Vor neun Jahren traf ein Brief aus Australien in Steyr ein. Geschrieben hat ihn Hanna M., die damals einundsiebzig Jahre alt war und die oberösterreichische Kleinstadt nur einmal, wenige Stunden oder Tage lang, besucht hat. Aber ihre Familie – ihr Großvater Heinrich Schön, ihre Großmutter Eleonora, ihre Onkeln und Tanten und auch ihr Vater Erwin – hatten hier gelebt, und nun wandte sie sich an die Stadtgemeinde mit der Bitte, ihr mit Auskünften weiterzuhelfen: Wann ihre Angehörigen eigentlich nach Steyr gekommen seien, wo ihr Großvater geboren und gestorben sei, wann und wo er geheiratet habe und was sonst noch in den Annalen der Stadt verzeichnet sei.
Die Antwort des damaligen Bürgermeisters war freundlich und unverbindlich: Leider könne man ihr nicht weiterhelfen, die einschlägigen Unterlagen seien nicht mehr vorhanden. Hätte das Stadtoberhaupt freilich im Buch „Vergessene Spuren" nachgeschlagen, in dem Waltraud Neuhauser-Pfeiffer und ich das jüdische Steyr beschrieben hatten, wäre es ihm nicht schwer gefallen, Hannas Fragen zu beantworten. Und im hauseigenen Stadtarchiv hätte er noch mehr Material gefunden. Nur gut, dass die Frau sich mit der abschlägigen Auskunft nicht zufrieden gab und vor zwei Jahren, per Internet über eine Suchanfrage zum Stichwort Steyr, auf die Buchautoren zukam.
Die Synagoge von Steyr Anfang des 20.Jahhunderts
So erfuhr sie, dass Heinrich Schön um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Weletein geboren wurde. Weletein war zur damaligen Zeit ein kleines ostmährisches Bauerndorf. Niedrige Streckhöfe, strohgedeckt, an einem kleinen Fluss gelegen, der nach Regenfällen anschwoll und die Felder überschwemmte. Es darf bezweifelt werden, dass in dieser Ortschaft eine jüdische Gemeinde bestand. Vermutlich besuchte die Familie Schön am Sabbat eine Synagoge in der nahen Stadt Ungarisch-Hradisch. Dort absolvierte Heinrich Schön auch die Unterreal- und die Talmudschule, brachte es später zum Rabbiner im schlesischen Freiwaldau. Mit einunddreißig Jahren heiratete er; seine Frau Eleonora, die acht Kinder zur Welt brachte, stammte aus Triesch, dem Landstädtchen bei Iglau, in Südmähren, dessen Judenviertel als architektonisches Ensemble der Zeit der Verfolgung und Zerstörung widerstanden hat. In Triesch wurde übrigens auch Joseph Alois Schumpeter geboren, der als Nationalökonom Weltbedeutung erlangte, und Franz Kafka besuchte dort wiederholt seinen Onkel, den Landarzt Siegfried Löwy.
Es ist anzunehmen, dass die Tätigkeit in Freiwaldau Heinrich Schön nicht befriedigte. Vielleicht war sie auch nur befristet, oder er wollte sein Rabbineramt in einer größeren Stadt ausüben, in der er sich bessere Bedingungen für Arbeit und Familie erwartete. Jedenfalls bemühte er sich um eine Versetzung und erhielt die Erlaubnis, ab dem Schuljahr 1895/96 an der k.k. Staats-Oberrealschule Steyr Religion zu unterrichten. Zur selben Zeit wurde auch der Posten des Rabbiners vakant. Zweiunddreißig Männer bewarben sich um das Amt, die Wahl der Gemeindevorsteher - die Kultusgemeinde existierte erst seit zwei Jahren - fiel auf Heinrich Schön, weil er die besten Zeugnisse vorweisen konnte. Im November 1896 legte er seinen Amtseid in die Hand von Bürgermeister Johann Redl ab; er gelobte Treue zum Kaiser, und dass er seine Pflichten als Rabbiner von Steyr genau und gewissenhaft erfüllen werde. Als erstes musste Schön die Geburts-, Trauungs- und Sterbebücher in Ordnung bringen. Offenbar hatten es seine Vorgänger, die immer nur kurz im Amt gewesen waren, mit den Eintragungen nicht besonders genau genommen. Die k.k. Statthalterei, heute würde man Landesregierung sagen, und der Bürgermeister drängten darauf, diese Missstände abzustellen.
