Erst langsam beginnt man die Bedeutung der Autobiographie als  interessante historische Quelle zu erkennen. Eine der spannendsten  Autobiographien stammt von Gerhard Gershom Scholem (1897-1982), der vor allem  als Kabbala-Erforscher bekannt ist. Mit 80 Jahren veröffentlichte er 1977 seine  Jugend-erinnerungen unter dem Titel „Von Berlin nach Jerusalem". In zehn  Kapiteln lässt er seinen intellektuellen Werdegang Revue passieren und liefert  dabei ein manchmal sarkastisch – polemisches Bild des Berliner Judentums der  Weimarer Republik. Er erzählt - wobei er geschickt berlinerische Redewendungen  einfließen lässt - von seiner Familie, dem Studium, dem ersten Weltkrieg und wie  er als engagierter Zionist schließlich nach Jerusalem auswanderte. Mit dem  Hinweis auf seine Antrittsvorlesung an der Hebräischen Universität (1925) enden  diese lebhaft erzählten Erinnerungen, in denen Scholem auf einzigartige Weise  auch berühmte Zeitgenossen wie Hermann Cohen, Martin Buber, Franz Rosenzweig  oder Walter Benjamin porträtiert. 1982 erweiterte er diesen Band für die  hebräische Übersetzung, wobei er aber nicht über den gesteckten Rahmen „bis  1925" hinausging. Er betonte in dieser erweiterten Ausgabe für das israelische  Publikum die Schilderung des frühen Zionismus. 1994 erschien dann schließlich  posthum eine überarbeite Fassung der deutschen Ur-Fassung, in der die fehlenden  Teile aus der hebräischen Version – sichtbar kursiv gestellt - eingearbeitet  wurden. Mittlerweile sind leider beide Ausgaben vergriffen. Wer sich für  Scholems weiteren Werdegang und seine oft heftigen Auseinandersetzungen mit  berühmten Persönlichkeiten des jüdischen Lebens, wie Martin Buber oder Jacob  Taubes, interessiert, muss auf den mittlerweile veröffentlichten Briefwechsel  zurückgreifen. Foto: A. Bernheim, Jerusalem. Courtesy of the Hebrew  University of Jerusalem Gerhard (Gershom) Arthur Scholem wurde 1897 als Sohn einer  jüdischen Familie in Berlin geboren. Seine Familie war ein Musterbeispiel des  deutsch-assimilierten Judentums. Hier fand man die jüdische Tradition nur noch  rudimentär. Die abweisende Haltung zur jüdischen Tradition war für die Zeit kein  besonderer Einzelfall, wie wir bei den Erinnerungen von Schalom Ben-Chorin oder  Ernst Simon sehen können. Nach einer Statistik von 1927 lebten 1925 172.672  Juden in Berlin. Das waren 4,3 % der Gesamtbevölkerung. Die Mehrheit der Juden  Berlins gehörte der liberalen, „deutsch-gesinnten" Gruppierung an. Sie sollten  ihre schärfsten Gegner in den Zionisten finden, die die Juden als ein Volk, eine  Nation sahen. Der Zionismus mit seinem nationalen Ideal sah sich von Anfang an  in Deutschland im Kampf mit der sogenannten Assimilation. Das lag auch zum  großen Teil daran, dass die Emanzipation und die bürgerliche Gleichberechtigung  eher dem Wunschdenken, als der Wirklichkeit entsprach. Die Gleichberechtigung  mußte doch letztendlich immer wieder individuell errungen werden. So lesen wir  bei Jakob Wassermann oder Hermann Cohen, die beide bedeutende Vertreter und  Verteidiger der deutsch-jüdischen Kultur waren, wie schwer der tatsächliche  Alltag von Deutschtum und Judentum gewesen war. Große Teile der nicht-religiösen  Jugend spürten diese Doppelbödigkeit. So auch Scholem, der das „deutschtümelnde"  Verhalten der Generation seiner Eltern eine Selbsttäuschung nannte. „Ich empfand die Atmosphäre in meinem Elternhaus, einem  jüdischen Bürgerhaus liberaler Färbung, in der das Jüdische eine untergeordnete  oder gar keine Rolle spielte - die empfand ich als inadäquat, und ich wehrte  mich dagegen und fand, dass meine Eltern in ihrem Anspruch auf das Deutsche sich  selber täuschten." („...und alles ist Kabbala", Gershom Scholem im Gespräch mit  Jörg Drews, München 