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Rosch Ha-Schana verschieden und doch das Gleiche

Ferdinand DEXINGER

Rosch Ha-Schana verschieden und doch das Gleiche

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In einem Ulpan, an dem der Schreiber dieser Zeilen vor mehreren Jahrzehnten teilnahm, stellten sich, wie jeweils zu Beginn üblich, die einzelnen Teilnehmer vor. Als die Reihe an zwei junge Mädchen kam, deren Äußeres darauf schließen ließ, daß sie Gäste aus Indien waren, sagten sie, daß sie jüdische Einwanderer aus Indien seien und zu den Bene-Israel aus Bombay gehörten.
Was hat das mit Rosch Ha-Schana zu tun? Es gibt einen Zusammenhang, der eigentlich verblüffend ist und gleichzeitig einen Blick auf die innere Vielfalt der jüdischen Religion tun läßt.
Es gehört zu den überraschendsten Fakten, daß die Bene Israel bis ins 19. Jh. weder die Bibel, noch die Mischna noch den Talmud kannten.
Man mag sich fragen, wieso sie überhaupt im weiteren Sinn als Juden gelten können. Ein wesentlicher Grund dafür besteht darin, daß sie die wichtigsten Feste der jüdischen Religion und darunter eben auch Rosch Ha-Schana feiern. Sie tun das seit ältester Zeit, wobei man nicht genau sagen kann, wann die hellhäutigen Ahnen der Bene Israel nach Indien gekommen sind. Haeem Kehimkar, selbst Angehöriger der Bene Israel, weist in seiner am Ende des 19. Jh. verfaßten, aber erst 1937 in Palästina veröffentlichten Beschreibung der Bene Israel darauf hin, daß die seit alters her von ihnen gefeierten Feste Namen tragen, die der Marathi-Sprache zugehörig sind. Rosch Ha-Schana etwa heißt "Naviacha San" =Neujahrs Festtag ("San" ist ein Marathi Wort). Seit frühester Zeit begehen die Bene Israel auch den Yom Kippur (Darfalmicha San "Feiertag des Schließens der Tore"), Pessach (Anashi Dhakacha San) und Purim (Holicha San). Was Purim betrifft, so ist bemerkenswert, daß sie die Esther-Geschichte nicht kennen. Das mag ein Indiz dafür sein, daß es sich nur um die Adaptierung des zur selben Zeit gefeierten hinduistischen Festes Holi handeln könnte. Besonders auffällig ist, daß die Bene Israel weder Schavuot noch Sukkot (der mögliche Zusammenhang mit der Feier von Khiriacha San vor Rosh Ha-Schana ist unklar) feiern. Entscheidend freilich ist der Umstand, daß sie den Schabbat beobachten. Von daher wurden sie auch in ihren indischen Nachbarn "Shanwar Telis" (= "den Samstag beobachtende Ölpresser") genannt. Im Unterschied dazu werden Muslime, die den gleichen Beruf, jedoch den Freitag als gottesdienstlichen Wochentag haben, als "Shukrewar Telis"= ("den Freitag beobachtende Ölpresser") bezeichnet.
Irgendwann im Laufe der Zeit (man weiß nicht genau ob um 1000 oder 1400 oder gar erst 1600) hatten sie Kontakt mit dem rabbinischen Judentum. In ihren Legenden erzählen sie davon, daß ein gewißer Rabbi namens David Rahabi zu ihnen gekommen sei. Er habe sie eben wegen der Beobachtung des Schabbat, der Feier der genannten Feste und der bei ihnen geübten Beschneidung als Juden anerkannt. Auf diesen Kontakt geht nach Kehimkar die Einführung von anderen religiösen Tagen, wie etwa des Tisch'a be Av (=Birdiacha Roja) zurück. "Roja" ist ein Wort aus dem Hindi und damit, nach Kehimkar, ein Indiz für die spätere Übernahme dieses Fasttages in den liturgischen Kalender der Bene Israel. Auffällig ist, daß Hanukka unter den Festtagen fehlt.
Wer war dieser David Rahabi? Dazu läßt sich nichts historisch Gesichertes sagen. Schon seit langem ist aber ein zufällig erhaltener Brief bekannt, den David, der Bruder des Moses Maimonides, im Jahre 1170 schrieb, als er auf dem Weg nach Indien war. Moses Maimonides kommt in seinem aus dem Jahr 1199 stammenden Brief an die Rabbiner von Lunel in Südfrankreich auch auf die Juden Indiens zu sprechen und schreibt: "Die Juden Indiens kennen nichts von der Tora und auch keines der Gesetze außer dem Schabbat und der Beschneidung." Obwohl das sehr gut zu dem paßt, was wir über die Bene Israel wissen, steht keineswegs fest, daß Maimonides tatsächlich von ihnen sprach, oder gar durch seinen Bruder von ihnen erfahren hat.
Der Umstand, daß die Bene Israel zwar Rosch Ha-Schana feiern, Hanukka aber nicht kennen, könnte ein Hinweis darauf sein, wann ihre Vorfahren an die Westküste Indiens gekommen sind. Die Ursprungs-Legenden der Bene Israel lassen das völlig offen. Erst im 19. Jh. haben christliche Missionare, die sie erstmals mit einer Übersetzung von Teilen der Bibel in Marathi bekannt machten, diese Legenden aufgezeichnet. Was John Wilson berichtet, hat auch Kehimkar in sein Buch aufgenommen:

"Sie sagen, daß ihre Vorfahren vor 1600 Jahren von einem nördlichen Land an die Küste Indiens gekommen seien. Sie überliefern, daß ihr Schiff an der Küste Konkans gestrandet sei, wobei nur 14 Männer und 14 Frauen überlebt hätten. Sie gelangten an den Strand von Nawgaon, einem Dorf in der Nähe der beiden felsigen Inseln Henery und Kenery. Nawgaon liegt in der Nähe des Dorfes Kehim und sehr nahe von Alibag, einer Stadt 30 Meilen südlich von Bombay. Viele Leichen der Ertrunkenen wurden an den Strand geschwemmt und von den Überlebenden unter zwei länglichen Hügeln, die man noch heute in Nawgaon sieht, bestattet. Man sagt, daß unter dem nördlichen Hügel die Männer, unter dem südlichen die Frauen begraben sind. Die gesamte Habe der Überlebenden, religiöse Gegenstände eingeschlossen, gingen mit dem Wrack verloren. Es gelang den Geretteten, sich in der Gegend irgendwie anzusiedeln und als Bauern und Ölpresser ohne jeden Kontakt zu Juden anderswo zu leben."

Dieser Bericht bietet keine wirklichen Anhaltspunkte für die Rekonstruktion der Herkunft der Bene Israel. Natürlich wurde vermutet, sie seien Nachfahren der verschollenen 10 Stämme Israels. Die Feste, die sie feiern, könnten ein Hinweis darauf sein, daß sie etwas vor der Zeit der Makkabäer an die Westküste Indiens gelangt sind. Dafür würde sprechen, daß sie zwar Rosh Ha-Shana, aber nicht Hanukka feiern. Während Kehimkar daran dachte, sie kämen aus Galiläa, nannten andere die babylonische Diaspora, Arabien oder den Jemen. Man könnte freilich auch an Ägypten, das Zentrum des hellenistischen Judentums, denken. Rein technisch war es so, daß die Schiffahrt aus diesen Gebieten jeweils entlang der Küsten und nicht quer durch die Meere verlief.