Die Steyrer Rabbinerfamilie Schön 1905/06
Eigentlich hätte Heinrich Schön, um sein Amt ausüben zu können, das Maturazeugnis einer staatlichen Oberrealschule vorweisen müssen. Die Behörden sahen über diese Erfordernis hinweg – einerseits deshalb, weil er schon als Rabbiner tätig gewesen war, andererseits aufgrund der finanziellen Notlage der Steyrer Kultusgemeinde, die sich einen akademisch gebildeten Rabbiner nicht hätte leisten können. Außerdem bestätigten ihm die Mitglieder der Gemeinde, dass er seine Arbeit zu ihrer vollsten Zufriedenheit ausführe. Von Ignaz Schulhof, seinem Vorgänger als Religionslehrer, ist bekannt, dass er in einem Lehrerzimmer unter Aufsicht des Direktors unterrichten musste und wegen der geringen Schülerzahl vom Staat nicht entlohnt wurde. Wahrscheinlich traf dies auch auf Heinrich Schön zu. Aber immer gab es unter den 130 bis 150 Realschülern einige, die mosaischen Bekenntnisses waren. Im Schuljahr 1904/1905 unterrichtete Schön zum Beispiel den damals vierzehnjährigen Josef Sommer, dessen Eltern in Reichraming eine große Messingfabrik besaßen. Einer von Sommers Mitschülern in der vierten Klasse war Adolf Hitler, der ein Jahr lang in Steyr zur Schule ging. Unbekannt, wie Hitler sich seinem einzigen jüdischen Mitschüler gegenüber verhielt. Über einen jüdischen Lehrer, der Physik oder Chemie unterrichtete, äußerte er sich später voll Verachtung; der jüdische Religionslehrer der Schule fand keine Erwähnung.
Josef Sommer maturierte 1908 mit Auszeichnung und schloss seine Ausbildung an der Technischen Hochschule in Zürich mit dem Titel Ingenieur ab. Schon vorher hatte sich bei ihm eine Gehbehinderung – vermutlich durch Kinderlähmung verursacht – bemerkbar gemacht. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm er den elterlichen Betrieb und führte ihn gemeinsam mit seinem Schwager Franz Popper, ehe er 1928 Konkurs anmelden musste. Er beschäftigte sich mit philosophischen Themen, veröffentlichte Anfang der dreißiger Jahre auch ein Buch über Friedrich Nietzsche und korrespondierte mit Thomas Mann. Die einzige Gegenstimme in Reichraming, bei der Volksbefragung vom 10. April 1938, mit der die Annexion Österreichs an das Deutsche Reich vollzogen wurde, stammte von seiner langjährigen Freundin Maria Blochberger. Im November 1938 musste Sommer gemeinsam mit seiner Mutter die Ortschaft verlassen und in Wien Wohnsitz nehmen. Am 12. Mai 1942 wurde er nach Izbica deportiert, dort ermordet. Seine Schwester Martha, die ihm finanziell immer wieder unter die Arme gegriffen hatte, war einige Monate vorher nach Theresienstadt transportiert, dann in Auschwitz vergast worden. Auf einem Foto, das Verwandte über die Jahre gerettet haben, ist Josef Sommer zu sehen: schmales, längliches Gesicht, schütteres Haar, aufmerksam prüfender Blick. Nur dieses eine Bild ist von ihm geblieben. Kein Grab, kein Gedenkstein.
