„Was ist die Hakoah?", „Wer weiß, wie die Heilige Schrift der Juden heißt?", „Was bedeutet Zionismus?" Eifrig beantworten die Schüler Fragen, während sie durch die Ausstellungsräume wandern. An einem Dienstagvormittag lernt hier eine Schülergruppe anhand eines nicht alltäglichen Lebens über jüdischen Alltag in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eines Lebens, das 1908 begann und 1979 endete, das Leben eines Vielseitigen. Friedrich Torberg, der im September 100 Jahre alt geworden wäre, ist die spannende Schau im Jüdischen Museum Wien gewidmet, die noch bis 1. Februar 2009 zu sehen ist. „Die Gefahren der Vielseitigkeit", die das Leben des Begabten und Früherkannten prägten, werden hier in einzelnen Räumen thematisiert. Ob die jungen Menschen schon den „Schüler Gerber" gelesen haben? Natürlich, längst, antworten sie. Torbergs erster Roman, geschrieben, nachdem er selbst bei der Matura durchgefallen war, ist bis heute Pflichtlektüre für Heranwachsende. Im Jüdischen Museum können die Schüler die biografischen Hintergründe des Romans entdecken: Torbergs Maturafoto etwa, als er sie im zweiten Anlauf schließlich doch schaffte. Und einen kuriosen Brief: Von Torbergs Lehrer Schwefel, im Roman der gefürchtete Lehrer Gott Kupfer, der um ein Belegexemplar des Buches bittet. Der „Schüler Gerber" und seine frühesten literarischen Versuche haben Torberg auch dazu veranlasst, sich einen Künstlernamen zu suchen – er wählte eine Zusammensetzung aus dem Namen seines Vaters, Alfred Kantor, und dem seiner Mutter, Therese Berg. Geboren wurde der spätere Kritiker, Übersetzer, Schriftsteller und Herausgeber als Friedrich Ephraim Kantor, am 16. September 1908 im 9. Wiener Gemeindebezirk. Er besuchte die Volksschule in der Grünentorgasse und das Realgymnasium in der Wasagasse. Im Gymnasium wurde er bald Schulsprecher und Obmann eines Literaturklubs. Seine Jugend prägte aber vor allem eine andere Leidenschaft, der einer der ersten Räume der Ausstellung gewidmet ist: Sport, und hier vor allem Fußball. Schani Kantor, wie Torberg in jungen Jahren genannt wurde, war Anhänger der 1909 gegründeten „Hakoah". Der Sport wurde ihm Lebensgefühl und wesentlich für seine politische Einstellung und selbstbewusste Haltung gegenüber dem Judentum. Schani Kantor landete allerdings nicht beim Fußball, in dem die „Hakoah" schon große Erfolge hat – er wurde Schwimmer und gefeierter Wasserballer, nachdem er 1924 dem FC Hagibor Prag beigetreten war. Sein Roman „Die Mannschaft" (1935) ist über weite Strecken autobiografisch zu lesen, er spiegelt Torbergs Begeisterung für Sport und Zusammengehörigkeit in einer Mannschaft. Oft wurde Torberg allerdings vorgeworfen, auf politische Spannungen, die zur Zeit der Entstehung des Werks bereits mehr als spürbar waren, gar nicht eingegangen zu sein. Durch eine Beförderung des Vaters kam Torbergs Familie Anfang der 20er-Jahre nach Prag, was dazu führte, dass Friedrich 1924 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhielt, die er bis 1945 behielt. Torberg begann erfolglos Rechtswissenschaften zu studieren und arbeitete in Prag, Wien und Leipzig als Journalist. 1933 wurden Torbergs Bücher in Deutschland von den Nationalsozialisten verboten. Zur Zeit des „Anschlusses" hielt sich Torberg zum Glück gerade in Prag auf. Da er aber gesucht wurde, emigrierte er im Juni 1938 zuerst nach Zürich. Bald ging es weiter nach Frankreich, da seine Papiere nicht verlängert wurden und er einer Ausweisung zuvorkommen wollte. 1940 bekam Torberg ein Visum für die USA: Als einer von „Ten Outstanding German Anti-Nazi Writers" hatte er einen Jahresvertrag bei Warner Brothers in Hollywood erhalten. Die Arbeit befriedigte ihn allerdings nicht – er lenkte sich mit dem Schreiben unzähliger Briefe an Freunde und Kollegen ab, Briefe, die bis heute wertvolle Zeugnisse der Zeit im Exil sind. In Hollywood kam Torberg aber ein wenig zur Ruhe, die Emigranten blieben unter sich, und so vertiefte sich etwa die Freundschaft mit Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel. Die Emigrantenkultur war in New York noch stärker als in Kalifornien, und Torberg entschloss sich bald, Hollywood zu verlassen und in den „Big Apple" zu ziehen, wo er von 1944 bis 1951 lebte. Hauptthemen seines Erzählwerks aus dieser Zeit („Mein ist die Rache", Hier bin ich, mein Vater", „Die zweite Begegnung") sind die Auseinandersetzung mit dem Jude-Sein und der Konflikt zwischen Individuum und totalitärem System. 