Versuch einer Rückschau Teil 3
Claus STEPHANI
Jenseits des Vorstellbaren
 
 Seit dem 20. Jahrhundert, genauer gesagt seit den Ereignissen zwischen 1933 und   1945, gibt es keinen Weg mehr, der vorbeiführt an der Kunst, die in   Vernichtungslagern und Ghettos entstanden ist. Es ist eine Galerie von stummen   Bildern verstummter Künstler, es sind Bilder, die ihre Schöpfer überlebt haben.   Und sie scheinen aus einer anderen Welt zu stammen, aus einer Welt, die der   Menschenverstand nicht erfassen und somit auch nicht begreifen kann. Man hat den   Eindruck, die Opfer der Massenvernichtung „hätten auf einem anderen Planeten   gelebt und wären dort umgekommen“, wie Nora Levin schreibt, auf dem „Planeten   Auschwitz“ oder im „L’univers Concentration-naire“, wo alle Wertvorstellungen   des Menschen bewußt zerstört und vernichtet wurden.
Erwin Schäfler: Landmann, ein Intellektueller aus Czernowitz (Bleistift auf grauem Papier), 1942 Auf der Zeichnung befindet sich folgende Inschrift des Künstlers in rumänischer Sprache: „Landmann, Intellektueller aus Czernowitz, 36 Jahre, starb an Hunger und Kälte auf der Landstraße zwischen Moghilev und Skasinetz, 4-I-1942“. (Moghilev und Skasinetz/Scazineþ waren zwei berüchtigte Arbeitslager in Transnistrien.)
Das aber, so David Rousset, kann oft nicht begriffen werden, weil „der   Normalbürger nicht glauben kann, daß das alles möglich ist. Selbst wenn die   Beweise seinen Verstand zwingen, dieses zuzugeben, weigern sich doch seine   Muskeln... Die Insassen der Konzentrationslager aber wissen es... Sie sind vom   Rest der Welt durch ein Erlebnis getrennt, über das zu sprechen unmöglich ist“,   denn „die Welt von Auschwitz“, sagte einmal George Steiner, „liegt jenseits der   Sprache, so wie sie jenseits des Vorstellbaren liegt“.
 In einem Guide durch die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau heißt es über die   künstlerischen Aussagen, die im Block 6, Raum 3 zu sehen sind: „Diese   entsetzlichen Darstellungen stammen von Malern, von Männern und Frauen, die   selbst Gefangene waren. Diese wahrheitsgetreu wiedergegebenen Szenen aus dem   Lagerleben haben den Wert von Dokumenten und Beweisen.“ So erreicht uns heute   die Botschaft einer ergreifenden Kunst, die Mary S. Constanza als „Bilder der   Apokalypse“ bezeichnet. Doch es sind Werke, die man weder mit „herkömmlichen   Maßstäben“ bewerten noch wie Exponate einer Galerie betrachten kann, denn es ist   eine Kunst, „die unter Bedingungen geboren wurde, die noch nie ein Künstler zu   ertragen hatte“, und so müssen diese Bilder „vor dem Hintergrund des Holocaust   gesehen werden; sie können nicht beurteilt werden, ohne das Wissen um diese   Tragödie und um das Wesen, aus dem sie hervorgegangen ist“. Daher bleiben diese   Werke, wie auch das Verbrechen an ihren Schöpfern, einzigartig, denn es sind   mahnende Zeugen, Bilder eines Alltags und Bildnisse von Menschen, die nach ihrer   Vernichtung auferstanden sind und nun „auf dem Papier weiterleben“. Wir können   sie sehen, erkennen und betrachten, doch wir können ihre grauenvolle   Wirklichkeit, im Schatten des Todes und im Schein der Brennöfen, kaum begreifen.
 Wie viele Künstler hat die enorme Maschinerie des Verbrechens ausgelöscht? Wie   viele Künstler sehen uns heute aus jener irdischen Hölle mit verzweifelten und   flehenden Blicken an? Denn aus ihren Gesichtern und Bildern spricht die ständige   Angst – die Angst vor der täglichen „Endlösung“, und die Angst davor, daß die   Welt jenseits der Lager möglicherweise niemals erfahren würde, was damals mit   ihnen geschah.