1980, S.36.) Der Zionismus setzte bei dieser Orientierungslosigkeit an und  leistete vor allem bei der Jugend entscheidende Hilfe bei der Findung ihrer  eigenen jüdischen Identität. Die aufgegebene jüdische Tradition wurde nun  ersetzt durch ein, oft inhaltsloses, Bekenntnis zum Zionismus. Antizionismus,  deutscher Patriotismus und Ablehnung des Rituals waren die Hauptnenner der  liberalen Schicht, der seine Eltern angehörten. Die Familie war aus einem  Städtchen Niederschlesiens nach Berlin zu Beginn des 19. Jahrhunderts  eingewandert. In diesem Zeitabschnitt von der Auswanderung aus Schlesien bis zur  Geburt Gershom Scholems in Berlin kann man auch den Weg von der Orthodoxie  (Großvater Solm) bis zu einer fast völlig substanzlosen Auffassung des Judentums  (Vater Arthur) verfolgen, den die Familie gegangen war. „Der Übergang in unserer Familie von der Orthodoxie zu Beginn  des 19. Jahrhunderts zur bereits totalen Assimilation zu Beginn des 20.  Jahrhunderts war ein Zeitraum von drei Generationen - von meinem Großvater durch  meinen Vater zu meiner eigenen Generation. In der dritten Generation war die  Assimilation vollendet oder es schien zumindest so." (Scholem, Devarim be-go,  Band 1, Tel Aviv 1976 [hebräisch], S.11) Die jüdischen Riten wurden in der Familie Scholems  verwässert, teilweise lächerlich gemacht und in ihr Gegenteil verkehrt. „Bei uns zu Hause gab es nur wenige wahrnehmbare Relikte des  Jüdischen, so etwa im Gebrauch jüdischer Redewendungen, die mein Vater zwar  vermied und deren Gebrauch er uns verbot, meine Mutter aber gern verwandte(...)  Vom jüdischen Ritual wurden bei uns nur die als Familienfeste geltenden  Freitagabende und der Sederabend eingehalten, wo alle Scholems bei der  Großmutter und später bei meinem Vater oder turnusmäßig bei einem seiner Brüder  zusammenkamen. Der Kiddusch, der hebräische Sabbatsegen, wurde dabei noch – nach  einer traditionellen Melodie aus dem Hause des Großvaters - gesungen, aber nur  noch halb verstanden. Das verhinderte auch nicht, dass man sich nachher an den  Sabbatlichtern eine Zigarette oder Zigarre anzündete. Da das Verbot, am Sabbat  zu rauchen, zu den weithin bekanntesten jüdischen Vorschriften gehörte, lag  darin etwas wie bewusste Mockerei. In der Pessachwoche lagen Brot und Mazze in  zwei Brotkörben nebeneinander (...). Auch an den Hohen Feiertagen und besonders  am höchsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungstag, der von der überwiegenden  Majorität noch als Fasttag eingehalten wurde, ging mein Vater ins Geschäft, und  von Fasten war keine Rede." (Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, erweiterte  Fassung, Frankfurt a. M. 1994, S.16-17.) Dieses Durcheinander von Deutschtum und Judentum, welches  Scholems Eltern Arthur und Betty umgab, konnte ihn nur mit Argwohn erfüllen.  Solcherart vom Elternhaus in Bezug auf die jüdische Tradition irritiert und  verwirrt, begann er eine für seine Generation typische Suche nach der eigenen  Identität und Herkunft. Er verfolgte eine radikale Linie der persönlichen  Rückkehr zum Judentum, wobei er seinen Weg in einem Knäuel von innerjüdischen  Auseinandersetzungen und zunehmendem Antisemitismus von außen finden musste. Er  entwickelte dabei ein ganz spezifisches Zionismusverständnis, das neben der  Emigration nach Israel auch eine säkularisierte Rückkehr zu den jüdischen  Quellen beinhaltete. Ein Bruch mit der Welt seiner Eltern war dabei  unvermeidlich. „Ein junger Jude am Anfang dieses Jahrhunderts stand, wenn er  nicht aus der streng gesetzestreuen Minorität stammte, einem Prozess  fortschreitender geistiger Zerfaserung des Judentums gegenüber. Es gab da etwas  Atmosphärisches, was aus der Umgebung eindrang; etwas Bewusstes, indem sich der  Wunsch nach