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„Haltung, Respekt und Menschlichkeit zeigen“

Marianne ENIGL

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Traude Kogoj ist Politikwissenschafterin mit Schwerpunkt Geschichte, Head of Diversity Management im ÖBB-Konzern und war Leiterin des Geschichtsprojekts „Verdrängte Jahre. Bahn und Nationalsozialismus in Österreich 1938 - 1945". Zum ersten Mal hat die österreichische Bahn sich darin mit ihrer weitgehend ausge-blendeten Rolle im Nationalsozialismus befasst. 

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Zwei jüdische Buben, die mit einem Kindertransport nach London in Sicherheit gebracht wurden. Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung: ÖBB.

Die Bahn war im März 1938 mit einem Federstrich zum „Sondervermögen des Deutschen Reichs" erklärt worden: damit übernahm die Deutsche Reichsbahn die österreichischen Eisenbahnen mit 57.000 Mitarbeitern (von ihnen wurde jeder Fünfte entlassen), 2.100 Loks und 40.000 Waggons. Doch schon vor dem Einmarsch deutscher Truppen in den Morgenstunden des 12. März 1938 waren die österreichischen Bahnhöfe und Züge zu Schauplätzen des Kommenden geworden: Überall tauchten in der Nacht selbst ernannte SA-Männer auf, konnten sich in den Zügen als Kontrolleure aufspielen, den Flüchtenden Geld abnehmen oder sie der Polizei ausliefern. Der Vorstandsvorsitzende  Christian Kern hat im Katalog zur Ausstellung „Verdrängte Jahre" festgehalten: 

„Ohne Eisenbahn hätten die Aggressionskriege in Europa nicht geführt werden können. Ohne die logistische Kapazität der Bahn wäre der systematische Mord an den europäischen Juden und Jüdinnen, an Roma und Sinti, die Deportation von Sloweninnen und Slowenen, von Homosexuellen, Zeugen und Zeuginnen Jehovas und politisch Andersdenkenden nicht möglich gewesen." 

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Sril und Selig Jacob wurden kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz vergast. Quelle: „Auschwitz-Album“/Fotoarchiv Gedenkstätte Yad Vashem, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung ÖBB.

Das Geschichtsprojekt ist auch Inhalt einer ORF TV-Dokumentation.

Bei der Ausstellungs-Finissage in Israel erzählte Alisa Tennenbaum, wie sie als Neunjährige von ihrer Familie getrennt wurde und in Wien einen der rettenden Kindertransporte nach London besteigen hatte können. Sie meinte, Geschichts-Projekte wie das der ÖBB würden helfen, „die Zuversicht trotzdem niemals zu verlieren".

Die Themenausstellung ist im ÖBB Bildungszentrum St. Pölten / Wörth dauerhaft auch für die Öffentlichkeit weiterhin zugänglich. Anmeldung unter  bildungszentrum.stpoelten@oebb.at

DAVID: Die Ausstellung „Verdrängte Jahre" mit ihren bewegenden Bildern und dem in Umrissen nachgestellten Viehwaggon ist nun über fünf Jahre in österreichischen Städten gezeigt worden, dann in Brüssel im EU-Parlament und heuer an der Tel Aviv Universität. Welches Resümee ziehen Sie als Leiterin des Projekts, ist der Zug in die Geschichte von Österreichs Bahn im Nationalsozialismus angenommen worden?

Traude Kogoj: Meinem Eindruck nach ist das jedenfalls unternehmensintern gelungen. Der Eintritt war frei, daher haben wir keine Besucherzahlen, aber allein von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind etliche tausende gekommen, und zwar überall. Im Landesmuseum Kärnten war es die erste Ausstellung zum Nationalsozialismus überhaupt. Als dort in Klagenfurt der Sohn eines nach damalige Palästina emigrierten jüdischen Anwalts erzählt hat, wie sein Vater Kärnten als seine Heimat lebenslang vermisste, hat das viele aufhorchen lassen. Ich fand die „Verdrängten Jahre" gerade für Kärnten sehr passend.

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Über diese Postkarte suchte die Deutsche Reichsbahn Arbeitskräfte, Privatsammlung Alfred Klein-Wisenberg. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung: ÖBB.

