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Claudio Magris erhielt den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 2006

Walter REICHEL

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„Claudio Magris trägt mit seinen Büchern viel dazu bei, dass sich Österreich selber besser versteht: Er schaut durch den Glorienschein der Mythen hindurch und erkennt dahinter die Wahrheit. Er ist ein skeptischer und unbestechlicher Freund. Gerade für diese Freundschaft danken wir ihm", sagte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel anlässlich der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur, der Ende Juli in Salzburg an den italienischen Schriftsteller und Wissenschafter Claudio Magris verliehen wurde.

Staatssekretär Franz Morak bei der Verleihung des Österreichischen Staatspreises

Kunststaatsekretär Morak würdigte in seiner Rede Claudio Magris als vielfältigen homo politicus, der sich in seinen Schriften nicht nur mit der Vergangenheit auseinandersetzt, sondern auch zum aktuellen politischen Geschehen Stellung nimmt. So war Magris etwa von 1994 bis 1996 Senator im italienischen Parlament. „Seit vielen Jahren erzählt Claudio Magris überdies als Schriftsteller von der Entgrenzung von Räumen, zu denen Künstler und andere Wahrheitssucher aufgebrochen sind. Ausgehend von seiner berühmten Studie zur österreichischen Literaturgeschichte hat er der kulturellen Öffentlichkeit verblüffend reiche und tiefe Einsichten vermittelt", so Morak.

Literaturprofessor, Schriftsteller, Gelehrter, Essayist, Übersetzer – das Wirken von Claudio Magris ist vielfältig und zeichnet sich durch Ideenfülle und Geistesreichtum aus. Magris wurde 1939 in Triest geboren, seit 1978 hat er eine Professur für Moderne deutschsprachige Literatur an der Universität Triest inne. Als Kolumnist und Essayist publiziert er in italienischen und anderen europäischen Zeitungen. Durch seine Studien zur mitteleuropäischen Kultur hat er sich vor allem in Italien zu deren größtem Förderer gemacht. Schon als Student der Germanistik ist er nach Wien aufgebrochen, das er als Zentrum seines Ideenreichs begriffen hat.

Bundeskanzler Wolfgang Schüssel würdigt den Preisträger

Mit 24 Jahren veröffentlichte Magris seine Studie über den „Habsburger Mythos in der österreichischen Literatur". Er erklärt den „habsburgischen Mythos" in der Literatur in den Nachfolgestaaten der Monarchie als „das Bemühen, für ein immer problematischer werdendes Staatsgefüge Existenzgründe zu finden und auf solche Weise die Energien von der konkreten Wahrnehmung der Wirklichkeit abzulenken." Magris stellte später klar, dass nur die Kritik am habsburgischen Mythos dessen „Faszination ins rechte Licht rücke und man ihr nur dadurch entgehen könne". Magris hat mit seinem Werk in Italien eine begeisterte Beschäftigung mit der österreichischen Moderne seit dem Fin-de-siecle ausgelöst. Die Thematisierung in der Wissenschaft, in den Medien und im Schulunterricht hat in Italien Millionen von Besuchern nach Österreich gelockt.

Magris´ andere große Leidenschaft ist das Wasser. Viele seiner Bücher verdanken ihre Entstehung Beobachtungen oder Erlebnissen an Gewässern, die er auf seine Reisen gemacht hat. Er ist ein leidenschaftlicher Liebhaber alles Fließenden, des Meeres und der Flüsse, dessen Schreiben aber gleichzeitig fest in der urbanen Kultur Mitteleuropas, in Turin, Prag, Budapest und Wien, wurzelt. Er ist ein leidenschaftlicher Reisender und passionierter Flaneur durch die europäische Kultur, dessen Anker aber unübersehbar in seiner Heimatstadt Triest liegen. Italienische wie deutschsprachige Leser verdanken Magris viel an Übersetzungs- und Vermittlungsarbeit zwischen ihren jeweiligen Literaturen und Kulturen. Dem deutschsprachigen Leser hat er Umberto Saba und Ippolito Nievo nahe gebracht, den Italienern Franz Grillparzer, Arthur Schnitzler, Joseph Roth, Georg Büchner oder Elias Canetti. Für ihn gilt: Grenzen sind lebenswichtig, aber nicht als Abschottung gegenüber der Welt. Deshalb vielleicht auch seine Liebe zum Fließen. Flüsse münden schließlich immer in das grenzenlose Meer.

