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„Sie wird leben“ Der Geiger Julij und sein Vater Isaac erzählen von ihrer äusserst bewegten Familiengeschichte

Kerstin Kellermann

Über eine Flucht vor den Nazis bis nach Usbekistan und Lemberg. Und wie sich unbearbeitete schreckliche Ereignisse in den Generationen wiederholen können.

Inhalt

„Unsere ukrainische Stadt Tschudnow hiess nach einem Wunder“, lächelt Julij Malakh und hebt seine Kaffeetasse:

„In den 1650er Jahren wollte ein riesiges russisches Heer die Stadt und ganz Europa erobern. Es gab eine grosse Schlacht mit polnischen Einheiten und die russische Armee erlitt eine Niederlage. Der Zar Fürst Scheremetjev wollte Europa besetzen und russifizieren.“

 

Vater und Sohn haben sich zu einem gemeinsamen Interview im Café Standard in der Wiener Margaretenstrasse eingefunden. Julijs Vater Isaac erinnert sich an seine Kindheit in der Kleinstadt Tschudnow:

„Mein Opa war Schmidt und beschlug die Pferde von Fahrenden und von der russischen Armee, aber auch die Rösser von deutschen Soldaten. Im Ersten Weltkrieg kam die deutsche Kavallerie nämlich bis nach Lemberg, der damaligen Grenze zu Polen.“

 

Seine Augen leuchten, wenn Isaac an seine frühe Kindheit denkt, denn bald danach begann das Elend in sein Leben einzutreten. Isaac war erst fünf Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann und seine Familie vor den Nazis nach Mittelasien flüchten musste:

„Vater kam nach Hause und sagte, dass wir sofort vor den Nazis flüchten müssen, unten warte schon die Kutsche. Mutter fing an zu weinen und meine Schwester und ich weinten so stark, dass die Nachbarn kamen, um zu schauen, was los ist. In dieser Nacht haben die Deutschen unsere kleine Stadt erobert.“

 

Die Familie fuhr mit der Kutsche Richtung Eisenbahnstation:

„Ich lag auf dem Stroh und schaute in den Himmel. Plötzlich sehe ich kleine Flugzeuge. Es war schon ein bisschen dunkel und ein rundes weisses Licht, eine brennende Kugel, wie ein Mond so gross, geht langsam nieder.“

 

Die Nazis verwendeten eine Art Lampe, um zu sehen, was sie bombardierten:

„Wir sprangen in den Mais. Mein Vater hatte als Ingenieur verschiedene Wege und Schutzbunker gebaut, er kannte sich aus. Also liefen wir in die andere Richtung als der Bahnhof, der dann wirklich bombardiert wurde. Im Schutzraum hörte man keine Explosionen, da sangen und tanzen kleine Kinder“, erinnert sich Isaac. 

 

Tag und Nacht geweint

Nach der Bombardierung ihres Zuges und der dunklen, völlig lichtlosen Fähre über die Wolga erreichte die Familie über Stalingrad Zentralasien, das heutige Usbekistan, wo Frieden herrschte. „Wenn der Zug hielt, sprangen die Leute in die Felder. Ich lag auf dem Rücken und habe einen Flieger gesehen, sogar sein Gesicht. Er lachte über mich, glaube ich“, erzählt Isaac.

„Am Tag nach der Fähre hat meine Mutter ein paar graue Haare bekommen und meine Schwester und ich haben sie ihr ausgerissen.“

 

Unterwegs auf der gefährlichen Flucht vor den Nazis geschah dann das schlimmste, prägendste Ereignis seines Lebens, auf das Isaac immer wieder zurückkommt. Seine dreijährige geliebte Schwester Lea starb: „Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre“, sagt Isaak und stützt den Kopf in die Hände, versinkt Richtung Tisch. Mit hohem Fieber hatte die arme Kleine auf die Flucht und in ein unsicheres Leben gemusst. Zuhause in ihrem eigenen warmen Bett hätte sie die Lungenentzündung mit folgendem Magentyphus („eine typische Kriegskrankheit“, sagt Julij) eventuell überlebt!