Selbstaufgabe und zugleich doch nach menschlicher Würde und Treue zu  sich selbst dialektisch verschränkten; etwas von bewusstem Bruch mit der  jüdischen Tradition, von der verschiedenartigste und oft seltsame Stücke  atomisiert noch herumlagen, und von nicht immer bewusstem Hineinschleudern in  eine Welt, die an deren Stelle kommen sollte." (Von Berlin, S.30) Scholem beschreibt in seiner Autobiographie auch die  Schicksale seiner drei Brüder, Reinhold, Erich und Werner. Der älteste Bruder  Reinhold stand politisch sehr rechts und wurde Mitglied der deutschen  Volkspartei. Er führte die Assimilation an das Deutsche noch weiter als der  Vater Arthur. So schrieb er in einem Brief seiner Mutter Betty an Gershom  Scholem folgenden Zusatz: „Meinem jüdischen Bruder viele Grüße." (Betty Scholem,  Gershom Scholem, Mutter und Sohn im Briefwechsel, 1917 – 1946, München 1989,  S.49). Scholem erzählte über ihn eine sehr bezeichnende Geschichte: „Er wollte mit Leib und Seele Deutscher sein, und nicht nur,  weil wir in diesem Land Bürgerrechte erhalten hatten. Später wurde er Mitglied  der Deutschen Volkspartei, die eine Partei der Mitte auf der Schwelle zum  Liberalismus und Konservatismus war. Vermutlich wäre er, wenn die  Deutschnationalen Juden als Mitglieder begrüßt hätten, dort eingetreten. Als wir  ihn, der 1938 nach Australien ausgewandert war, kurz nach seinem 80sten  Geburtstag in Zürich wiedersahen, fragte meine Frau, die sich in deutschen  Verhältnissen nicht auskannte, was er denn eigentlich sei. Er sagte, vielleicht  etwas überspitzt: Ich bin Deutschnationaler. Was, sagte sie, und das nach  Hitler? Ich werde mir doch meine Anschauungen nicht von Hitler vorschreiben  lassen, erwiderte er. Sie blieb sprachlos." (Von Berlin, S.47). Erich folgte der politischen Richtung der Eltern. Er war  Mitglied des Demokratischen Klubs und übernahm mit Reinhold den Druckereibetrieb  ihres Vaters. Werner vervollständigte das bunte Bild der Brüder: er wurde 1924  Reichstagsabgeordneter der KPD. Er, den die „Rote Fahne" als ultralinken  Intellektuellen einstufte, schloss die KPD 1926 aus der Partei aus. 1933 wurde  er von den Nazis verhaftet und 1934 freigesprochen. Er blieb aber in Schutzhaft  und trat den Leidensweg durch mehrere Konzentrationslager an. 1940 wurde er in  Buchenwald erschossen. Betty, Reinhold und Erich konnten rechtzeitig Deutschland  verlassen. Betty schrieb 1931 rückblickend über ihren Sohn Gershom und seinen  Zionismus: „Von diesem Zeitpunkt wohl interessierte er sich für  Hebräisch u. Zionismus, der damals ein Kampfschrei war u. viel Unfrieden in den  Familien verursachte. Denn die meisten Väter wollten nichts davon wissen u. auch  unser Vater war der Meinung, dass so betontes Nationaljudentum nur den  Antisemitismus verschärfen müsse, während doch der Zionismus ganz offensichtlich  nur dessen Folgeerscheinung war. Arthur reizte den Jungen fortgesetzt durch  Schimpfen auf die Zionisten (...). Gerhard wurde durch den Widerstand natürlich  keineswegs von seinen Ideen abgezogen, sondern begann einfach, die Türen zu  seinen Bezirken zu schließen. Er lernte Hebräisch u. las bei dem alten Rabbiner  Eschelbacher Talmud, ohne etwas davon verlauten zu lassen, sein Verkehr blieb  uns unbekannt." (Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.530-531). Scholem lernte Hebräisch bei seinem Religionslehrer Barol und  übte mit verschiedenen Grammatiken und Übungsbüchern zuhause. Um „ein Jude zu  werden", wollte er Hebräisch lernen und die Tradition erfahren. „Als ich nach Hause kam und sagte, ich denke, ich möchte ein  Jude werden, antwortete mir Papa mit der Maxime, die damals unter den Deutschen  Juden populär war: Juden sind nur gut, um in die Synagoge zu gehen (...). Ich  war nicht sicher, ob