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Jüdische Spuren in Neuseeland

Alfred GERSTL

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An die Existenz eines sagenhaften Kontinents auf der Südhalbkugel hatten die Menschen schon früh geglaubt – schon allein weil sie meinten, es müsse eine Art "Gegengewicht" zu den in der nördlichen Hemisphäre gelegenen riesigen Landmassen existieren. Dennoch wurden sowohl Australien als auch Neuseeland erst spät von europäischen Seefahrern entdeckt – und anfänglich als ungeeignet für eine Besiedelung gehalten. Der (vermutlich) erste Europäer, der Neuseeland sichtete, war 1642 der niederländische Seefahrer Abel Tasman, nach dem die australische Insel Tasmanien benannt ist. Beim Versuch, in Neuseeland an Land zu gehen, wurde seine Mannschaft jedoch von den einheimischen Maori vertrieben. Deren Vorfahren waren wahrscheinlich ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. aus Polynesien in das "Land der großen weißen Wolke" gezogen.
Von Weißen besiedelt wurde Neuseeland erst Ende des 18. Jahrhunderts, nach den Erkundungsreisen von Captain James Cook, der bereits 1770 Australien für die britische Krone beansprucht hatte. Im Gegensatz zu Australien handelte es sich bei den Siedlern nicht um Sträflinge, sondern um freie Bürger – ein Fakt, auf das die Neuseeländer sehr stolz sind. Juden waren zwar nicht unter den aller ersten Ankommenden wie in Australien, wo eine Hand voll mit der First Fleet an Land ging. Aber nach 1800 erreichten doch einige Juden, hauptsächlich natürlich aus dem Vereinigten Königreich, das andere Ende der Welt.
Während des gesamten 19. Jahrhunderts kam es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen den weißen Siedlern und den Ureinwohnern. Selbst der Vertrag von Waitangi 1840 beendete die gewalttätigen Auseinandersetzungen nur kurz. In diesem als Gründungsdokument Neuseelands betrachteten Vertrag verzichteten repräsentative Maori-Stammesführer offiziell auf ihre Souveränität, im Austausch dafür erhielten sie von der britischen Krone den Status als Bürger Großbritanniens zugestanden, 1867 sogar das Wahlrecht. Genauso bekamen die Maori im Vertrag von Waitangi Landrechte zugestanden, die aber nie exakt definiert wurden. In den letzten Jahren stellten die Maori daher – so wie die australischen Aborigines – immer häufiger Landforderungen und bekamen vor Gericht meist Recht. Zuletzt löste die Forderung einiger Maori-Stämme, sämtliche Strände Neuseelands zu ihrem Eigentum zu erklären, jedoch selbst unter den Sympathisanten der Ureinwohner Kopfschütteln aus.
Die Maori stellen heute circa 15 Prozent der Bevölkerung. Die traditionelle Maori-Kultur ist in den neuseeländischen Alltag viel stärker integriert als jene der Aborigines in Australien, die häufig lediglich als touristischer Aufputz herhalten muss. Bestes Beispiel ist der Haka, ein traditioneller Kriegstanz, mit dem die All Blacks, das neuseeländische Rugby-Team, den Gegnern vor Spielanpfiff das Fürchten lehren. Auch sind die Maori viel kämpferischer eingestellt und politisch aufmüpfiger, aber auch besser organisiert als die australischen Urbewohner. Im Parlament sind sie annähernd gemäß ihrer Bevölkerungszahl vertreten, sogar eine kleine Maori-Partei hat bei den letzten Wahlen Mandate gewonnen. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass die Maori im Allgemeinen nach wie vor zu den sozial schlechter gestellten Bevölkerungsschichten zählen.