In jedem Fall standen die Bene Israel im Laufe der Jahrhunderte unter dem nachhaltigen Einfluß ihrer indischen Nachbarn. So berichten die Missionare des 19. Jh. von religiösen Praktiken, die offenkundig dem hinduistischen Polytheismus entstammten. Besonders auffällig ist auch der Umstand, daß die Bene Israel Elemente des indischen Kasten-Systems übernommen haben. Es werden zwei Gruppen unterschieden, nämlich die an Zahl stärkere Oberschicht, die "Gora Israel" ("Weiße Israel") und die niedrigere Kaste, die "Kala Israel" ("Schwarze Israel"). Wie Kehimkar (bedauernd) feststellt, gehen sie keine Ehen mit Angehörigen der jeweils anderen Gruppe ein und essen auch nicht mitsammen. Man kann daher davon ausgehen, daß es im Laufe der Geschichte nicht nur durch außereheliche Beziehungen zu Hindus, sondern auch durch Übertritte von hinduistischen Nachbarn zum Judentum zur bestehenden Gesellschaftsstruktur bei den Bene Israel kam. Zahlenmäßig bildeten sie mit etwa 14000 Seelen die größte Gruppe, der in Indien (Kalkutta, Cochin) lebenden Juden. Seit der Auswanderung der überwiegenden Mehrheit nach Israel, wo sie etwa in Beersheba leben, ist ihre Zahl in Indien nur mehr marginal.

Wiewohl die christliche Mission durchaus daran interessiert war, die Bene Israel zum Christentum (Church of Scotland) zu bekehren, ging Rev. John Wilson dabei einen indirekten Weg, der zunächst das Ziel hatte, die Bene Israel in ihrem Judentum zu fördern.

Die Magen Aboth-Synagoge der Bene Israel in Alibag (Indien) erbaut 1910.(Foto Encyclopaedia Judaica)

Um ihnen den Zugang zur hebräischen Bibel zu eröffnen, verfaßte er, der ein angesehener Orientalist war, in Marathi, der Muttersprache der Bene Israel, eine hebräische Grammatik und machte Ihnen so Teile der Bibel durch die Übersetzung ins Marathi erstmals zugänglich.
Über irgendwelche Missionserfolge wird freilich nicht berichtet. In diesem Zusammenhang ist ein Argument der Bene Israel sehr erhellend: Sie meinten, daß sie selbst zwar den christlichen Anspruch, der Messias sei mit Jesus bereits gekommen, nicht widerlegen könnten, aber Juden, die gebildeter wären als sie, wären dazu sicher in der Lage.
Das entspricht den Gedanken, die in einem religiösen Gedicht (Lavni) des Elloji Shahir aus dem 18. Jh. zum Ausdruck kommen:
"Warum hast du den wahren Glauben vergessen, wo du doch ein Sohn Israels bist? Wenig Wissen und viel Schein und Trug, das ist es, was die Ungläubigen verbreitet haben."
Nicht zuletzt durch die christlichen Missionsschulen hob sich aber der Bildungsstand der Bene Israel, von denen viele zur Zeit der Britischen Herrschaft in Indien nach Bombay kamen und durchaus angesehene Positionen einnahmen.
Zurück zu Rosch Ha-Schana. Ursprünglich feierten die Bene Israel nur einen Tag dieses Festes, dessen Charakter, wie in Nm 29,1 gefordert, durch gottesdienstliche Versammlung, Freisein von Arbeit und die Teruma gekennzeichnet ist. Wie alte Abbildungen zeigen, kennen sie auch das Schofar, wobei sich kaum bestimmen läßt, seit wann das der Fall ist. Allerdings ist in dem Bericht von Rabbi David deBeth Hillel aus dem Jahr 1833 bereits davon die Rede. Der Gedanke des Neubeginns, der offenbar mit Rosh Ha-Schana verbunden wird, drückt sich einerseits darin aus, daß vor dem Fest die Innen- und Außenwände der Häuser weiß getüncht werden und das Tragen neuer Kleider eine Selbstverständlichkeit ist.
Aber vielleicht bringen Worte aus einem anderen religiösen Gedicht (Lavni) des Shahir besser als äußere Handlungen zum Ausdruck, was die Bene Israel an diesem Tag empfanden:

"Singen wir den Lobpreis des Herrn
aus der Zufriedenheit des Herzens:
Er steht über allem.
Er ist der Schöpfer von Gut und Böse.
Sein Auge ist auf jeden gerichtet.
Er nährt jeden, außer den, den er prüfen will."