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CHANUKKA UND DER FELSENDOM

Ferdinand DEXINGER

CHANUKKA UND DER FELSENDOM

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An dieser Stelle wurden zu Chanukka, was ja naheliegend ist, der Tempel und der Platz, auf dem bis zu seiner Zerstörung im Jahre 70 das biblische Heiligtum stand, mehrmals in den Blickpunkt gerückt (vgl. besonders DAVID 11(43, 1999 Seite 5-6). Was dabei zu Besorgnis Anlaß gab, rührte nur daher, daß in Israel maximale Zielvorstellungen hauptsächlich von Randgruppen artikuliert wurden.
Als Optimist konnte man hoffen, daß die Realpolitik andere Wege beschreiten würde. Freilich besteht und bestand immer die Gefahr, daß nicht religiös motiviertes politisches Kalkül gegebenfalls nur zu gerne bereit ist, religiöse Forderungen, die kein Widerspruch zu seinen pragmatischen Anliegen sind, in den Dienst zu stellen und auf diese Weise Religion zu instrumentalisieren. Leider ist die schwierige aktuelle Situation im Nahen Osten nicht zuletzt durch eine solche Vorgangsweise ausgelöst worden. Wie könnte man also zum heurigen Chanukka-Fest den Gedanken an dieses Thema ausweichen? Wendet man sich also diesem Problem zu und will man der Gefahr entgehen, im Interesse der Festtagsstimmung einem gefährlichen Realitätsverlust zu erliegen, dann darf man nicht nur den Stellenwert und Symbolcharakter des Zweiten Tempels und jenen der messianischen Zukunft vor Augen haben, sondern selbstverständlich auch den des real existierenden Heiligtums des Islam. Die physische Integrität der Gebäude, die ja zum Weltkulturerbe gehören ist weitestgehend unbestritten. Unzertrennlich damit verbunden ist aber der Symbolcharakter dieser beeindruckenden Bauwerke, die das Stadtbild Jerusalems seit nunmehr mehr als 1300 Jahren prägen, während der biblische Tempel nur etwa 1000 Jahre diese Rolle spielte.

 

 

Blick auf den von Abd Al-Malik (685-705)
erbauten Felsendom in Jerusalem.