Ein jüdischer Pionier


Unter den ersten jüdischen Einwanderern befand sich Joel Samuel Polack, geboren 1807 in England als Sohn eines bekannten Malers. Nach einigen Reisen, die er als Angehöriger der britischen Armee durchführte, lies er sich 1830 bei seinem Bruder in Australien nieder, zog ein Jahr später jedoch nach Neuseeland. Polack zählt zu den ersten Pionieren, er erforschte Küstenregionen an der Ostseite der Nordinsel, wobei er auch Handel trieb. Auch wenn ihm der Überlegensheitsdünkel des weißen Mannes nicht völlig fremd gewesen sein mochte – er bemühte sich um ein gutes Verhältnis zu den Maori. Er beherrschte den regionalen Maori-Dialekt und vertiefte sich in die Maori-Kultur. Auch riet er den lokalen Stämmen, marktfähige landwirtschaftliche Produkte anzupflanzen und sie an die Weißen zu verkaufen.
Nach seinem Wanderjahr ließ sich Polack am Bay of Islands nieder und gründete dort ein größeres landwirtschaftliches Gut namens Parramatta. 1835 errichtete er darauf auch Neuseelands erste Brauerei. Zu wirtschaftlichem Wohlstand gelangt, versuchte Polack seinen Interessen auch in der Politik Nachdruck zu verschaffen; insbesondere legte er sich mit dem umstrittenen Gouverneur an. Polack war ein Anhänger der (britischen) Besiedelung Neuseelands, doch müsste diese organisiert und kontrolliert werden, da nur so die Kultur der Maori bewahrt werden könnte. Für aufgeklärte Menschen würden die Maori gerne arbeiten, wovon die Ureinwohner auch geistig profitieren würden, glaubte er. Für diese Position warb Polack aktiv bei einer Reise nach London, wo er vor einem Parlamentsausschuss sprach, und in kulturhistorischen Büchern über seine Erlebnisse und Reisen in Neuseeland sowie einer Schrift mit Empfehlungen für eine neue Immigrationspolitik.
1845 wurden in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Maori und Briten große Teile von Polacks Farm zerstört. Er ließ sich daraufhin in der neuen Hauptstadt Auckland nieder, wo er ein Handelshaus aufbaute, das sich auf den Handel mit Kalifornien spezialisierte. Von 1845–48 amtierte er auch als neuseeländischer Vize-Konsul für die USA. 1850 übersiedelte Polack nach Kalifornien, 1882 starb er in San Francisco.
Als 1861 auf der Südinsel Gold gefunden wurde, löste dies einen wahren Goldrausch aus: Unter den vielen Glückssuchenden, die aus Europa, Amerika und Australien, wo das Goldfieber bereits wieder im Abklingen war, nach Neuseeland strömten, befanden sich auch zahlreiche Juden. In Dunedin etwa errichteten die etwa 200 Juden eine Synagoge im griechischen Stil mit 500 Sitzen. Heute wird die Synagoge von den Freimaurern genützt; die jüdische Gemeinde ist auf wenige Personen zusammen geschrumpft, denn etliche verließen nach dem Ende des Goldrausches Neuseeland wieder. Eine größere Zahl jüdischer Einwanderer gelangte in den 1890er Jahren in die Antipoden: osteuropäische, vor allem russische und polnische Juden, die vor den zaristischen Pogromen flohen.


Ein jüdischer Premierminister


Die neuseeländische Gesellschaft war immer offen und aufgeschlossen, Immigranten konnten sich leicht integrieren. Extrem fortschrittlich war Neuseeland in Bezug auf die Frauenemanzipation: 1893 erhielten die Frauen das Wahlrecht zugestanden – eine weltweite Premiere. Für das Frauenwahlrecht hatte sich unter anderem der Jude Sir Julius Vogel (1835–1899), Premierminister von 1873–1875 und kurzzeitig 1876, stark gemacht. Vogel war selbst ein Emigrant – 1852 wanderte er von London nach Australien aus, 1861 zog er nach Otago in Neuseeland weiter, wo er die erste lokale Zeitung gründete. Als Politiker setzte er sich für die Versöhnung mit den Maori ein und investierte in den Aufbau öffentlicher Dienstleistungen. Daneben fand er Zeit, den ersten neuseeländischen Science-Fiction-Roman zu verfassen: "Anno Domini 2000 – A Woman’s Destiny" (1889). In dieser Utopie nimmt er die Frauenemanzipation vorweg. Heute erinnert nicht nur ein Literaturpreis an den ersten jüdischen Premier, auch der Vorort Vogeltown in Wellington ist nach ihm benannt.
1907 erlangte Neuseeland die Unabhängigkeit als Dominion, so wie Australien blieb Neuseeland Großbritannien jedoch eng verbunden, sowohl politisch, militärisch, ökonomisch als auch kulturell. So beteiligte sich das Land an beiden Weltkriegen. Neben Tausenden europäischstämmigen Einwohnern wurden auch Maori als kundige Spurenleser an die Front geschickt. Die Relation gefallene Soldaten zur Bevölkerungszahl zeigt, dass im 20. Jahrhundert kein Land in Kriegen einen höheren Blutzoll entrichtet hat als Neuseeland.
Die nächste größere Immigrationswelle fiel in die 1930er Jahre, als vor allem europäische Juden nach Neuseeland auswanderten. Neuseeland zeigte sich dabei ziemlich liberal, vermutlich auch, weil nur relativ wenige Flüchtlinge – um die Tausend – das Land erreichten: Anders als in den meisten anderen Staaten wurden Angehörige aus Feindesländern nicht interniert, ja sie durften sogar in der neuseeländischen Armee Dienst versehen (was allerdings nur wenige taten). Die meisten Neuankömmlinge siedelten sich in Auckland, der größten neuseeländischen Stadt, oder in der Hauptstadt Wellington an. In letzterer war 1843 die erste jüdische Vereinigung gegründet, 1870 die erste Synagoge errichtet worden.