Um 1900 zählte die Israelitische Kultusgemeinde Steyr an die zweihundert Mitglieder, von denen allerdings nur vierzig zahlungspflichtig waren. Von daher rührten die ständigen Geldsorgen, mussten doch der Rabbiner und die Einrichtungen der Gemeinde von der Kultussteuer bezahlt werden. Heinrich Schön verlangte, dass sein Gehalt wenigstens der Teuerungsrate angeglichen werde, was angesichts seiner vielen Kinder auch bitter notwendig gewesen wäre. Aber der Vorstand der Kultusgemeinde gewährte ihm nur eine kleine Zulage. Einmal wurde er sogar gekündigt, dann wieder eingestellt. Eine Lösung des finanziellen Engpasses schien sich durch die Einführung von Gebühren für Trauungen durch die k.k. Statthalterei abzuzeichnen, nur war in einer derart kleinen Kultusgemeinde auch damit nicht viel zu verdienen. So oft wurde schließlich nicht geheiratet. Also lebte die Familie in bescheidenen Verhältnissen. Ihre Wohnung befand sich im selben Haus in der Bahnhofstraße, in dem auch die Synagoge untergebracht war. Dort kam Heinrichs und Eleonoras jüngstes Kind zur Welt, Erwin.
Dessen Tochter Hanna besitzt ein sepiafarbenes Foto der Rabbinerfamilie. Es ist undatiert, aber Hanna glaubt zu wissen, dass die Aufnahme 1905 oder 1906 gemacht wurde. In der Bildmitte, an einem kleinen rechteckigen Tisch, sitzen Heinrich und Eleonora Schön; er Mitte fünfzig, breitschultrig, mit ausgeprägter Stirnglatze und grauem Vollbart, der die Oberlippe verdeckt. Dünne Brauen, darunter kleine, scharf blickende Augen, in denen der Betrachter sowohl Gelassenheit als auch Kraft wahrzunehmen glaubt. Heinrich trägt einen dunklen Anzug, unter der Jacke ein weißes Hemd mit schmalem Kragen, darüber eine Krawatte. Eleonoras üppige Gestalt steckt in einem bodenlangen Kleid, über das die lange zierliche Kette eines Monokels verläuft, um den Hals hat sie ein Tuch gebunden. Die Haare sind in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf hochgesteckt. Wegen der Tränensäcke unter den Augen und den leicht nach unten weisenden Mundwinkeln wirkt sie müde und abgekämpft. Ihre rechte Hand, mit dem Ehering am Mittelfinger, ruht auf dem Oberschenkel, mit der Linken stützt sie sich auf den Tisch. Dort liegt auch ein aufgeschlagenes Buch, es könnte sich um das Fotoalbum der Familie handeln.
Links von der Mutter sitzt die damals zwölfjährige Theresa. Das dunkle Kleid mit Pluderärmeln und die hohen Schnürschuhe passen nicht recht zu ihrem kindlichen Gesicht, in dem Neugier und Misstrauen einander die Waage halten. 1920 sollte sie in Wien den aus Sachsen stammenden Vertreter Max Epperlein heiraten, der nach den Nürnberger Rassegesetzen als Arier galt. Deshalb, und weil er zu ihr hielt, konnte Theresa den Naziterror überleben. Sie starb 1970 und ist in Wien begraben.
Der Steyrer Rabbiner Heinrich Schön
Rechts vom Vater steht Erwin, neun Jahre alt. Er war nicht nur der jüngste, sondern auch der einzige der Familie, der in Steyr geboren wurde. Den linken Arm hat er in die Hüfte gestemmt, das linke Bein lässig nach vorn geschoben. Er lächelt zwar nicht, scheint von der Situation im Fotoatelier aber auch nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Seine Tochter schreibt, dass er sich später gern an seine Kindheit und Jugend erinnert habe. In Steyr habe er Freunde gewonnen, die ihm sein ganzes Leben lang treu geblieben seien. In der siebten Klasse der Oberrealschule zeichnete er den Ortskai, alte, mittelalterliche Häuser, darüber der Wehrturm auf dem Tabor. Das Bild hängt heute in Hannas Wohnzimmer. 1955 kam sie während einer Europareise nach Steyr und ließ sich von einem Schulfreund ihres Vaters durch die Stadt führen. Ihre Tochter, Erwins Enkelkind also, besuchte Steyr erst vor wenigen Jahren. Sie war einigermaßen überrascht zu sehen, dass vor dem Geburtshaus ihres Großvaters und der beruflichen Wirkungsstätte ihres Urgroßvaters eine Gedenktafel angebracht ist.