 Über die Zahl der während des Holocaust vernichteten Maler, Grafiker und   Bildhauer gibt es verschiedene Schätzungen. Es wären über zweihundert   konsekrierte Künstler gewesen, heißt es, oder auch mehr. Doch schon ein einziges   Opfer wäre zuviel! Denn jedes Menschenleben ist eine Welt. Und so wollen wir   hier keine Statistiken aufmarschieren lassen – das tun nämlich schon wieder   jene, die den unbegreiflichen Mord begreiflich und erklärbar machen wollen, wenn   auch gerade das unverständlich ist und unmöglich bleibt.
 In der imaginären Galerie der Holocaust-Opfer und ihrer Kunst, wobei hier nicht   unterschieden wird zwischen Toten und gekennzeichneten Überlebenden, stehen   viele große Namen – Felix Nussbaum, Otto Freundlich, Bruno Schulz, Rudolf Levy,   Adolf Außenberg, Leo Haas, Karl Schwesig, Roman Kramsztyk, Karel Fleischmann,   Peter Löwenstein, Adolf Adler, Arnold Daghani (Korn), Leon Engelsberg, Aizig   Feder, David Friedmann, Malvina Schalkova, Sara Glücksmann-Faitlowitz (Gliksman-Fajtlowicz),   Boris Taslitzky u.a. Es sind Künstler, die bereits vor ihrer Verhaftung und   Deportation bekannt waren. Sie kamen aus Deutschland (Außenberg, Nussbaum, Levy,   Friedmann, Schwesig), Österreich-Ungarn (Fleischmann, Haas, Müller, Schalkova),   Rumänien (Adler aus Sathmar/Satu Mare, damals Ungarn, Daghani aus Suczawa/Suceava,   damals Österreich), Polen (Engelsberg, Schulz), Frankreich (Taslitzky), Holland   (Asscher) oder Rußland (Feder, Gliksman-Fajtlowicz).
 Hinter jedem Namen aber steht auch ein menschliches und künstlerisches   Schicksal. Denn die meisten von ihnen starben in Arbeitslagern, Gaskammern, auf   Todesmärschen und an jenen zahlreichen Stätten der organisierten Vernichtung. 
 Felix Nussbaum aus Osnabrück (1904-1944), international bekannt, mit   erfolgreichen Ausstellungen in Hamburg, Berlin und Rom, hatte, nach seiner   Ausbildung an der Hamburger Kunstgewerbeschule und an der Lewin-Funcke-Schule in   Berlin (bei Willy Jaeckel), ab 1925 an der Hochschule der Berliner Akademie der   Künste (bei Cesar Klein und Hans Meid) studiert. Nach seiner Flucht aus dem   südfranzösischen Lager Saint-Cyprien hielt er sich „illegal“ in Brüssel auf, wo   seine „symbolisch verschlüsselten“ Bilder, Selbstbildnisse und Porträts seiner   Frau Felka Platek entstanden. Nach seiner Verhaftung, 1944, endete er namenlos   in Auschwitz. Das letzte Gemälde, datiert 18. April 1944, trägt den Titel „Die   Gerippe spielen zum Tanz“. Berühmt wurde sein ausdrucksvolles „Selbstbildnis mit   Judenpaß“ (um 1943). Aus seinem Gesicht blickt die stetige Angst, die   versinnbildlichte Tragödie des verfolgten Judentums; es ist ein Gemälde, das man   nach dem ersten Betrachten nicht mehr vergessen kann, auch darum, weil es heute   repräsentativ ist für viele Gesichter und Schicksale.
 Rudolf Levy (1875-1943) stammte aus Stettin (heute Szczecin) und galt in der   Weimarer Zeit „als der weise Gegenpol zum Expressionismus“. Er lebte seit 1907   in Berlin und Paris, war mit Henri Matisse befreundet und in dessen Atelier   viele Jahre tätig. Im Pariser Café Dôme gehörte er, wie auch später in Berlin   und Florenz, als „der witzige und geistig anregende Mittelpunkt“ einem Kreis von   Künstlern an, in dem auch Oskar Kokoschka und Jules Pascin verkehrten. Im Jahr   1944 wurde er von zwei Gestapobeamten, die sich als „Kunsthändler“ ausgaben, in   eine Falle gelockt und bald danach von der SS ermordet.
 Die Reihe großer Namen, Maler, Bildhauer und Grafiker, die während der   nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ausgelöscht wurde, ist schmerzlich   lang. 
