wurde erst durch die Methoden der Gender Studies sichtbar. Historiker früherer Generationen übersahen die Bedeutung einzelner Urkundeninhalte, einfach, weil nicht sein darf, was nicht sein kann; dazu einige Beispiele:
Selda von Radkersburg in der Steiermark übte 1338 die Tätigkeit einer Steuereinnehmerin ihrer kleinen Gemeinde aus, auch wenn sie nicht ausdrücklich „Gabbai“ genannt wird. Die ausständigen Beträge hatte sie mit ihren Gemeindemitgliedern ausgehandelt – was Autorität und Akzeptanz erforderte – und der Obrigkeit gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn vorgestreckt. Die Einsammlung der Summen blieb dann wieder ihr überlassen, wie es das undankbare Amt der Steuereinnehmer vorsah. Selda ist damit die einzige nachgewiesene Trägerin, oder besser gesagt: De Facto-Trägerin, eines jüdischen Gemeindeamtes im mittelalterlichen Österreich.
Auch im heutigen Deutschland berechtigte Reichtum zu Funktionen, die Frauen ansonsten aufgrund ihres Geschlechts verwehrt waren: 1336 verwaltete die Jüdin Nenneke mit ihrem Mann den Friedhof und hatte somit Macht über die prestigeträchtige Anordnung der Gräber. In der selben Stadt bezahlte die Witwe Pesselyn 1404 das Gehalt des Schammes der Gemeinde; ob damit auch ein Einfluss auf die Gottesdienstordnung verbunden war, ist zu bezweifeln.
Besondere Notsituationen eröffneten Frauen zu allen Zeiten Chancen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen: 1480 führte Gutrat von Regensburg mit einer weiteren Frau und einem Mann die Verhandlungen mit Kaiser Friedrich III. zur Freilassung der 17 von der Stadt in Gefangenschaft genommenen Juden. Ihr Bruder Mayr Schalmann, der reichste Geldhändler Regensburgs, war unter den Gefangenen. Zu diesem Zweck reiste sie mit kaiserlichem Geleit mehrmals nach Wien. 1493 übernahm sie das Erbe ihres Bruders und die Vormundschaft über ihren Neffen, kündigte der Gemeinde ihre Mitgliedschaft auf und brachte die jüdische Gemeinde mit nicht bei ihr sondern direkt bei der Stadt Regensburg bezahlten Steuern zur Verzweiflung.
Regensburg – Stadt der Frauen?
Zu einem unbestimmten Zeitpunkt vor dem August 1351 kam Kaendlein, die vermögende Witwe des Mosche aus Grez (südlich von Regensburg), in die Stadt. Rasch stieg sie in die jüdische Oberschicht auf und wurde bereits 1354 vom Stadtrat beauftragt, den Steueranteil der hinzugezogenen fremden Juden festzusetzen. Ein Jahr später nahm Kaendlein im Namen der Judengemeinde von Regensburg als Erstgenannte mit fünf weiteren Vorstehern eine Anzahl von neuen Mitgliedern auf. Die Urkunde ist mit dem hebräischen Siegel der Gemeinde beglaubigt, es ist also offensichtlich, dass Kaendlein als erste Frau das Amt eines Gemeindevorstehers (Parnass) ausübte. Ihre herausragende Stellung illustrieren nüchterne Zahlen: Während die Juden durchschnittlich 23 Pfund jährliche Steuern an die Stadt zahlten, leistete Kaendlein 60! Diese finanziell und politisch derart mächtige Frau fand allerdings ein tragisches Ende; sie fiel einem Raubmord im eigenen Haus zum Opfer.
20 Jahre später wiederholte sich die Konstellation eines weiblichen Vorstands: Im März 1374 schworen die zwölf Parnassim der Judengemeinde mit einem schweren Eid auf die Tora, Regensburg in den nächsten zwölf Jahren nicht zu verlassen. An vorletzter Stelle der zwölf ist ich Joseppine gereiht, in eindeutiger Funktion einer „Parnesset“, wie zwanzig Jahre zuvor Kaendlein.
Parnassim treffen wie der christliche Stadtrat als Oligarchie die Entscheidungen für die gesamte Gemeinde. Dass eine Frau, wenn auch eine sehr vermögende, in diese Machtposition gelangen konnte, ist nach bisheriger Kenntnis der Quellen ein einmaliges Phänomen und zeigt, dass unter manchen politischen Umständen die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schichte die Geschlechtszugehörigkeit an Bedeutung überstieg. Christliche Bürgerinnen Regensburgs waren in derartigen Machtpositionen nicht zu finden, die einzige Gruppe mit vergleichbaren Funktionen waren die Äbtissinnen der Frauenklöster. Vielleicht könnte eine genauere Untersuchung erstaunliche Übereinstimmungen zwischen jüdischen und geistlichen Frauen im Mittelalter zutage bringen.
Dieser Artikel erschien in längerer Fassung in: Europas Juden im Mittelalter. Hg. vom Historischen Museum der Pfalz Speyer. Speyer 2004, S. 83-89.