Rechts neben Erwin sitzt, auf dem Familienfoto, seine vierzehnjährige Schwester Ida. Wie Theresa trägt sie hohe Schnürschuhe, dazu einen dunklen Rock, eine etwas hellere Bluse und eine Halskette. Sie hält ein Buch in den Händen, und ihr Blick ist skeptisch, auch ein wenig unsicher. Im Jahr 1930 zog Ida nach Wien. Dort führte sie zwei Jahre lang, bis zu deren Ableben, den Haushalt ihrer Mutter. Ida wurde am 27. April 1942, genau einen Monat nach ihrem fünfzigsten Geburtstag, nach Wlodawa deportiert, das elf Kilometer vom Vernichtungslager Sobibór entfernt lag. Von den neunhundertneunundneunzig nach Wlodawa deportierten österreichischen Juden haben nur drei überlebt. Ida Schön war nicht darunter.
In der hinteren Reihe steht ganz links Gertrud, die älteste Tochter des Ehepaars Schön. Sie ist zum Zeitpunkt der Aufnahme dreiundzwanzig Jahre alt, hat das runde Gesicht ihrer Mutter und trägt das Haar hochgesteckt. In ihrer Bluse aus Seide oder Satin wirkt sie fast vornehm. Auch sie übersiedelte nach Wien, wo sie 1929 Ignaz Mautner heiratete, der als Ingenieur in der Simmeringer Waggonfabrik arbeitete. Zwölf Jahre später wurde Gertrud nach Kowno deportiert. Weiteres Schicksal unbekannt, heißt es, aber es gilt als sicher, dass auch sie ermordet wurde. Die Tante Trude, erzählt Hanna, hat immer gesagt, der liebe Gott wird nichts Böses zulassen.
Neben Gertrud sitzt ihre sechzehnjährige Schwester Elsa. Sie hat dunkles Haar, trägt ein helles Kleid. Die rechte Hand liegt auf der Schulter ihrer Mutter. Man merkt, es ist ihr nicht angenehm, für das Foto in dieser starren Haltung ausharren zu müssen. Sie schaut an der Kamera vorbei, wie auf der Suche nach einem verlässlichen Anhaltspunkt. In Wien, später, war sie als Büroangestellte tätig. 1939 gelang ihr die Flucht nach England, wo sie als Haushaltshilfe unterkam. Sie war schon über fünfzig, als sie Abraham Griechendler heiratete, einen sehr frommen Juden. Die beiden wanderten nach Kriegsende nach Australien aus und ließen sich in Sydney nieder, wo Elsa 1954 starb. Nach ihrem Tod brach der Kontakt zwischen Hannas Familie und Griechendler ab. Hanna weiß daher auch nicht, was aus ihm geworden ist.
In der Mitte des Bildes, hinter seinen Eltern, ist Emil zu sehen. Er ist der größte von allen, steht da mit verschränkten Armen, so dass man den Manschettenknopf an einem Hemdsärmel sehen kann. Möglich, dass er seinen Anzug zur Maturafeier getragen hat, möglich auch, dass das Foto überhaupt aus diesem Anlass, der mit Auszeichnung bestandenen Matura, aufgenommen wurde. Er hat die Haare straff nach hinten gekämmt, und auf seiner Oberlippe sprießt ein zarter Jungmännerbart. Ein ernstes Gesicht, ein aufrechte Haltung. Das Empfinden, der weiß, was er will. In Wien studierte er vermutlich an der Technischen Hochschule, erwarb den Ingenieurtitel und heiratete Rosa Uprimny, die ebenfalls in Steyr aufgewachsen war. Emil Schön starb schon im September 1918, mit einunddreißig Jahren, an einer Knocheninfektion, die heutzutage mit Antibiotika leicht heilbar wäre.
