Die Malerin und Bildhauerin Marianne Liebermann wurde 1927 als Marianne Windner in Wien geboren. 1939 floh sie, aufgrund der Nürnberger Rassegesetze ein Mischling ersten Grades, nach Slowenien; 1941 kehrte sie nach Wien zurück, wo sie bis zur Auswanderung nach New York nach dem Krieg lebte. Aus Anlass der Veröffentlichung ihrer Memoiren im Czernin-Verlag im Laufe dieses Jahres sprach "DAVID" mit der Künstlerin.
DAVID: Frau Liebermann, Sie sind Malerin und    Bildhauerin – jetzt haben Sie Ihre Lebensgeschichte in Buchform veröffentlicht.    War der Schritt von der bildenden Künstlerin zur Schriftstellerin für Sie ein    großer? 
 M. Liebermann: Ich habe Kunst immer als ein Medium für die Suche nach    einem selbst, für die Aufarbeitung von Trauer, für das Kurieren von Schmerz    empfunden. Malerei und Bildhauerei, sie bedeuteten für mich einen    Heilungsprozess. Freundschaften, Beziehungen, aber auch Ängste und Wut sind in    meine Werke eingeflossen, in meinen Händen buchstäblich zu Stein geworden. 
 Aber Schreiben ist für mich ein noch emotionalerer Akt. Schreiben ist sogar noch    expressiver als bildnerische Kunst: Beim Malen spürte ich viele Beschränkungen,    alle meine Gefühle richtig auf die Leinwand zu bringen. 
 Zum Schreiben dieses Buches haben mich meine Verwandten und Freunde gedrängt.    Ich habe lange gezögert. Vor allem zu Beginn merkte ich beim Niederschreiben    meiner Erinnerungen, wie sehr meine immer noch lebhaften visuellen Erinnerungen    an meine Jugendzeit mit den Emotionen verknüpft sind, die ich als Kind empfand:    sich einfach wohl und als Kind fühlen oder auch das Gefühl von Zugehörigkeit,    Familie, Geborgenheit. Ich habe mich beim Schreiben richtiggehend in die    Vergangenheit zurückversetzt und diese Erinnerungen durch meine heutige    Lebenserfahrung gefiltert. 
 
 DAVID: War das Schreiben aber nicht auch ein schmerzhafter Prozess? 
 M. Liebermann: Natürlich hat der Prozess des Sich-Zurück-Erinnerns und    Schreibens auch viele alte Wunden aufgerissen. Aber insgesamt fand ich ihn sehr    positiv. Denn wie gesagt, für mich bedeutet Kunst Heilung. 
 
 DAVID: Wann erkannten Sie selbst, dass Sie großes zeichnerisches Talent    besaßen? 
 M. Liebermann: Das merkte ich schon früh, als 11-Jährige. Aber bereits in    der Volksschule haben mich meine Lehrer beschuldigt, meine Zeichnungen stammten    nicht von mir, sondern von Erwachsenen. Darüber habe ich mich jedes Mal    geärgert. Ein anderes Mal, das war schon nach dem "Anschluss", als ich noch ein    Gymnasium für Mädchen besuchen konnte, wurde eines meiner Bilder prämiert: Ich    hatte einen Hitler-Jungen gemalt, der eine Nazi-Flagge schwenkte. Zuerst war ich    über meinen Erfolg glücklich, doch als ich das Bild ausgestellt sah, schämte ich    mich fürchterlich. Auch als 11-Jähriger wurde mir damals die Macht der Bilder,    von Kunst generell bewusst. Eine Erkenntnis, die mich tief berührt und geprägt    hat. 
 DAVID: Haben Ihre Eltern Ihr bildnerisches Talent gefördert? 
 M. Liebermann: Als ich 1969 das erste Mal nach dem Krieg nach Wien    reiste, besuchte ich auch unsere frühere Haushälterin, Gusti. Ich war    überrascht, als ich sah, dass sie Bilder, die ich als Kind gemalt hatte,    aufgehängt hatte. Gusti erzählte mir, dass mein Vater einmal – ich musste in der    zweiten oder dritten Klasse gewesen sein – in die Schule gerufen wurde. Meine    Lehrer hätten ihm empfohlen, mich in eine Kunstschule zu schicken. Meine Eltern    haben mir dies jedoch nie erzählt ... 
  