 

Den zweiten existenziellen Lebens-Schock erlitt Isaak, als er acht Jahre alt war und alleine mit der Mutter lebte, denn der Vater war in den Ural mobilisiert worden. Der Vater erzeugte in Perm Kartuschen für Minenwerfer – gegen die Nazis. Der Bruder von Isaacs Mutter schrieb ihr einen Brief, dass fast alle ihre Verwandten - Oma, Opa und auch die Grosstante, insgesamt um die dreissig Angehörige, von Bandera-Leuten (Anm. ukrainischen Kollaborateuren der Nazis) erschossen worden waren. Der Brief hatte bis zu seiner Ankunft ein halbes Jahr gebraucht. Als Major, Offizier und am Ende Oberst hatte allein der Bruder überlebt und konnte berichten, was geschehen war. „Mutter hat Tag und Nacht geweint über diese Tragödie“, erzählt Isaak, der als achtjähriges Kind masslos überfordert war. Sein Vater lebte nicht zuhause und der Junge musste alleine mit der Verzweiflung seiner Mutter und seiner eigenen Trauer klarkommen. Diese kindlichen Figuren, die sich nach einem derartigen Schock in Kindern ausbilden, merkt man ihm bis heute an. Ein Teil des Menschen bleibt in dem Alter stecken.

 

Als der Zweite Weltkrieg endlich zu Ende ging, zogen seine Mutter und Isaak in die Stadt Lemberg und das kam so:

„Mein einer Onkel, der General, war an der Front gefallen, und seine Frau schrieb uns, ob wir nach Lemberg kommen könnten. Denn sie sollte den sehr ähnlichen Bruder des Onkels heiraten. So war damals der burjatische Brauch. Der Bruder des Generals war der Präsident der mongolischen Republik Burjatien.“

 

In Folge aller dieser unerklärlichen Ereignisse verschloss sich der Junge und trauerte alleine vor sich hin, bis heute:

„Meine kleine Schwester Lea war vor dem Krieg so lebendig, ich erinnere mich genug, obwohl ich selber noch so jung war. Der Sarg war so klein! Ich habe geschrien und geweint und laut ihren Namen gerufen.“

In Lemberg herrschte Frieden und Isaac begann in den folgenden Jahren zu singen. „Ich war ein Sänger“, lächelt er und beugt sich tief über seinen Marillensaft. Sein Sohn Julij, der ein berühmter Geiger ist und Konzerte gibt, schaut etwas ungläubig.

 

Wie aus Stein

„Als meine eigene Schwester drei Jahre alt war, wurde sie ebenfalls todkrank. Sie hiess auch Lea, nach ihrer verstorbenen Tante“, sagt Julij plötzlich. Er erscheint verblüfft, als ihm diese Wiederholung in den Generationen aufgeht:

„Im Sommer wurde sie zur Oma gebracht (Anm. Also der Frau, die ihre dreijährige Tochter auf der Flucht verloren hatte), meine kleine Schwester wurde steif und starr und redete nichts mehr. Plötzlich rief die Grossmutter an, dass die Kleine aussähe wie aus einem Konzentrationslager, total abgemagert und wie aus Stein. Die Ärzte wussten nicht, was los ist. Man brachte sie zurück nach Hause. Meine Mutter war die Einzige, die fest daran glaubte, dass ihre Tochter leben werde. Mein Vater hatte schon den Sarg bestellt!“

 

Der Vater protestiert: „Habe ich nicht!“ Julij scheint seinem Vater bis heute nachzutragen, dass dieser damals so reagierte. Isaac schliesst vor der Wut seines Sohnes die Augen und sitzt wirklich minutenlang mit geschlossenen Augen da. Schliesslich hatte er als Kind seine dreijährige geliebte Schwester verloren und kannte Schicksalsschläge des Lebens nicht anders. Er fiel wohl in dieser tödlichen Notsituation zurück in die existentielle Hilflosigkeit als Kind und gab seine Tochter und sich auf. Der damals elfjährige Julij empört sich inzwischen weiter, als ob er noch ein Junge wäre, der seinen Vater für allmächtig oder zumindest äusserst einflussreich hält:

„Mein Vater sagte zur Mutter, lass deine Bemühungen sein, sie wird nicht leben. Aber Mutter wollte nicht aufgeben und brachte die Kleine in die Karpatenberge zu einem Wunderheiler. In den Bergen wurde sie wieder gesund!“

 