 Otto Freundlich (1878-1943), der „nach einer kosmischen Harmonie“ suchte, „dazu   bestimmt, die Entfremdung zwischen der Natur und dem Menschen aufzuheben“, starb   in Majdanek bei Lublin.
 Adolf Außenberg (1917-1943) wurde bei Kriegsausbruch aus Deutschland nach   Theresienstadt verschickt und kam wahrscheinlich 1943 in Auschwitz um. 
 Malvina Schalkova aus Prag (1882-1944) kam 1941 nach Theresienstadt. Drei Jahre   durfte sie dort als Porträtzeichnerin der Nazi überleben, wobei sie auch im   Geheimen Mitgefangene porträtierte. Sie starb im September 1944 in Auschwitz. 
 Karel Fleischmann, Arzt, Schriftsteller und Maler, wurde 1942 nach   Theresienstadt verschickt, 1944 verliert sich seine Spur in Auschwitz.
 Bedrich Fritta (Fritz Taussig) zeichnete in Theresienstadt Ghettoszenen, wurde   von den Nazis erwischt und wegen „korruptiver Propaganda“ angeklagt. Er kam ins   Lagergefängnis und von dort in die Todeskammern von Auschwitz. 
 Peter Ginz aus Prag (1928-1944) kam als vierzehnjähriger Junge ins Ghetto von   Theresienstadt, wo er durch seine vielseitige und ungewöhnliche Begabung   auffiel. Er zeichnete, schrieb und redigierte schließlich die Lagerzeitung „Vedem“.   Sein kurzes Leben endete 1944 in Auschwitz.
 Louis Asscher aus Amsterdam (1885-1945) wurde 1943 von den deutschen Besatzern   ins holländische Lager Westerbork eingeliefert, kam im Januar 1944 nach Bergen   Belsen, überlebte dort die Befreiung des Lagers durch die britische Armee am 15.   April 1945 und starb wenige Tage später an Schwäche und Erschöpfung...
 Diese Aufzählung könnte so über viele Seiten hinweggehen und würde schließlich   ein eigenes umfangreiches geschriebenes Mahnmal ergeben.
Alter Ritov: Selbstbildnis im Ghetto Riga (Kohle), 1943
 Ein letzter Wille
 
 Hier sollte aber noch auf einen anderen charakteristischen Aspekt der   Vernichtung hingewiesen werden: auf das beiläufige und alltägliche Töten der   Nazis, je nach Stimmung, Lust und Laune – denn ein Menschenleben zählte bei   jenen professionellen Henkern nichts. 
 Zum Beispiel Bruno Schulz (1892-1942) – ein Schriftsteller, Maler und Zeichner,   der aus Drohobytsch (Drohobycz), der verschwundenen, verlorenen, vergessenen   ostjüdischen Welt Galiziens kam und heute weltbekannt ist –; er wurde   erschossen, so en passant, der Tod kam im Vorübergehen. 
 Als die deutsche Wehrmacht im Sommer 1941 zum zweitenmal in seine Heimatstadt   einmarschierte, begann schon im Herbst die Errichtung eines Ghettos. Die ersten   Monate überlebte Schulz dank seiner zeichnerischen Begabung: auf Befehl eines   Gestapo-Offiziers mußte er die Räume des neuen Kasinos, das in der k.u.k.   Reitschule eingerichtet wurde, mit großen Wandgemälden ausschmücken. Diese   Arbeiten schützten den preisgekrönten Künstler und Schriftsteller einige Zeit   vor dem Abtransport in eines der Vernichtungslager.
 Am 19. November 1942 ging Bruno Schulz wie immer zum sogenannten Judenrat, um   seine bescheidene Tagesration Brot abzuholen. Da machten die deutschen Besatzer   plötzlich Jagd auf die Ghettobewohner und erschossen wahllos Menschen, die sich   zufällig auf der Straße befanden. Auch Bruno Schulz blieb tot am Bürgersteig   liegen, und der Schütze, ein Scharführer, ging weiter, so, als wäre nichts   geschehen...
 Es mag ungewöhnlich sein, daß man in essayistische Marginalien zum   Kunstgeschehen des 20. Jhs. solche Szenen miteinbeziehen muß, doch an diesen   Ereignissen führt heute – wie eingangs erwähnt – kein Weg mehr vorbei, und auch   keine Gedanken und kein Gedenken. Und so muß hier auch noch hinzugefügt werden,   das, was heute bereits vergessen ist, weil es zur Banalität des damaligen   Alltags gehörte. 