Marianne Liebermann mit dem Kabarettisten Thomas Maurer bei einer Lesung aus ihren Memoiren
 DAVID: Ihr Vater war mosaischen Glaubens. War Ihnen dies als Kind    bewusst? 
 M. Liebermann: Nein, überhaupt nicht. Mein Vater war völlig assimiliert.    Im Ersten Weltkrieg hatte er als Stabsarzt gedient. Wir lebten ein ganz normales    bürgerliches Leben im achten Bezirk, wo mein Vater auch seine Arztpraxis hatte.    Ich wuchs im evangelischen Glauben auf. Nach dem Anschluss war ich völlig    überrascht, dass mein Vater auf einmal als Jude galt und ich erfuhr, dass ich    vaterseits zwei jüdische Großeltern gehabt hatte. Ich war daher laut den    Rassegesetzen ein Mischling ersten Grades. Zu den Diskriminierungen gehörte,    dass mir eine höhere Schulausbildung verwehrt war. 
 
 DAVID: Welche Rolle hat Religion in Ihrem Leben gespielt? 
 M. Liebermann: Immer eine große. Aber ich bin auch immer sehr kritisch    gegenüber allen, wie soll ich sagen, "organisierten" Religionen eingestellt    gewesen. 
 
 DAVID: Wie veränderte sich Ihr Leben nach dem "Anschluss"? 
 M. Liebermann: 1939 floh mein Vater nach Frankreich, zuerst nach Nizza,    später wurde er in Les Milles interniert. Über Spanien und Portugal schaffte er    es, 1941 nach New York auszuwandern. Davon wusste ich jedoch damals nichts.    Meine Mutter und ich, wir lebten damals gerade bei Verwandten in Slowenien, die    meiste Zeit in Marburg, in das wir ebenfalls 1939 geflohen sind. 1941 brachte    sie mich zu Verwandten nach Laibach, ihrer Geburtsstadt, und kehrte alleine nach    Wien zurück. Wahrscheinlich hatte sie damals Angst, wir würden unserer Wiener    Wohnung und der letzten Besitztümer beraubt werden. Nachdem ich in Laibach meine    Unterkunft verloren hatte, schlug ich mich über Marburg und Graz nach Wien    zurück, wo ich meine Mutter wieder fand. Wir lebten bis Kriegsende in unserer    Wiener Wohnung. 
 
 DAVID: Sie waren 1941 erst 14 Jahre alt. Wie gelang es Ihnen, die Flucht    Ihres Vaters und Ihr eigenes Schicksal zu verarbeiten? 
 M. Liebermann: Ich war zwar erst 14, hatte aber das Gefühl, dass meine    Jugend damals, als ich aus Laibach nach Wien zurückkehrte, geendet hatte. Von da    an sah ich alles ungeschönt, mit wachen und offenen Augen. Ich hatte den    Eindruck, dass nichts mehr so ist, wie es scheint. Damals und erst recht in    späteren Jahren half mir die Malerei, sowohl die Ereignisse meiner Jugend zu    verarbeiten, sozusagen in eine wahre Perspektive zu rücken, als auch meine    Identität zu entwickeln. Die Zeichenkunst, das war mein Talent, das mir niemand,    auch nicht die NS-Rassengesetze nehmen konnte. Bis ich meine spätere    Kunstfertigkeit erreicht hatte, dauerte es jedoch noch lange. 
 
 DAVID: Dies passierte in den USA, wohin sie nach dem Krieg auswanderten? 
 M. Liebermann: Ja, neben der Arbeit besuchte ich in New York Abendkurse.    Mein Vater ist zwar in Österreich ein tüchtiger Arzt gewesen, hatte in Amerika –    er war ja erst als 65-Jähriger eingewandert – jedoch große    Anpassungsschwierigkeiten, vor allem beherrschte er kaum die englische Sprache.    Folglich musste ich die Familie ernähren. Leichter wurde es Anfang der fünfziger    Jahre, als ich mit meinem Mann nach Charlotte (New Orleans) zog. Ich half ihm in    der Firma, einer Knopffabrik, daneben hatte ich genügend Zeit, mich künstlerisch    zu betätigen. 
 