Neben Emil, in einem dunklen, matt glänzenden Kleid, steht Paula. Sie war damals einundzwanzig Jahre alt, arbeitete später als Erzieherin und hat mit ihrer Schwester Elsa in Wien-Ottakring, Lerchenfelder Gürtel 45, gewohnt. Andere über sie vorliegende Informationen sind widersprüchlich: Sie soll schon 1926 in Wien gestorben sein; nein, sie habe 1932 den aus Steyr stammenden und hier auch tätigen Zivilgeometer Ernst Gall geheiratet, einen Schulkollegen ihres Bruders Erwin. Erwiesen ist, dass sie 1924 noch in Steyr, auf der Promenade Nummer 12, gemeldet war.
Das Mädchen ganz rechts, in einem Kleid mit hellem Gürtel und weißem Kragen, heißt Klara. Sie ist siebzehn, sieht aber älter aus. Mit vierundzwanzig wird sie im Tempel der Israelitischen Kultusgemeinde Siegfried Pächter heiraten, einen Angestellten der Hamburg-Amerika-Linie. Pächter stirbt früh. Als Witwe zieht Klara in die Wohnung ihrer Schwester Elsa und muss sich in den zwanziger Jahren mehrmals einer Behandlung in der Wiener Pflegeanstalt Am Steinhof unterziehen, ehe man sie in die Linzer Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart einweist. Schizophrenie, lautet die Diagnose der Ärzte. Von Niedernhart wird Klara Anfang Juni 1940 nach Hartheim gebracht und vermutlich noch am Tag ihrer Einlieferung ermordet. Wie üblich werden die Angehörigen über das wahre Schicksal belogen - in ihrem Fall heißt es, sie sei nach Brandenburg verlegt worden. Nach drei Wochen trifft wahrscheinlich, wie in allen anderen Fällen, die Meldung von ihrem Ableben ein. Als Todesursache wird Herzschwäche oder Lungenentzündung angegeben.
In Hartheim versah ab Dezember 1940 übrigens der Steyrer Kriminalbeamte Franz Reichleitner als stellvertretender Büroleiter seinen Dienst. Zeugen nennen ihn einen perfekten Bürokraten, der die Tötungsmaschinerie vom Schreibtisch aus mit großer Präzision in Gang hielt. Als sein Vorgesetzter Franz Stangl zum Kommandanten des Vernichtungslagers Treblinka aufstieg, avancierte auch Reichleitner – zum Kommandanten von Sobibór. Offiziell hieß es aber, er sei zur Gestapo nach Linz versetzt worden. Durch den Zubau von Gaskammern wurden in Sobibór täglich bis zu 1.200 Menschen ermordet. Unter Reichleitners Kommando, von September 1942 bis Oktober 1943, dürften zwischen 150.000 und 200.000 europäische Juden getötet worden sein. Einer von ihnen war der Steyrer Ludwig Kornfein, ein ehemaliger Schüler der Oberrealschule am Michaelerplatz. Er war zum Zeitpunkt seines Todes zweiundfünfzig Jahre alt. Franz Reichleitner wurde nach einem Aufstand im Lager im Oktober 1943 nach Italien oder Jugoslawien versetzt, Anfang 1944 von Partisanen erschossen. „Im Dienst verstorben", lautete die offizielle Todesnachricht.