 Doch es gibt auch Künstler, die den Holocaust in Ghettos und Lagern überlebt   haben, die im braunen Nacht- und Nebelreich ihre vielen kleinen und großartigen   Kunstwerke schufen und nach der Befreiung versuchten, mit ihren Erinnerungen   weiterzuleben – Künstler, die nicht vergessen konnten und daher auch in den   Jahren danach kreativ tätig waren. Zu ihnen gehören Adolf Adler – er entkam 1944   aus einem Arbeitslager in der Ukraine und wanderte 1963 nach Israel aus –, Leo   Haas – er lebte nach der Befreiung von Auschwitz in Prag und Ostberlin (DDR) –,   Sara Glücksmann-Faitlowitz arbeitete während des Krieges im Ghetto von Lodz   (damals zeitweilig Litzmannstadt) als Zeichnerin und Grafikerin im Büro für   Einwohnerkontrolle und Statistik und zog nach der Befreiung nach Israel –,   Esther Lurie aus dem lettischen Liepaja, erhielt 1938 den Dizengoff-Preis, kam   1941 ins Ghetto Kaunas (Kowno), danach in die Konzentrationslager Stutthof,   Neuen, Merzen und Leibisch, 1945 kehrte sie in ihr Land zurück; 1946 wurde ihr   zum zweitenmal der Dizengoff-Preis verliehen. 
 Unter den Künstlern waren dann auch einige, die gegen die deutschen Okkupanten   aktiv gekämpft haben, so als Soldaten in der Roten Armee – wie der in Wien   geborene Erwin Schäfler (1937-1965) und der aus Szczerzec bei Lemberg (Lwów)   stammende Grafiker Marek Oberländer (1922-1978), der sich nach dem Krieg in   Schweden und Frankreich aufhielt –, in der polnischen Armee – wie Leon   Engelsberg aus Warschau –, oder in der Résistance – wie der Maler Boris   Taslitzky, ein Schüler von Jacques Lipchitz, der nach seiner Verhaftung im Lager   Buchenwald überlebte und später in Paris arbeitete. Auch Paul Ullman, 1906 als   Sohn amerikanischer Eltern in Paris geboren, kämpfte als aktives Mitglied im   französischen Untergrund. Er wurde von den deutschen Besatzern gefangen genommen   und am 24. August 1944 erschossen. Ein anderer Künstler und Widerstandskämpfer,   Jules Gordon, der aus Sibirien stammte, starb bei einem Gefecht an der   schweizerisch-französischen Grenze, als er half, jüdische Kinder vor dem Zugriff   der Nazis zu retten. Izak Kreczanowski, 1910 im litauischen Dobrzyn geboren,   wurde 1941, zusammen mit anderen jüdischen Partisanen, in einem Wäldchen bei   Bialystok von der SS hingerichtet. 
 Nur wenige Künstler brachten nach dem Holocaust noch die Kraft auf, ein Studium   zu beginnen und sich weiter zu bilden. Einer von ihnen ist György Hegye (Georg   Scheinberger) aus Budapest, der den Weltkrieg in einem Arbeitsbataillon der   ungarischen Armee überlebt hatte und später an den Kunstakademien von Cluj   (Klausenburg) und Budapest studierte. Ebenfalls aus Budapest stammt auch Esther   Schönfeld. Nach ihrer Deportation in die Lager Janowka-Lemberg, Auschwitz und   Bergen Belsen, wo sie 1945 von den Britten befreit wurde, widmete sie sich ganz   dem künstlerischen Schaffen und begann ihre Kriegs- und Lagererlebnisse   zeichnerisch zu verarbeiten.
