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Die UN-Vollversammlung in New York gedachte heuer der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 60 Jahren.
Elie Wiesel, Auschwitz- Überlebender, Friedensnobelpreisträger und Schriftsteller
"Alle sagten einander, dass die Russen bald eintreffen würden, aber keiner war fähig, es klaren Sinnes zu fassen... Nun konnten die meisten von uns vor Erschöpfung nicht einmal mehr warten." Mit diesen Worten schilderte Primo Levi, seit 1943 Häftling in Auschwitz, in seinen Erinnerungen die fast schon verlorene Hoffnung auf Befreiung im Jänner 1945. Er gehörte zu den etwa 7000 schwachen und kranken Häftlingen, die die SS beim "Evakuieren" des Konzentrationslagers zurückgelassen hatte. Die übrigen 58.4000 Häftlinge aus Auschwitz mussten den Marsch in andere, westlicher gelegene Konzentrationslager antreten. Bei klirrender Kälte schleppten sich die Entkräfteten durch 40 Zentimeter hohen Schnee. Wer zurückfiel, wurde von den SS-Wachen auf der Stelle erschossen. Jeder vierte Häftling kam auf dem Todesmarsch um.
Einige SS-Männer, die in Auschwitz geblieben waren, versuchten noch kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee, die Spuren der Gräueltaten zu beseitigen. Dokumente wurden vernichtet, die Krematorien gesprengt - das letzte davon knapp einen Tag vor der Ankunft der Rotarmisten.
Doch so schnell konnten die Spuren der systematischen Vernichtung nicht mehr verwischt werden: Am 27. Januar 1945 stießen Soldaten der 60. Sowjetarmee bei ihrem Vormarsch auf das Lager Auschwitz-Birkenau. "Wir haben den Draht durchgeschnitten und sind hinein gegangen", erinnert sich Jakow Winnitschenko, Schütze der Roten Armee. Doch auf das, was sie hinter dem Eingangstor erwartete, waren die Soldaten nicht vorbereitet. "Uns bot sich ein schreckliches Bild. Gefangene in gestreifter Kleidung kamen auf uns zu", erinnerte sich Winnitschenko weiter. "Sie waren nur noch Skelette mit dünnen Beinen und Armen. Sie konnten weder lächeln noch weinen und waren völlig erschöpft." Von den Befreiten waren nur wenige in der Lage, das Lager sofort zu verlassen. 222 von ihnen starben kurz nach der Befreiung an den Folgen ihrer Misshandlungen im KZ. Viele mussten noch Wochen in den Krankenstationen bleiben, in der Obhut polnischer Ärzte und Schwestern.
Kunststaatssekretär Franz Morak mit einem ungarischen Kollegen
Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, in dem mindestens anderthalb Millionen Menschen – davon 90 Prozent Juden ermordet wurden, liegt nun 60 Jahre zurück. Erstmals in ihrer Geschichte gedachte heuer auch die UNO-Vollversammlung am 24. Jänner in New York dieses Ereignisses. Redner waren unter anderem UNO-Generalsekretär Kofi Annan, Israels Außenminister Silvan Schalom, der deutsche Außenminister Joschka Fischer, der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel. Österreich war durch Kunststaatssekretär Franz Morak vertreten.
Diese historische Sitzung wurde mit einer Schweigeminute der versammelten Staatenvertreter aus aller Welt eröffnet. UNO-Generalsekretär Kofi Annan erinnerte daran, dass die Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf "das Böse des Nationalsozialismus" gegründet worden waren. "Alles was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit", sagte Annan, der für sein Engagement für die Menschenrechte 2001 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Es sei seit 1945 jedoch nicht gelungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern: "Seit dem Holocaust hat die Welt zu ihrer Schande mehr als einmal versagt, als es darum ging, Völkermord zu verhindern oder zu beenden." Dies sei in Kambodscha, in Ruanda und im früheren Jugoslawien passiert. Derzeit würden in der sudanesischen Provinz Darfur schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt, möglicherweise habe es dort auch Völkermord gegeben. "Doch die Tragödie des jüdischen Volkes war einzigartig", betonte Annan.