Bert Roth und Karl Popper

Einer der jüdischen Emigranten der Zwischenkriegszeit war der Wiener Herbert (Bert) Roth (1917–1994). Als junger Chemiestudent engagierte er sich für die sozialistische Opposition, kurze Zeit war er sogar Vorsitzender der Roten Falken. Nach dem Anschluss flüchtete er nach Frankreich; er wurde aber bald interniert. Seine nach London geflohene Mutter verschaffte ihm ein Visum für Neuseeland (der jüngere Bruder ging nach Palästina), wo er 1940 eintraf. Roth, der in der Bibliothek der Universität von Auckland arbeitete und sich einen Namen als Experte der neuseeländischen Gewerkschaftsbewegung machte, erinnerte sich 1975 in einem Brief an einen österreichischen Freund an weitere österreichische Emigranten (DÖW-Akt 10.247):

Among the more prominent Austrians here were E.A. Plischke, the architect (who has since returned to Vienna as professor of architecture), Karl Popper, the philosopher (…), and several doctors. There was never any Austrian organisation of any sort. The only half-hearted attempt to form one was made by me, on the suggestion of Austrian groups in Britain which whom I had been in correspondence. I wrote to various people to find out whether they would be interest[ed] but got only vague replies. One of these people, if I remember correctly, was Peter Hilferding (son of Rudolf) who came here and changed his name in New Zealand.

Der prominenteste österreichische Jude, der von 1937 bis 1946 in Christchurch auf der Nordinsel lebte und am dortigen Canterbury College Philosophie lehrte, war wie gesagt Sir Karl Raimund Popper (1902–1994). Hier war es auch, wo Popper sein Hauptwerk, "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", verfasste: eine philosophische Generalabrechnung mit Faschismus und Kommunismus. Beide Systeme führen laut ihm zwangsläufig zu einer geschlossenen Gesellschaft, in der die Menschen unfrei sind. Seine Freiheit bewahren kann man laut Popper nur in einer liberal und demokratisch verfassten, offenen Gesellschaft, in der Freiraum zum ausprobieren, akzeptieren oder zurückweisen neuer Konzepte besteht. (Mit dem Zurückweisen hatte Popper eigene Erfahrungen gemacht – unzählige Verlage sandten ihm das Manuskript zu "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" zurück, ehe sich sein lebenslanger Freund Friedrich August Hayek bei Routledge für eine Veröffentlichung stark machte.) Richtig wohl fühlte sich der in Wien als Sohn gesellschaftspolitisch und künstlerisch interessierter jüdischer Eltern aus der gehobenen Mittelschicht geborene Philosoph in Neuseeland aber nie. Nach Ende des Krieges übersiedelte er daher nach London, wo er an der School of Economics unterrichtete.
Die meisten Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Neuseeland kamen, stammten anfänglich hauptsächlich aus Großbritannien. Im Gefolge des Ungarn-Aufstandes 1956 ließen sich auch einige ungarische Juden hier nieder. In den 1990er Jahren trafen jüdische Einwanderer aus Russland, Südafrika und Israel in den Antipoden ein. Die jüdischen Gemeinden stellen daher eine bunte Mischung aus alteingesessenen Familien und Zuwanderern dar.
Von den heute vier Millionen Einwohnern Neuseelands sind knapp 5.000 Jüdinnen und Juden, das sind lediglich 0,1 Prozent der Bevölkerung. Die meisten neuseeländischen Juden leben heute auf der Nordhalbinsel, das Gros in Auckland, der mit 1.2 Millionen Einwohnern größten Stadt. Wie generell viele Neuseeländer, so sind in den letzten Jahren auch etliche Juden in das wirtschaftlich dynamischere und klimatisch begünstigtere Australien ausgewandert.
Dennoch weisen sowohl Auckland als auch die Hauptstadt Wellington nach wie vor je zwei Vereinigungen auf: je eine orthodoxe (orthodox im britischen Sinne) und eine liberal-progressive. Sowohl in Auckland als auch in Wellington gibt es jüdische Kindergärten und Schulen, dazu natürlich auch koschere Supermärkte und jüdische Restaurants. Als Tourist sollte man jedoch nicht überrascht sein, auch in kleineren Ortschaften auf Spuren jüdischen Lebens in Neuseeland zu stoßen. Ein derart pulsierendes jüdisches Leben wie in Melbourne oder Sydney wird man jedoch nirgendwo im Land der großen weißen Wolke erwarten dürfen, dafür sind die jüdischen Gemeinden einfach zu klein und Neuseelands Jüdinnen und Juden einfach zu gut in die Gesellschaft integriert. Zwar meinte Stephen Goodman, der Präsident von Aucklands Jewish Council Anfang August 2004 in einem Interview mit dem "New Zealand Herald”, dass Neuseeland immer noch "ein guter Platz zum Leben" für Juden sei, so wie dies seit fast 170 Jahren der Fall sei. Unter dem Eindruck der Schändung Dutzender jüdischer Gräber, einige davon über 150 Jahre alt (die Täter konnten noch nicht gefasst werden), warnte er, dass Randgruppen die teilweise existierenden anti-israelischen Meinungen in anti-jüdische Stimmung transformieren könnten.
Das soziale Klima in Neuseeland könnte sich nämlich wegen der Haltung der Regierung langsam ändern: Anders als das prononciert pro-israelische liberal-konservative australische Kabinett ist das sozialdemokratische neuseeländische der palästinensischen Autonomie-Behörde gegenüber sehr positiv eingestellt. Auch weilte die Premierministerin, Helen Clark, mehrmals zu offiziellen Besuchen im Mittleren Osten – Israel stand jedoch nie auf ihrem Besuchsprogramm.