Isaac sitzt schon wieder mit geschlossenen Augen da, er versinkt fast unter der Tischplatte. „Ich kann nicht verzeihen“, meint Julij und berücksichtigt bei seinen Vorhaltungen gar nicht, dass der Vater später mit ihm nach Wien zog, damit er an der Musikakademie studieren konnte. Die restliche Familie blieb allein zurück. Die gefährdete Schwester wurde mit vierzehn Jahren gemeinsam mit ihrem 17-jährigen Bruder zu reichen Juden nach Amerika geschickt. In Österreich dauerte es gesetzliche sieben Jahre, bis die Mutter mit weiteren zwei Kindern nach Österreich nachkommen durfte. Die ganze Zeit über stand Isaac seinem Sohn getreulich zur Seite, dessen musikalische Karriere im Vordergrund des Familienlebens blieb.

 

Tröstliche Imaginationen

Julij dehnt seinen kindlichen Zorn inzwischen auf andere, in seinen Augen einflussreiche Männer aus, denn auf diesen alten Vater, der manchmal wie ein kleiner Junge wirkt, kann man schwer böse sein. Das sieht sogar Julij ein. Beide Männer wirken nach dem ausführlichen Interview erleichtert und lächeln. Denn diese seltsamen Übertragungen in Familien, die vom Holocaust betroffen sind, füllen inzwischen ganze Bücher von Psychotherapeutinnen in Israel und Amerika. Wenn eine offene Gesprächsatmosphäre herrscht, können aber diese schrecklichen Erlebnisse durch die Generationen zumindest ansatzweise gemeinsam besprochen werden und es tauchen in Folge neue Erinnerungen auf. „Mein Vater schikanierte ab dem Tod von Lea meine Mutter, dass sie das Kind hätte sterben lassen“, kritisiert Isaac plötzlich seinen eigenen Vater. Obwohl der Vater ja eigentlich selbst auf der Flucht vor den Nazis dabei war, wies er die Verantwortung für den Tod der ersten Lea der Mutter zu. Kein bisschen sich selbst. Nicht den Nazis. Ein seltsames Verhalten.

 

Julij amüsiert sich inzwischen mit dem Gedenken an berühmte Träger des Familiennamens. So erreichte im Jahre 1696 der Wiener Hofjude Samuel Oppenheimer bei Kaiser Leopold I. Pässe für zweitausend Juden, mit denen diese ins heutige Israel auswandern konnten. Sie fuhren über Konstantinopel mit einem Schiff, das ein gewisser Chaim ben Salomon Malakh mit Oppenheimers Geld gebaut hatte. Dieses Schiff aus dem Jahre 1700 trug den Namen Chruwa. Dann geht es noch um Revolte im Rabbinismus, die Chaim Malakh anzettelte. Julij wirft mit Zahlen nur so um sich. Alle stammen aus dem 16. Jahrhundert. Isaac erwähnt einen gewissen Wolf Messing, der als Medium arbeitete und in Lemberg Seancen abhielt. Mit dem Magier war er befreundet. Die beiden Malakhs, was übersetzt „Engel“ heisst, glauben an gewisse mystische Zusammenhänge in der Geschichte. Ihr Imaginieren quer durch Länder und Zeitalter scheint ihnen grosse Freude zu bringen. Es entschädigt bestimmt ein bisschen für die schrecklichen und tödlichen Ereignisse in der Familiengeschichte und ihre seltsamen Folgen über die Generationen. 

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Vater und Sohn, Isaak und Julij Malakh. Foto: Kristina Viera Wolf, mit freundlicher Genehmigung K. Kellermann.

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Isaak beim Lesen. Foto: Kristina Viera Wolf, mit freundlicher Genehmigung K. Kellermann.

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Isaak lächelnd. Foto: Kristina Viera Wolf, mit freundlicher Genehmigung K. Kellermann.

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Die zweite kleine Leah, sie konnte ihre gefährliche Krankheit überstehen. Foto: privat, mit freundlicher Genehmigung Familie Malakh.

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Isaak als Kind. Foto: privat, mit freundlicher Genehmigung Familie Malakh.

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Familienbild, Isaaks Mutter mit Zöpfen hintere Reihe Zweite von rechts. Foto: privat, mit freundlicher Genehmigung Familie Malakh.