Kunststaatssekretär Franz Morak betonte in seiner Rede die Wichtigkeit des Erinnerns: "Die Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag der Befreiung zeigen, dass Auschwitz nicht nur für das Erinnern in europäischen Ländern wichtig ist, sondern auch ein Ort des universellen Gedenkens ist. Heute gilt Auschwitz als globaler Maßstab für die verheerenden Konsequenzen der Tyrannei und der Verachtung für den Wert und die Würde menschlichen Lebens." Der Verantwortung für diese Gräuel könne sich Österreich nicht entziehen: "Ich stehe hier mit geteilten Gefühlen – mit großem Schmerz in dem Bewusstsein, dass unser Land so viele seiner jüdischen Bürgerinnen und Bürger im Holocaust verlor, und dem schmerzlichen Wissen darum, dass viele Österreicher an diesem größten aller Verbrechen teilnahmen." 65.000 österreichische Juden wurden während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft ermordet. "Sie wurden an Orte von unaussprechlichem Schrecken deportiert, wo – wie wir zugeben müssen – es ihre Nachbarn gewesen sein könnten, die sie in die Gaskammern trieben, vor den Exekutionsgräbern aufstellten oder in Ghettos verhungern ließen", sagte Morak. Zu lange habe sich Österreich auf die Moskauer Deklaration berufen, die Österreich als das "erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte" bezeichnete. "Wir haben vernachlässigt, dass die gleiche Deklaration Österreich daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann." Es seien nach dem Krieg erhebliche Bemühungen zur Restitution und Entschädigung unternommen worden. "Erst nach vielen Jahrzehnten wurde uns bewusst, dass jedoch nicht alles unternommen wurde und dass es noch immer Lücken und Unzulänglichkeiten bei den Restitutions- und Entschädigungsbemühungen gab. Um diese Situation zu bereinigen, hat die österreichische Bundesregierung umfassende Schritte gesetzt und wir sind zuversichtlich, dass diese von allen politischen Parteien und der ganzen österreichischen Bevölkerung getragenen Bemühungen den Opfern des Nationalsozialismus zumindest ein gewisses Maß an Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Dies kommt zu spät – zu spät für so viele", so Staatssekretär Morak.
Als "Zivilisationsbruch" bezeichnete Morak die Ermordung von 1,35 Millionen Juden, 140.000 Polen, 20.000 Sinti und Roma und 100.000 weiteren Insassen im Konzentrationslager Auschwitz. "Dieses Konzentrationslager steht für die Zerstörung aller menschlichen Werte. Wenn wir von moralischer Verantwortung im Hinblick auf die Vergangenheit sprechen, ist es auch unsere Aufgaben, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und uns der andauernden Geißel des Antisemitismus zu stellen." Österreich sei sich in dieser Hinsicht seiner Verantwortung bewusst und setzte viele Maßnahmen, um Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und andere Formen des Rassismus und der Intoleranz zu bekämpfen. Gedenkstätten seien in diesem Zusammenhang wichtig. "Ein weit stärkeres Instrument ist aber die Erziehung. Die Erziehung reicht in jede Schule und in jedes Heim. Unsere jungen Menschen, die schließlich unsere eigene Zukunft darstellen, müssen gelehrt werden, dass ohne Respekt für die Menschenrechte und die Würde des einzelnen Menschen kein Land, keine Gesellschaft Fortschritte machen oder sich weiterentwickeln können. Das ist die Lehre daraus, und das Vermächtnis, das die Erinnerung von Generation zu Generation weiterreicht", betonte Morak vor der UNO-Vollversammlung.
Elie Wiesel, Friedensnobelpreisträger und Auschwitz-Überlebender warnte in seiner Festrede vor einer Banalisierung der Erinnerung an die NS-Gräuel. Es sei bis heute unfassbar, wie so viele gebildete Deutsche sich schuldig machen konnten. "Wie konnten intelligente und gebildete Menschen tagsüber mit Maschinengewehren auf hunderte Kinder schießen und sich am Abend an den Versen Schillers oder einer Partitur von Bach erfreuen?" Es sei aber auch zu fragen, ob die damaligen Westmächte nicht viel mehr hätten tun können, "um die Tragödie des jüdischen Volkes zu verhindern oder wenigstens ihr Ausmaß einzuschränken." Elie Wiesel war 15 Jahre alt, als er und seine Familie aus Sighet, das heute in Rumänien liegt, nach Auschwitz deportiert wurden. Seine Mutter und jüngere Schwester verstarben dort, während seine beiden älteren Schwestern die Misshandlungen im KZ überlebten. Elie Wiesel und sein Vater wurden später ins KZ Buchenwald deportiert, wo sein Vater knapp vor der Befreiung im April 1945 an der Ruhr erkrankte und wahrscheinlich in der Gaskammer verstarb. Elie Wiesel erlebte die Befreiung und studierte nach dem Krieg in Paris. Bald