Klara Pächters Name steht auf dem Grabstein ihrer Eltern am Wiener Zentralfriedhof. Es ist ungewiss, ob ihre Urne tatsächlich dort beigesetzt wurde. Auch in der Gedenkstätte von Schloss Hartheim ist ihr Name verzeichnet. Ihrem Bruder Erwin gelang es Ende 1938, zusammen mit seiner Frau Ludmilla und der damals dreizehnjährigen Tochter Hanna nach Shanghai zu flüchten. In Genua gingen sie an Bord eines Schiffes, das durch den Suezkanal nach China fuhr. Für Shanghai wurde kein Einreisevisum verlangt, man benötigte auch keine Bürgschaft. Die Flüchtlinge trugen bei ihrer Ankunft eine Barschaft von zehn Reichsmark, vier Dollar nach dem damaligen Wechselkurs, bei sich. In Wien hatte Erwin nach Ende des Ersten Weltkriegs, in dem er es zum Zugsführer gebracht hatte, Chemie studiert, das Studium aber aus finanziellen Gründen abbrechen müssen, sich und seine Familie später in mehreren Berufen, unter anderem als Gemischtwarenhändler, durchgebracht. In Shanghai versuchte er sich zunächst als Industriefotograf – die Fotografie war schon in Wien sein Steckenpferd gewesen -, bevor er sich wieder dem einstigen Studienfach zuwandte, als Chemiker in mehreren Betrieben arbeitete und mit Chemikalien handelte. Die letzten beiden Kriegsjahre musste die Familie, gemeinsam mit den anderen jüdischen Flüchtlingen, in einer Art Ghetto zubringen. Ein Jahr nach der Befreiung wanderte sie zu viert – Ludmilla hatte 1941 einen Sohn, Tom Hendrik, zur Welt gebracht – nach Australien aus. Gemeinsam mit einem einheimischen Partner baute Erwin Schön einen Betrieb auf, der Lacke produzierte. Er brachte seine Sachkenntnisse ein, sein Partner war für die Finanzen zuständig. Nach Beendigung der Zusammenarbeit handelte Erwin wieder mit Chemikalien. Er starb mit zweiundsiebzig, seine Frau mit sechsundneunzig Jahren.
Heinrich Schön war am 14. Mai 1926 in Wien gestorben. Sein Rabbineramt in Steyr dürfte er bis kurz vor seinem Tod ausgeübt haben. Vermutlich wurde er deshalb in Wien begraben, weil seine Kinder dort lebten. Die Todesursache ist unbekannt. Im Jahresbericht des Schuljahres 1925/26 der k.k. Staats-Oberrealschule Steyr wurde sein langjähriges Wirken mit folgenden Worten gewürdigt: „Heinrich Schön, welcher durch 31 Jahre Seelsorger der israelitischen Kultusgemeinde war und als solcher seit dieser Zeit selbstlos auch den israelitischen Religionsunterricht an der Anstalt erteilte, hat sich wegen seines stets vornehmen und konzilianten Wesens nicht nur bei seinen Glaubensgenossen, sondern weit über deren Kreis hinaus große Sympathie erworben." Willi Nürnberger, der Sohn des letzten Steyrer Rabbiners, hat mir versichert, dass von Schön immer mit großer Hochachtung gesprochen worden sei. Beim Betrachten eines zweiten Fotos, das ihn im Alter zeigt, ergreifen mich sein gütiges Gesicht und seine bescheidene, unprätentiöse Körperhaltung. Als habe Heinrich Schön das Leben in all seinen Höhen und Tiefen erkannt. Schwer zu sagen, ob er geahnt hat, was seinen Kindern und seiner Gemeinde bevorstand.
Was von der Familie geblieben ist: Ein Grab in Wien; zwei braunstichige Fotos; ein Nachruf im Jahresbericht der Schule; einige Briefe und Aktenstücke; ein Amtseid auf einem vergilbten Blatt Papier; eine Buchseite. Eine alte Frau in Australien, ihr Bruder, ihre Tochter. Als Heinrich Schön starb, war Hanna gerade ein Jahr alt.
Und ich stelle mir vor: Es gibt sie noch, die Jüdische Gemeinde von Steyr. Ihre Synagoge ist kein Drogeriemarkt. Schüler hier lernen etwas über jüdische Religion. Und Hanna lebt in der Stadt, in der ihr Großvater Rabbiner war.
Karl Ramsmaier, Hannas Familie, in: Erich Hackl / Till Mairhofer, Das Y im Namen dieser Stadt. Ein Steyr Lesebuch, Steyr 2005