Der Preisträger Claudio Magris

Er verdanke Österreich und dessen Kultur sowie seinen österreichischen Freunden sehr viel, sagte Magris in seiner Dankesrede anlässlich der Preisverleihung. Die Freunde seien der Grund dafür, dass er heute in den Spiegel schauen könne. Mit einem Augenzwinkern zitierte er am Schluss seiner Rede Robert Musil: „Oft wurde in Österreich schon ein Genie für einen Lümmel gehalten, nie aber ein Lümmel für ein Genie."

In seiner Würdigung erinnerte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel an die Geschichte des österreichischen Staatspreises für europäische Literatur. Nach der Teilung Europas in Ost und West waren sich alle Realisten darüber einig, dass der Eiserne Vorhang die zentraleuropäische Herzzone zerteilt hatte. Der damalige Unterrichtsminister Heinrich Drimmel wollte einige der gewaltsam durchtrennten uralten Fäden der gemeinsamen europäischen Geisteskultur wieder miteinander verknüpfen. „Drimmels kulturpolitisches Konzept zugunsten der europäischen Literatur war das erste, das die von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gezogene Trennlinie nicht mehr anerkannt hat", so Schüssel.

Der österreichische Staatspreis für europäische Literatur sollte seinen Empfängern in Osteuropa Hilfe bringen, indem er ihnen durch die Anerkennung Schutz gab und eine Öffentlichkeit schuf, die in der Heimat der Schriftsteller Mut machen sollte. Der im Jahr 1965 erstmals vergebene Preis ging daher folgerichtig an renommierte Schriftsteller im östlichen Europa, die sich in ihren Werken kritisch mit dem kommunistischen System auseinandersetzten: Zu Ihnen zählten etwa Zbigniew Herbert, Václav Havel oder Slawomir Mrozek. Erst zu seinem fünfundzwanzigsten Jubiläum konnte der österreichische Staatspreis für Literatur im Jahr 1989 in die Normalität entlassen werden. Claudio Magris wurde diese Auszeichnung im heurigen Jahr für die Förderung der mitteleuropäischen Kultur zuteil.

Staatsekretär Franz Morak, Claudio Magris, Jole Zanetti, Bundeskanzler Wolfgang Schüssel

„Wir würdigen einen Dichter, der auch ein Lehrer ist – ein Lehrer freilich, der Fabeln und Exempel aus den Büchern der Weltliteratur und vorzugsweise aus der Wiener und Prager, aus der galizischen, der Triestiner Poesie – kurz: der Mitteleuropäischen Poesie – schöpft", so Bundeskanzler Schüssel.

Magris habe viel getan, um den Ruf Mitteleuropas zu stärken, erinnerte Kunststaatssekretär Morak in seiner Rede. Morak erinnerte an das in den Achtziger Jahren erschienen Buch „Triest – Eine literarische Hauptstadt in Mitteleuropa". In diesem Buch würden in faszinierender Vielfalt die Spannungen aufgezeigt, die diese „Stadt an vielen Grenzen" zu einem Vorort der Moderne gemacht haben. „Dieses Buch macht hellhörig für die Stimmen der Ränder, der Grenzräume und Peripherien", so Morak.

Der Band lässt erahnen, wie reich die Kultur in der Mitte Europas einmal war und wie zerbrochen sie heute ist - oder auch nur scheint, wie Magris vielleicht vorsichtiger sagen würde. Die Scherben sind nicht verschwunden, sondern überall in Triest, einer Stadt an der Grenze von Zeit und Raum, noch auffindbar. Triest ist für Magris nichts mehr als eine Chiffre für die mitteleuropäische Kultur, in der die „Verteidigung des Marginalen und Peripheren, des Vergänglichen, Schwachen und Unbedeutenden gegen die anmaßenden großen Synthesen und ihre Opferung des Individuellen im Namen irgendeines Allgemeinen eine der vornehmsten Aufgaben ist."

Über sein Wirken als Schriftsteller schrieb Magris einmal: „Jeder Schriftsteller, ob er es nun weiß oder nicht, ist ein Grenzgänger, sein Weg führt immer an Grenzen entlang. Er demontiert, er entwertet und führt Werte und Bedeutungen neu ein, er versucht, die Welt in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen und hebt ihn wieder auf, in einer Bewegung ohne Unterlass."