DAVID: Christian Kern, der frühere ÖBB-Vorstand und nunmehrige Bundeskanzler (SPÖ) hat der Ausstellung bei ihrer Eröffnung im Jahr 2012 ein deutliches Statement mitgegeben, er sagte: „So unfassbar uns diese Ereignisse heute erscheinen, so klar müssen wir als ÖBB diese Zeit als Teil unserer Geschichte akzeptieren." Wessen Idee war es, diese Auseinandersetzung mit der eigenen historischen Rolle schliesslich auch nach Israel zu bringen?

Kogoj: Milli Segal hat als Kuratorin vorgefühlt, ob es vor Ort Interesse dafür gibt, und Österreichs Botschafter in Israel, Martin Weiss, hat dann den Vorschlag an die ÖBB herangetragen. Der nunmehrige Vorstandsvorsitzende Andreas Matthä war erfreut, dass die Präsentation offenbar gewünscht war - sowohl von der österreichischen Politik als auch von der Interessenslage in Israel. An den Reaktionen in Tel Aviv habe ich die Bedeutung dessen bemerkt, dass dies offensichtlich das erste Projekt eines österreichischen Unternehmens war, die Auseinandersetzung mit seiner NS-Geschichte überhaupt und in Israel öffentlich zu zeigen.

DAVID: Kamen zur Ausstellung „Bahn und Nationalsozialismus" in Tel Aviv auch Menschen, die angeklagt haben, „Ihr habt meine Eltern, Grosseltern ... in die Vernichtung transportiert"?

Kogoj: Ja, auch sie sind gekommen. Es kamen aber auch jene, denen es eine Genugtuung war, dass Vorstand Matthä die Bahn als eine der zentralen Stützen des NS-Staates im Aggressionskrieg und in der NS-Vernichtungsmaschinerie benannt - und gleichzeitig die österreichische und europäische Verantwortung betont hat. Es hat uns sehr bewegt, als Überlebende danach um den Text seiner Rede ersucht haben. Viele kamen mit ihren Familien. Allen gemeinsam war, über die unfassbaren Erinnerungen und Erfahrungen zu reden, diese zu teilen, die Möglichkeit zu geben, um daraus zu lernen.

DAVID: Der ÖBB-Konzern ist mit mehr als 40.000 Beschäftigten eines der grössten Unternehmen Österreichs. Sich zum 175-jährigen Bestehen nicht nur der ökonomischen Bedeutung, sondern erstmals auch den verdrängten Jahren zu widmen, wurde unter dem damaligen Vorstandschef Christian Kern entschieden. Warum war ihm dieser Schritt wichtig?

Kogoj: Diese Frage kann nur er beantworten. Meiner Erfahrung nach ist Christian Kern jemand, dem es sehr wichtig ist, Haltung zu zeigen. Für ihn gehört das Akzeptieren der Geschichte zur Unternehmenskultur. Das gilt ebenso für seinen Nachfolger an der Konzernspitze, Andreas Matthä. Auch mit ihm habe ich im Projekt intensiv zusammen gearbeitet, er war damals Chef der ÖBB-Infrastruktur und es war spürbar, er hat die gleiche Sensibilität.

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 Mit dem Todesurteil über den Bahnmitarbeiter Leopold Strasser verlor auch seine Familie jede Unterstützung, Privatsammlung Elfriede Strasser. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung:ÖBB.

DAVID: Hat Sie das überrascht?

Kogoj: Ich war froh, dass es diese Sensibilität gibt und das Einverständnis, dass eine Unternehmenskultur ohne interne Erinnerungsarbeit nicht komplett sein kann.

DAVID: Die Ausstellung und der Katalog nehmen das Thema beeindruckend als Ganzes in den Blick. Vom „Anschluss" an die Deutsche Reichsbahn 1938 inklusive der Vereidigung der traditionell sozialdemokratischen Beschäftigten auf Adolf Hitler; die rettenden Kindertransporte - und die vielen „Sondertransporte" in die Vernichtung; die hunderten Bahnbediensteten, die für ihren Widerstand ihr Leben verloren haben; und die unter erbärmlichen Bedingungen schuftenden Bahn-Zwangsarbeiter. Im Jahr 2000 haben die ÖBB als späte Geste umgerechnet knapp 15 Millionen Euro in den Versöhnungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter gelegt. Diese Zahlung erledigte man diskret, die Öffentlichkeit erfuhr davon nichts. War die Zeit damals, immerhin 55 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes, für einen offenen Umgang noch nicht reif?