 Viele von den Holocaustüberlebenden wanderten in den Jahren nach Kriegsende in   Israel ein. Die meisten von ihnen stammten aus Polen (Asriel Awret, Szymon   Balicki, Chaim Bargal, Leon Engelsberg, Chaim Goldberg, Henryk Hechtkopf, Osias   Hofstätter, Mosche Kupfermann, Arie Merzer, Halina Olomoucki), Litauen (Aharon   April, Samuel Bak, Alexander Bogen, David Labkowski, Alter Ritov), Rumänien   (Adolf Adler, Arnold Daghani, Marcel Janco), Weißrußland (Josef Kuzkowski, Mark   Zitznitzki), Lettland (Abel Pan) und Österreich (Erwin Schäfler, der aus Wien   1937 nach Rumänien fuhr, von dort 1940 in die Ukraine floh, 1946 nach   Siebenbürgen/Transsylvanien kam und dann 1958 nach Israel zog). Die meisten   dieser Einwanderer stammten aus Osteuropa, wo die kurze Naziherrschaft Tausende   von zerstörten jüdischen Gemeinden, zahlreiche Vernichtungslager und Millionen   Menschenopfer hinterlassen hatte. In Israel versuchten sie einen kreativen   Neubeginn und leisteten in den Jahren danach einen prägenden Beitrag zum   modernen Kunstgeschehen ihres Landes.
 „Was ist die Aufgabe eines Künstlers in einer Zeit sittlicher und   gesellschaftlicher Krise? Was ist der Unterschied zwischen Mensch und Tier, wenn   nicht aufbauendes, schöpferisches Tun; denn nur schöpferisches Tun sichert die   Zukunft der Menschheit und ihre Entwicklung. Nur aufbauendes, positives Tun   schafft eine Zukunft. Und nur, wenn eine Zukunft vor ihm liegt, ist der Mensch   fähig, Kulturwerke zu schaffen“ schrieb der aus Stolp (heute S³upsk) in Pommern   stammende Maler und Bildhauer Otto Freundlich, bevor er im März 1943 in Majdanek   starb. Sechs Jahre vorher war seine bekannte Skulptur „L’homme nouveau“ auf dem   Umschlag des Katalogs der Münchener Ausstellung „Entartete Kunst“ abgebildet   worden, wonach für ihn der letzte Leidensweg begann.
 Das schöpferische Tun dieser vielen ungewöhnlichen Künstler offenbart eine   erstaunliche Kraft, eine einmalige Leistung. Ihr Werk aus Alltagsszenen,   Momentaufnahmen und Bildnissen entstand oft kurz vor dem Tod und wehrte sich so   gegen das Vergessen. Es erreicht uns heute aus einer Zeit, in der es für die   meisten von ihnen keine Zukunft mehr gab, und es steht nun vor uns wie ein   unbegreifliches Wunder, ein unaufhörlich erzählendes Mahnmal – wie ein letzter   Wille in Bildern.
 
 Schlussbemerkungen
 Es ist eine imaginäre Galerie mit unterschiedlichen   Bildnissen – Gemälden, Grafiken und Zeichnungen –, eine lange Bildersuite von   Gesichtern verschiedener Menschen und Individualitäten, deren körperliche und   seelische Erscheinung so nun sichtbar wird. Denn wir haben versucht, das   menschliche Antlitz physiognomisch zu differenzieren, um das vieldeutige Bild   des Juden in der modernen Kunst erkennbar zu machen. 
 Die jüdische Porträtistik erreicht erst mit Moritz Daniel Oppenheim und Isidor   Kaufmann im 19. Jh. und danach im 20. Jh. mit Moritz Gottlieb, István Beregi,   Hermann Struck, Marc Chagall, Jankel Adler, Reuven Rubin u.a. ihre   beeindruckende Ausprägung. Das Individualbildnis und die Einzelpersönlichkeit   wird somit als eine vom Leben – von Erlebnissen und Erfahrungen – geformte und   dadurch wirklichkeitsnahe Erscheinung dargestellt. Und das sowohl auf Oppenheims   frühen Genrebildern aus der traditionsgeprägten jüdischen Lebenswelt als auch   später auf den Bildnissen aus den Todeslagern des 20. Jhs., die während der   Vernichtung dieser Welt entstanden sind. 
 Dabei wurde das jüdische Antlitz mit seinem individuellen Ausdruck auch in den   vielgestaltigen Bildkonzeptionen der Neuzeit, von den traditionellen bis zu den   avantgardistischen Darstellungsweisen, berücksichtigt. Im 19. Jh. erreichten   übrigens jüdische Künstler mit ihren Bildern und Milieuschilderungen schließlich   auch in weiten nichtjüdischen Kreisen große Anerkennung. So porträtierte z.B.   Moritz Daniel Oppenheim, 1832, Goethe in Weimar und von Isidor Kaufmann, der aus   Arad im heutigen Rumänien stammte, erwarb sogar der österreichische Kaiser Franz   Josef das Gemälde „Der Besuch des Rabbi“, wonach auch der russische Zar und der   deutsche Kaiser von ihm Werke ankauften.