ich ein praktizierender Jude sein wollte. Aber ein Jude  wollte ich sein." (Devarim be-go I, S.14). Von nun an begann er regelmäßig die liberalen und dann auch  die orthodoxen Gottesdienste in den Synagogen zu besuchen. Die jüdische Gemeinde  Berlin hatte vor dem Ersten Weltkrieg verboten, dass in den Religionsschulen  offiziell Talmud oder ähnliche Quellen gelernt werden. Dies wäre nicht in  Einklang mit ihrer liberalen Gesinnung. Eine Anzahl von traditionellen Lehrern  hatten Klassen auch ohne Bezahlung eröffnet. In solch einer Klasse wurde er von  dem orthodoxen Rabbiner Isaak Bleichrode unterrichtet. Das Lernen der jüdischen  Quellen war ein fester Bestandteil von Scholems Zionismus-, bzw.  Judentumsverständnis. „Wenn ich mich frage, ob ich eigentlich je das hatte, was man  in meiner Beziehung zur Erfahrung des Jüdischen ein Erlebnis nennen dürfte, so  weiß ich nur eine Antwort. Das war die Erschütterung im Frühjahr 1913, als ich  an einem Aprilsonntag bei Bleichrode die erste Seite des Talmud im Original  lesen lernte (...). Es war meine erste traditionelle und direkte Begegnung nicht  mit der Bibel, sondern mit jüdischer Substanz in der Tradition. Jedenfalls hat  diese Begegnung meine Bewunderung für das Jüdische und meine Hinneigung dazu  mehr als jede andere, die ich dann später auf diesem Gebiet gehabt habe,  bestimmt." (Von Berlin, S.53). Mit großer Intensität arbeitete sich Scholem in das Studium  der jüdischen Quellen ein. Er wurde 1913 Mitglied der 1912 in Kattowitz  gegründeten „Agudas Jisroel", einer orthodoxen Weltorganisation. Er trat dort  nicht ein, um ein praktizierender Jude zu werden. Er wollte das Wissen der  religiösen Schriften vertiefen. „Mir gefiel auch die neue Formulierung der Aguda, da der  `Geist der Tora´ mir durchaus sympathisch war. Diese Formulierung war aber ein  Stück orthodoxer Diplomatie, denn sie meinte gar nicht den Geist der Tora,  sondern viel präziser den Buchstaben des Schulchan Aruch." (Von Berlin,  S.56-57). Scholem war durch seine Erziehung viel zu weit von der  Orthopraxis entfernt, als dass diese eine große Anziehungskraft auf ihn haben  könnte. Das verdeutlicht sein Ausspruch zu den Speisegesetzen, der Kaschrut: „Kaschrut  zum Beispiel - Küchenjudentum - hatte wenig Attraktivität für mich." Scholem verließ die „Agudas Jisroel" 1914. Er lernte aber bei  anderen Lehrern - wie bei dem Rabbiner Ehrentreu in München - und im  Selbststudium bis zu seiner Auswanderung nach Israel 1923. Die von Bleichrode  geweckte Faszination der alten Quellen sollte sich mit seinem Interesse für  Geschichte verbinden und einen Eckpfeiler für seine spätere Entwicklung bilden.  Seine Rückkehr zum Judentum führte ihn weder zur Orthodoxie, noch zum reinen  Nationalismus. „Ich war nicht reif genug, um die Fronten und die unter so  vielen Formeln versteckten Alternativen deutlich zu erkennen und habe etwa zwei  Jahre gebraucht, um all diese Eindrücke aufzunehmen, und es brodelte vieles in  mir durcheinander. Bestimmend blieb aber der Wunsch, die Quellen der jüdischen  Tradition mir vertraut zu machen." (Von Berlin, S.62-63). Bei Scholems Zionismus stand die geistig-kulturelle  Erneuerung im Vordergrund. „In diesem Zusammenhang ist auch zu sagen, dass ich mich dem  Zionismus nicht zuwandte, weil mir die Errichtung eines jüdischen Staates (...)  