Kogoj: So muss man das sehen, ja.

DAVID: Sie haben vom neuen Verständnis der ÖBB-Unternehmenskultur gesprochen. Der Konzern wollte von Beginn an möglichst viele ÖBB-Mitarbeiter, von Lehrlingen bis zu Pensionisten, in das Projekt „Verdrängte Jahre" einbinden. Ist das gelungen?

Kogoj: Wir haben über die internen Medien aufgerufen, wer immer Wissen oder persönliche Fotos und Dokumente hat, möge zu uns kommen. Erfreulicherweise haben viele nach anfänglicher Skepsis diese Einladung angenommen, insbesondere auch Mitarbeiter in Leitungsfunktion wie Matthä selbst.

DAVID: Was hat er eingebracht?

Kogoj: Andreas Matthä hat uns die Geschichte seines Grossvaters erzählt, und wie dessen Familie jeden Tag gezittert hat, ob er wieder heimkommen wird. Das ist keine Opfer- oder Tätergeschichte sondern eine des Alltags, die viele Schicksale abbildet, sie findet sich als Zitat im Katalog.

DAVID: Gab es bahnintern Ablehnung gegen die historische Eigenbetrachtung?

Kogoj: Ich schliesse Ablehnung nicht aus. Aber es gab niemanden, der in der Ausstellung protestiert hätte, „Was Sie da zusammen getragen haben ist unfassbar.."

DAVID: Sie meinen damit etwas wie den Aufschrei ehemaliger Soldaten, die der Wehrmachts-Ausstellung die Zerstörung ihres Bildes von Hitlers „sauberer Wehrmacht" vorgeworfen haben.

Kogoj: Zu Derartigem ist es nicht gekommen. Im Gegenteil. Ich hatte den Eindruck, dass es vielen Kolleginnen und Kollegen ein grosses Anliegen war, die Rolle der Bahn im Nationalsozialismus endlich zu beleuchten. 

DAVID: Sehen Sie einen Zusammenhang - zwischen der Übernahme der Verantwortung für den Transport von zigtausenden Menschen in die NS-Vernichtung - und einer Verantwortung in der Flüchtlingsfrage?

Kogoj: Beide Entscheidungen setzen Haltung voraus. Andreas Matthä, als Chef der Infrastruktur war er für alle Bahnhöfe und Bahnanlagen verantwortlich, war es sehr wichtig, allen Mitarbeitern zu verdeutlichen, welche gesellschaftliche Verantwortung sie gerade in der heiklen Situation haben und wie wichtig es ist, Haltung, Respekt und Menschlichkeit zu zeigen.

DAVID: Und wie haben die ÖBB-Lehrlinge das Angebot angenommen, mitzutun, mit Zeitzeugen zu sprechen?

Kogoj: Mehr als dreissig Lehrlinge haben sich dafür gemeldet. Davon, was sie erwartet, hatten nur wenige eine Idee, aber sie alle haben gezeigt, dass sie dafür ansprechbar sind. Wir haben sieben ausgewählt. Einer dieser Lehrlinge war Julia Scherzer. Sie hat beschrieben, wie schwer zu verkraften vieles von dem Gehörten war. Der ehemalige Fahrdienstleiter Karl Steinocher etwa hat erzählt, dass am Bahnhof Steindorf bei Strasswalchen ein Deportationszug stundenlang stand und er furchtbares Stöhnen aus den Waggons gehört hat. Er hat gesagt, „Wir haben das gesehen, wir haben das gewusst. Es war entsetzlich. Es ist entsetzlich." Unsere jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagten, sie hätten schätzen gelernt, „wie gut es uns heute geht". Und Julia Scherzer ist jetzt Lokführerin.

DAVID: Vielen Dank für das Gespräch!

Milli Segal ist nicht nur Kuratorin der Ausstellung Verdrängte Jahre, sie hat auch in Wien ein kleines Museum: Für das Kind - Museum zur Erinnerung an die Kindertransporte nach England 1938/39. Ort: 1030 Wien, Pfefferhofgasse 5,  Besuch des Museums nach Vereinbarung! Email: milli.segal@chello.at, weitere Informationen: www.millisegal.at