 DAVID: Hatten Sie ein künstlerisches Vorbild? 
 M. Liebermann: Großen Eindruck hat auf mich eine dreiwöchige Reise nach    Mexiko hinterlassen, die ich mit meinem Mann 1964 unternommen habe. Wir hatten    dafür lange gespart, und außerdem war es die erste Reise ohne unsere Kinder.    Besonders beeindruckt hat mich das Werk von Frieda Kahlo, deren Haus – heute ist    es ein Museum – wir besuchten. Aus ihren Bildern schrie ihr Schmerz richtig zu    mir auf! Diese Eindrücke werde ich nie vergessen. 
 Wir sahen auch die Frescos und Skulpturen von Diego Rivera in Mexico City und an    anderen Orten. Faszinierend war für mich auch die Künstlerkolonie San Miguel de    Al-lende: Aus den ausgestellten Bildern sprach so viel Freude am Malen, dazu    noch die Architektur der ganzen Anlage, die Blumen. Einfach unvergesslich! 
 
 DAVID: Wann waren ihre Bilder erstmals in einer größeren Ausstellung zu    sehen? 
 M. Liebermann: Meine erste Einzelausstellung fand im Jänner 1965 statt,    also kurz nach unserer Mexiko-Reise. Für diese stellte ich mir selbst eine große    Herausforderung: Nicht nur wollte ich das bislang größte Bild meines Lebens    malen. Ich wollte auch meine inneren Gefühle ausdrücken, meine letztlich nicht    beantwortbaren Fragen darin verarbeiten, über die Grausamkeiten der Menschheit,    die Versäumnisse der institutionalisierten Religionen, die    Verbesserungsfähigkeit der Menschen oder wie ich meinen Kindern den    bestmöglichen Schutz angedeihen lassen könnte. 
 Das Malen des Bildes, in dessen Mittelpunkt eine Frau steht – der Titel lautete    "Artist as Mother" –, war ungemein wichtig für meinen Selbstfindungsprozess. Ich    erinnere mich noch genau: In dem Augenblick, in dem ich die Füße des Modells    malte, wurde mir bewusst, wie wichtig es ist, Wurzeln zu haben. 
 
 DAVID: Natürlich lebt eine Künstlerin vom Verkauf ihrer Werke, vielen    fällt es aber schwer, sich von ihren zu trennen. Wie geht es Ihnen damit? 
 M. Liebermann: Ich war ungemein froh, dass sich das Bild "Artist as    Mother" auf der Ausstellung nicht verkaufte. Das Lob des Kurators für dieses    Gemälde war für mich der schönste Erfolg. Die meisten anderen Bilder konnten    verkauft werden. Mir fiel es jedoch sehr schwer, mich von ihnen zu trennen – ich    fühle mich mit meinen Bildern innerlich eng verbunden, sie stellen einen Teil    von mir dar. 
 Aufgrund der großen Nachfrage nach meinen Werken wollte mich das Museum mit dem    Malen neuer Bilder beauftragen. Doch ich lehnte ab. Ich hatte einfach zu große    Angst, dass ich den emotionalen Bezug zu den Bildern verlieren würde, dass das    Malen für mich zur Routine würde, dass ich keine neuen Inhalte mehr, sondern nur    noch stilistische Formen vermitteln könnte. Genau das wollte ich vermeiden. Der    Akt des Malens, das ist für mich ein spirituelles Erlebnis. Mir geht es darum,    dass sich meine Emotionen beim Malen, wie in einem Trance-Zustand, aus meiner    Hand auf die Leinwand übertragen. 
 
 DAVID: Sie leben jetzt seit 60 Jahren in den Vereinigten Staaten - fühlen    Sie sich trotzdem noch als Wienerin? 
 M. Liebermann: Ja, ich fühle mich als Wienerin. Ich kenne hier, natürlich    vor allem im achten Bezirk, noch jede Gasse. Beim Spazieren gehen werden überall    Erinnerungen an meine Familie, an meine Jugend wach. 
 DAVID: Frau Liebermann, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche    Ihnen viele Leser und Leserinnen für Ihr Buch. 
Das Gespräch führte Alfred Gerstl.