darauf wurde er journalistisch tätig und verfasste 1955 sein erstes Werk, "Die Nacht, Erinnerungen und Zeugnis." Erschütternd schilderte er seine Erfahrungen in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern: "Nie werde ich die Nacht vergessen, die erste Nacht im Lager, die aus meinem Leben eine siebenmal verriegelte lange Nacht gemacht hat. Nie werde ich diesen Rauch vergessen. Nie werde ich die kleinen Gesichter der Kinder vergessen, deren Körper vor meinen Augen als Spiralen zum blauen Himmel aufstiegen. Nie werde ich die Flammen vergessen, die meinen Glauben für immer verzehrten. Nie werde ich das nächtliche Schweigen vergessen, das mich in alle Ewigkeit um die Lust am Leben gebracht hat. Nie werde ich die Augenblicke vergessen, und wenn ich dazu verurteilt wäre, so lange wie Gott zu leben…"
Besonders tragisch ist in dem späteren Werk "Die Nacht zu begraben" die Erinnerung daran, wie im KZ ein Kind gehängt wurde. ",Wo ist Gott, wo ist er’, fragte jemand hinter mir… Mehr als eine halbe Stunde hing er [der Bub] so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt, seine Zunge war rot, seine Augen noch nicht erloschen. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: ,Wo ist Gott?’ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten, ,Wo ist er? Dort – dort hängt er am Galgen…"
Für sein literarisches Schaffen und sein Engagement für die Menschenrechte wurde Elie Wiesel vielfach ausgezeichnet. 1986 erhielt er den Friedensnobelpreis, den er mit den Worten "Schweigen und Gleichgültigkeit sind die allergrößten Vergehen" in Empfang nahm. In diesem Bewusstsein sind Elie Wiesels Handeln und Lebenswerk zu verstehen. Angst vor dem Vergessen dieses düstersten Kapitels der jüngsten Vergangenheit hat Wiesel nicht. "Wir sind dabei, eine Generation von Zeugen von Zeugen von Zeugen zu bilden," sagte er bei der UNO-Gedenkfeier in New York.
Ansprache von Staatssekretär Franz Morak
Zitate aus der Rede des Kunststaatssekretärs Franz Morak vor der UNO-Vollversammlung:
"Als die sowjetischen Truppen vor sechzig Jahren die Tore von Auschwitz-Birkenau durchschritten, war die Welt über die Gräuel, die damals ans Licht kamen, schockiert. Das Verständnis der Menschheit über die Geschichte und über das Ausmaß des Bösen, dessen Menschen fähig sind, ist seit damals ein anderes."
"Als Repräsentant Österreichs stehe ich hier mit geteilten Gefühlen – mit großem Schmerz in dem Bewusstsein, dass unser Land so viele seiner jüdischen Bürgerinnen und Bürger im Holocaust verlor, und dem schmerzlichen Wissen darum, dass viele Österreicher an diesem größten aller Verbrechen teilnahmen."
"Auschwitz steht für die Zerstörung aller menschlichen Werte, auf die die Menschheit stolz war: die Ermordung von 1,35 Millionen Juden, 20.000 Sinti und Roma und 100.000 weiteren Insassen, die vom nationalsozialistischen Regime aus rassischen oder politischen Gründen oder einfach deswegen, weil sie anders waren, verfolgt wurden, markiert einen Zivilisationsbruch."
"Unsere jungen Menschen, die schließlich unsere eigene Zukunft darstellen, müssen gelehrt werden, dass ohne Respekt für die Menschenrechte und die Würde des einzelnen Menschen kein Land, keine Gesellschaft Fortschritte machen oder sich weiterentwickeln können. Das ist die Lehre daraus und das Vermächtnis, das die Erinnerung an Auschwitz von Generation zu Generation weiterreicht".
"Es hat lange gedauert, bis Österreich die Komplexität seiner eigenen Geschichte erfasste und verstand, dass Österreich, das nach dem Anschluss aufgehört hatte, als unabhängiges Land zu existieren, nicht nur Opfer des Nazi-Regimes war, sondern dass auch Österreicher unter den Tätern waren und viele die Verfolgungen aktiv unterstützt oder zumindest gebilligt haben. Österreich muss sich daher seiner moralischen Mitverantwortung stellen. Zu lange haben wir uns allzu bereitwillig auf jene Feststellung der von den Alliierten in Moskau 1943 angenommenen Deklaration berufen, wonach Österreich als das "erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte", bezeichnet wird und gleichzeitig vernachlässigt, dass die gleiche Deklaration Österreich daran erinnert, "dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann".
"Beim Gedenken an den 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wird uns bewusst, was wir verloren haben und was zerstört wurde, es ist auch ein Maßstab für das, was wir jetzt tun und was wir tun müssen, um das Vermächtnis der Millionen zu bewahren, die in Auschwitz und anderswo durch ein unmenschliches Regime getötet wurden, und um eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft zu schaffen."