 Die hier präsentierten jüdischen Künstler der Moderne gehören, wie zuvor   angedeutet, verschiedenen Strömungen und Gruppierungen an: Ausgehend vom   Naturalismus und Realismus – mit Oppenheim, Gottlieb, Kaufmann, Beregi – bis zu   den „Entdeckern“ der jüdischen Volkskunst – Lissitzky, Ryback –, den   phantastischen Welten eines Marc Chagall, dem tiefgründigen Surrealismus von   Victor Brauner und dem romantischen Nationalismus des Reuven Rubin, der   1916-1919 Szenen aus dem jüdischen Volksleben in seiner rumänischen Heimat und   später Menschen in den galiläischen Landschaften malte. Es ist ein   weitgespanntes, farbiges und lebendiges Panorama von Bildnissen, die aus einer   gemeinsamen Erfahrung heraus entstanden.
 Einige Künstler schufen auch Bilder mit Jesus als erkennbaren Juden, wie Mark   Antokolsky („Christus vor seinen Richtern“, 1874), Moritz Gottlieb („Christus   vor Pilatus“, 1877, „Christus im Tempel“, 1879), Max Liebermann („Zwölfjähriger   Jesus im Tempel“, 1879), ein Gemälde, das in München Anstoß erregte, weil er   einigen antisemitischen Kritikern „zu jüdisch“ aussah, und Reuven Rubin („Jesus   und der Jude“, 1919). Schließlich gestaltete Marc Chagall in seinem   beeindruckenden Werk „Die weiße Kreuzigung“, 1938, das Martyrium des Judentums,   das, so Sydney Alexander, auch das Leiden des Künstlers darstellen sollte   (Baal-Teshuva, 2003: 142) und ebenfalls auf Kritik stoß. 
 Es ist eines der bedeutendsten Gemälde Chagalls, und es gehört wohl in die erste   Reihe der Bildnisse zum Judentum. Ein mit dem Tallith umschürzter Jude hängt am   Kreuz. Über seinem Kopf ist eine hebräische Inschrift zu erkennen: „Jesus von   Nazareth König der Juden. Auf dem Bild sieht man außerdem einen fünfarmigen   Leuchter, einen Juden mit einer Thorarolle und eine brennende Synagoge. Der   Thoraschrein steht offen, und die heiligen Schriften liegen verstreut auf dem   Boden, überall verängstigte Menschen. Das Gemälde entstand, wie Chagall Jahre   später sagte, als Antwort auf die Verfolgungen durch die Nationalsozialisten –   doch das Ausmaß und Ende jener Zeiten konnte der Künstler damals noch nicht   ahnen.
 So blickt das Bild des Juden uns nun an aus einer großen imaginären Galerie, die   hier zusammengetragen wurde; und die Zahl der Gesichter in dieser Kunstschau   scheint endlos zu sein. Es sind biblische Propheten und Könige, Minnesänger,   Gelehrte, Künstler, Rabbiner und Chassidim, einfache jüdische Menschen aus   Osteuropa und auch Juden, deren stummer Ruf vor ihrem Ende uns heute immer noch   erreicht. Jedes Bildnis verweist aber auf eine eigene Geschichte, auf einen   langen beschwerlichen Lebensweg. Und entlang dieses Weges stehen der Sänger   Süßkind von Trimberg, der „Anwalt“ Josel von Rosheim, Rabbi Ticktin und der   Rebbe von Kotzk und dann die vielen Gesichter auf den Bildern von Oppenheim,   Kaufmann, Struck, Kaplan, Chagall und anderen Malern, darunter aber auch das   Selbstbildnis von Felix Nußbaum mit dem Judenpaß und die kleine Zeichnung von   Erwin Schäfler, die einen Mann zeigt, der eines Tages auf einer Landstraße in   Transnistrien zu Tode kam. 
 Es ist die ewige Welt des Judentums, die alle Zeiten, auch die der Kriege,   Pogrome und Vernichtung, überlebt hat – wie in der Wirklichkeit, so auch in der   Erinnerung und im Bild.