als Hauptziel der Bewegung dringlich und durchaus einleuchtend war (...). Sehr  einflussreich waren dagegen Tendenzen, die die Besinnung der Juden auf sich  selbst, auf ihre Geschichte und eine mögliche Wiedergeburt geistiger und  kultureller, vor allem aber auch gesellschaftlicher Natur gerichtet waren. Wenn  irgendeine Aussicht auf eine wesentliche Erneuerung bestand, in der das Judentum  das ihm innewohnende Potential voll realisieren würde, so glaubten wir, könne  das nur dort drüben geschehen, wo der Jude sich selbst, seinem Volk und seinen  Wurzeln begegnen würde." (Von Berlin, S.61). Scholem begann früh eine Richtung einzuschlagen, die sehr von  Rebellion bestimmt war, wie seine Opposition gegen seinen Vater Arthur und das  deutsch-assimilierte Judentum der Familie. „Mein Herr Sohn betreibt lauter brotlose Künste. Mein Herr  Sohn interessiert sich für Mathematik, für reine Mathematik. Ich sage zu meinem  Herrn Sohn: Was willst du? Als Jude hast du keine Chance auf eine  Universitätslaufbahn. Du kannst keine bedeutende Stellung bekommen. Werde  Ingenieur und geh auf die Technische Hochschule, da kannst du soviel Mathematik  in deinen Mußestunden machen, wie es dir passt. Nein, mein Herr Sohn will nicht  Ingenieur werden, nur reine Mathematik. Mein Herr Sohn interessiert sich für  Jüdischkeit. Ich sage zu meinem Herrn Sohn: Bitte, werde Rabbiner, da kannst du  soviel Jüdischkeit haben wie du willst. Nein, mein Herr Sohn will auf gar keine  Weise Rabbiner werden. Brotlose Künste." (Von Berlin, S.71). Arthur fühlte sich als „deutscher Patriot". Er lehnte die  kommunistischen Aktivitäten seines Sohnes Werner ebenso als „Landesverrat" ab,  wie die späteren zionistischen seines Sohnes Gershom, der ihn mit  Hebräisch-lernen, Talmud-lesen und Emigration konfrontierte. Arthur griff die  Ideen von Werner und Gershom vehement an. Für ihn bedeutete Kommunismus und  Zionismus eine Kampfansage an die politischen Denkweisen seiner Schicht und der  Untergang des deutsch-assimilierten Judentums. Eine sehr bezeichnende Stelle  findet sich in einem Brief von ihm an Gerhard von 1917: „Solltest Du aber Deiner antideutschen Gesinnung irgendwie  erkennbaren Ausdruck geben, so würde ich das Tischtuch zwischen uns ebenso  zerschneiden, wie ich es mit Werner - leider zu spät - getan habe." (Mutter und  Sohn im Briefwechsel, S.14). Diese harten Worte schrieb er zu einer Zeit, in der ihre  Beziehung bereits hoffnungslos zerrüttet war. „Zwei weitere Tage später erhielt mein Vater die offizielle  Mitteilung der Behörde, dass sein Sohn [gemeint ist der Bruder Werner] verhaftet  und wegen Landesverrat vor ein Kriegsgericht kommen würde. Es gab eine  fürchterliche Szene am Mittagstisch. Als ich gegen eine seiner Behauptungen  leisen Einspruch erhob, bekam er einen Wutanfall. Er hätte nun genug von uns  beiden. Sozialdemokratie und Zionismus - alles dasselbe, kriegsgegnerische und  deutschfeindliche Umtriebe, die er in seinem Haus nicht weiter dulden würde. Er  wolle mich nicht weiter sehen."(Von Berlin, S.92-93). Wie ernst der Vater diesen heftigen Vorwurf gemeint hatte,  zeigt die Tatsache, dass er seinem Sohn einen Tag später einen eingeschriebenen  Brief schickt: „Ich habe mich entschlossen, für Dich nicht mehr zu sorgen  (...). Du hast bis zum 1.März meine Wohnung zu verlassen und wirst sie ohne  meine Erlaubnis nicht mehr betreten." (Mutter und Sohn im Briefwechsel, S.13). Allein Scholems Mutter sorgte dafür, dass auch weiterhin der  Sohn finanziell und materiell unterstützt wurde. Scholem, der Mathematik und  Philosophie studierte, hatte in den Jahren 1915-1919 zaghaft begonnen, auch  kabbalistische Texte zu studieren. Dann ging er nach München, um in der dortigen  Handschriftenabteilung ein intensives Quellenstudium zu betreiben. Sein  Interesse für Kabbala war durch Einfluss ostjüdischer Gelehrter, wie Salman  Rubaschow, aber auch Walter Benjamin und Martin Buber entstanden. Ein  bedeutender Ort für Scholem war hierbei die Berliner Pension Struck, in der er  seit seinem Auszug aus dem Elternhause wohnte. In Gesprächen mit Menschen wie  Salman Rubaschoff, Samuel Josef Agnon und Micha Berdichevsky entdeckte Scholem  Juden, die, anders