1951 kehrte Torberg nach Österreich zurück. Er lebte in Breitenfurt bei Wien und in Bad Aussee und wurde zu einer zentralen Figur des Wiener Kulturbetriebes. Eine der zahlreichen Videoaufnahmen in der Ausstellung im Jüdischen Museum, vor denen man wohl Stunden verbringen könnte, zeigt eine Art „Homestory" über Torberg in Breitenfurt. „Breitenfurt ist bekannt geworden durch Friedrich Torberg", erklärt die Sprecherin bedeutungsschwer. Mit tiefer Stimme erklärt dieser später im Beitrag: „Breitenfurt ist wohl nicht so sehr durch mich bekannt als durch den guten Millirahmstrudel!". Der gemütliche Kaffeehausliterat und anregende Erzähler – dieses oft strapazierte Bild Torbergs wird hier bestätigt, aber auch politische, kantige Facetten seines Lebens werden gezeigt. „Auf dem Papier war er ein böser Mensch, in Fleisch und Blut ein lieber", schrieb etwa Günther Nenning – Mitarbeiter Torbergs bei der Zeitschrift „Forum" - in seinem Nachruf auf Torberg. Unzählige Dokumente – Plakate, Briefe, Erstausgaben, Fotos, ein Auszug aus seinem Testament - und Alltagsgegenstände Torbergs gibt es in den verschiedenen Räumen zu sehen, sogar seinen Arbeitstisch samt Brille und Briefpapier. Obwohl Torbergs Archiv 1938 verloren ging, birgt sein Nachlass in der Wienbibliothek mehr als 50.000 Briefe. Diese bilden neben zahlreichen Leihgaben und Schenkungen auch einen wesentlichen Teil des wissenschaftlichen Hintergrunds der Ausstellung, die von Marcus G. Patka und Marcel Atze erarbeitet wurde. Zu lesen ist hier etwa ein Brief von Peter Handke: „Ich habe gestern Ihre zwei Bücher bekommen, und den Schüler Gerber sofort gelesen, eigentlich den ganzen Tag, mit Unterbrechungen, und um 2 Uhr in der Nacht hatte ich die Geschichte ausgelesen und ich kann sagen, dass mich das Buch hineingezogen hat wie schon lang keins mehr." Weitere Korrespondenzpartner sind Alma Mahler-Werfel, Marcel Reich-Ranicki, Hermann Hesse, Arnold Schoenberg oder Simon Wiesenthal. Mit Ton- und Bilddokumenten beginnt die Schau – in einem Raum, der die Geschichte von hinten aufzäumt: Passend zu Torberg im „Kaffeehaus", auf Originalstühlen des Café Museum, lauscht man Aufnahmen des Autors, der aus der „Tante Jolesch" (1975), seinem wohl berühmtesten Werk, liest. Torbergs Zeit ab der Rückkehr nach Österreich sind thematische Blöcke in der Schau gewidmet: Da ist zunächst die Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch die österreichische Justiz. Eine Fotoserie zum Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem ist zu sehen, ebenso Aufnahmen des von der SS in Prag eingerichteten so genannten „Jüdischen Zentralmuseums". Ein anderer Bereich ist jenem Torberg gewidmet, der gemeinsam mit Hans Weigel als Initiator des „Brecht-Boykotts" gilt. Fünf Jahre lang waren dessen Stücke in Wien tabu. Zu den großen Verdiensten Torbergs zählen seine Übersetzungen Ephraim Kishons, den er hierzulande bekannt gemacht hat. Im Torberg-Jubiläumsjahr gibt es zahlreiche Möglichkeiten, sich mit dem vielseitigen, streitbaren, ironischen Homme des lèttres auseinanderzusetzen: eine ganze Reihe von Neuerscheinungen wie Briefwechsel und Biografien ist auf den Markt gekommen. Die umfangreiche Ausstellung im Jüdischen Museum ist definitiv ein zentraler Ausgangspunkt für Torberg-Interessierte. Literaturtipps: „Friedrich Torberg. Die Biographie" von David Axmann, Langen Müller Verlag, 2008. „Dear Pappi - My beloved Sargnagel: Briefe einer Freundschaft", Briefe von Friedrich Torberg und Ephraim Kishon, Hrsg. von Lisa Kishon und David Axmann, Langen Müller Verlag. „Die Gefahren der Vielseitigkeit". Jüdisches Museum Wien, bis 1. Februar. Katalog zur Ausstellung von Marcel Atze und Marcus G. Patka, Verlag Holzhausen Julia Urbanek ist Redakteurin der „Wiener Zeitung".