als die deutschen Zionisten, sich trotz aller Abkehr von der  Orthodoxie, als Juden, als Volk, betrachteten und tief im Inneren mit dem  Judentum verbunden waren. Als er sich zu einer Dissertation über Kabbala  entschloß, übernahm er von der „Wissenschaft des Judentums" das Werkzeug, eine  streng rationalistische Philologie, eventuell von Benjamin das Problem der  Sprachtheorie und angeregt von Buber und den ostjüdischen Beziehungen den Stoff:  die Kabbala. Als er einige der kabbalistischen Meditationen auch versuchte  praktisch auszuprobieren, musste er allerdings feststellen, dass sie „geistesverwüstend"  seien. Daher blieb er zeitlebens bei der rein theoretischen Beschäftigung mit  der faszinierenden Materie. Scholem sah in der verschütteten und vielfach  geschmähten Kabbala einen Teil der jüdischen Geistesgeschichte, der  revolutionäre und anarchistische Utopien aufwies. Er stellte sich die Frage, ob  nicht dieses „unterirdische" Judentum das „eigentliche" sei. Scholem suchte die  jüdische Totalität, die er in seiner persönlichen Umgebung vermisste. Er  fahndete nach Wegen zum echten Kern des Judentums. Das Judentum bestand für ihn  aus einer pluralistischen Vielfalt von Möglichkeiten, Wahrheiten zu finden. So  ist es verständlich, dass er jede Form einer dogmatischen Theologie verachtete.  Judentum konnte für ihn nicht eindeutig definiert werden. Es war für ihn nicht  allein säkularer Zionismus oder religiöse Tradition. Judentum bedeutet eine  geschichtliche Aufgabe, die sich immer wieder neu stellt, solange es Juden gibt.  Er wollte kein versponnenes romantisches Fabulieren über die Zukunft des  Judentums, sondern das in die Krise geratene jüdische Selbstverständnis durch  das Versenken in die Vergangenheit modernisieren. Dieses neue jüdische  Geschichtsbewusstsein war ohne die Verknüpfung mit der Auswanderung nach Israel  und dem Erlernen der Hebräischen Sprache nicht denkbar. So verwundert es nicht,  dass er bereits 1923, nach Abschluss der Promotion, nach Israel einwanderte. Er  wurde Bibliothekar an der hebräischen Abteilung der Nationalbibliothek in  Jerusalem. Zwei Jahre später erfolgte seine Berufung als Dozent an die neu  gegründete „Hebräische Universität". „Jedenfalls wurde ich wenige Monate nach der mit großer  Feierlichkeit erfolgten Eröffnung der Universität (Anfang April 1925) als Dozent  für das bis dahin wissenschaftlich so gut wie unerforschte Gebiet der jüdischen  Mystik berufen und konnte meine ganze Arbeitskraft von meinem 28. Jahr an der  Forschungsrichtung zuwenden, die mein kurz vorher verstorbener Vater als  brotlose Künste beklagt hatte." (Walter Benjamin, S.162-163). Er blieb Erforscher der Kabbala und wurde selbst nie  Kabbalist. Seine Frau Fania erzählte später:
„1940 kamen die sieben größten praktizierenden Kabbalisten der Welt zu uns nach Jerusalem in die Abarbanelstraße an unseren Küchentisch und wollten das eine Wort von Gerhard haben, das einzige Wort, das Hitler tötet… Die sieben größten praktizierenden Kabbalisten der Welt… saßen um unsern Küchentisch, saßen vom Abendstern zum Morgenstern, beschworen Gerhard des einzigen Wortes wegen… Und als der Morgenstern untergegangen war…standen die sieben größten Kabbalisten auf vom Tisch und gingen fort, denn Gerhard… er hat es ihnen nicht gesagt, das Wort… Natürlich gibt’s das Wort…natürlich hat er es gekannt… (er hat es nicht gesagt), weil er gewusst hat… dass er nicht eingreifen darf in den Ablauf der Geschichte." (Ulla Berkowicz, Vielleicht werden wir ja verrückt, eine Orientierung im vergleichenden Fanatismus, Frankfurt a. M. 2002, S.74-75) Scholem blieb auch zeitlebens Zionist und gab seine Hoffnung auf eine geistige Renaissance des Judentums durch und in Israel nie auf. Er starb 1982 in Jerusalem.