Die Bedeutung Jerusalems bestimmt die Beziehung des Islam zum Heiligen Land insgesamt. Es ist in der hier gebotenen Kürze nicht möglich, alle Einzelschritte nachzuzeichnen, die Jerusalem in islamischer Tradition zu dem gemacht haben, was es heute ist. Hilfreich mag dabei aber zunächst der Hinweis auf den dreifachen Ehrennamen sein, der den religionshistorischen Prozeß widerspiegelt. Demnach ist Jerusalem:
Erste der beiden Gebetsrichtungen, Zweites der beiden Heiligtümer, Dritter unter den Wallfahrstorten. (Erstmals belegt in einer bei der Rückeroberung Jerusalems durch Saladin (1187) gehaltenen Rede, die bei Ibn Khalikan aufgezeichnet ist. Vgl. De Slane, Ibn Khallikan (engl. Übers.) II,636f.)
Der Umstand, daß Jerusalem die erste Gebetsrichtung war, illustriert augenscheinlich die grundsätzliche Verankerung des Islam in der biblischen Tradition. Es ist wohl kaum ausreichend, den Grund dafür in einer bloß äußerlichen Nachahmung jüdischer Gebetspraxis auf der arabischen Halbinsel zu sehen. Vielmehr erscheint es plausibel, folgendes anzunehmen: Jerusalem wurde im Sinne biblisch-jüdischer Tradition als das gesehen, was später von Mekka ausdrücklich festgestellt wird, daß es nämlich eine Gründung Abrahams ist. Die Beziehung Abrahams zu Jerusalem ist zum ersten Mal in 2 Chr 3,1 indirekt belegt. Dort wird nämlich der Gen 22,2 nicht lokalisierte Opferplatz für Isaak erstmals mit dem Zion, also dem späteren Tempelplatz identifiziert.
Die späteren biblischen Traditionen angehörende Sicht Jerusalems als eines durch Abraham geheiligten Ortes wird im Koran dann auch auf Mekka ausgedehnt, das dadurch sogar einen Vorrang vor Jerusalem erhält.
Nach Sure 2,127 errichtete nämlich Abraham, lange bevor nach biblischer Tradition Salomo dasselbe in Jerusalem tat, ein Heiligtum in Mekka:
Und (damals) als Abraham die Grundmauern -die des Hauses (der Ka'aba)- aufführte, (er) und Ismael (zu Gott betete): "Herr! Nimm es von uns an!" .
Dieser Wortlaut erinnert an 1Kg 8,28f, wo Salomo bei der Tempelweihe in gleicher Weise um die Annahme seines Werkes durch Gott betet. Die Errichtung des Tempels in Jerusalem findet sich nicht in der koranischen Tradition. Zum Ort heiliger Erinnerung im Islam wird Jerusalem durch die Himmelsreise des Propheten. Obwohl im Koran Jerusalem auch in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich genannt wird, ist nach allgemein akzeptierter islamischer Interpretation mit der "fernen Kultstätte" in Sure 17,1 jedoch Jerusalem gemeint:
"Gepriesen sei der, der mit seinem Diener bei Nacht von der heiligen Kultstätte (in Mekka) nach der fernen Kultstätte (in Jerusalem), deren Umgebung wir gesegnet haben, reiste, um ihn etwas von unseren Zeichen sehen zu lassen."
Jerusalem ist also nicht nur mit den Vorläufern des Propheten Mohammad, zu denen ganz besonders auch Abraham zählt, sondern mit ihm selbst verbunden und dadurch geheiligt. Jerusalem wird auf diese Weise aber auch zum Symbol für die prinzipielle Bezogenheit des Islam auf die biblische Religion.
Jerusalem gehört nun, wie sich aus einem Hadith ergibt und oben schon erwähnt wurde, in die Reihe der drei kanonischen Wallfahrtsorte:
"Nur zu drei Moscheen sollt ihr eure Reittiere satteln: zur Heiligen Moschee, der Kaaba, zu meiner Moschee, d.h. im Munde des Propheten: Medina, und zur Fernen Moschee, also dem Jerusalemer Heiligtum."
Es ist wohl selbstverständlich, daß diese Heiligtümer nicht außerhalb des Dar al-Islam liegen dürfen. In der Zeit der Kreuzzüge befanden und seit dem Sechstagekrieg befinden sich aber die Heiligtümer in Jerusalem nicht im islamischen Herrschaftsbereich. Es wäre wohl eine Illusion zu meinen, dieser Umstand sei, weil religiösen Ursprungs, eine politische quantité negligeable.
Die jüdisch religiöse Position zum Tempel in Jerusalem hat sich seit seiner Zerstörung vor etwa 2000 Jahren gewandelt und hat im Unterschied zur islamischen einen weit größeren Spielraum.

 


Modell des Zweiten Tempels zur Zeit Herodes d.Gr.,
der im Jahre 70 n.Chr. zerstört wurde

Charakteristisch dafür ist die bis in die Gegenwart gültige Halacha, die frommen Juden das Betreten des gesamten Areals überhaupt untersagt ist. Das erfuhr der Autor dieser Zeilen ganz lebensnah, als er vor etwa dreißig Jahren den Tempelplatz durch das Maghreb-Tor betreten wollte und von einem frommen Wächter nachhaltig auf die dort angebrachte Verbotstafel hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht wurde, daß er im Begriffe sei, etwa Verbotenes zu tun. "Tempora mutantur et nos mutamur in illis." Diese religionsgesetzliche Regelung beruht im Grunde darauf, daß auch zur Zeit, als der Tempel noch stand, das Betreten der verschieden heiligen Zonen nur den dazu Berechtigten nach entsprechender kultischer Reinigung gestattet war. Da nun die genaue Lage dieser Tempelbezirke heute unbekannt ist, und es an den mit dem Tempelkult selbst verbundenen kultischen Reinigungsmöglichkeiten fehlt, hält sich der fromme Jude, um jede Übertretung zu vermeiden, an dieses allgemeine Verbot. Es hat freilich bis in die letzte Zeit immer wieder Ansätze halachischer Überlegungen gegeben, differenziertere Möglichkeiten zu eröffnen, die allerdings keine allgemeine Akzeptanz gefunden haben. Diese sind nicht zuletzt im Hinblick auf den Bau einer Synagoge im Bereich des heutigen Areals, auf dem sich der Felsendom und die Aksa-Moschee befinden, diskutiert worden. Es ist offenkundig, daß gerade in der gegenwärtigen gespannten Atmosphäre ein solches problematisches Anliegen religionsgesetzlich eher marginaler Gruppen keine Priorität für säkulare pragmatische Politik haben müßte. Vom geltenden jüdischen Religionsgesetz her besteht weder die Verpflichtung zu irgendwelchen Zubauten am Tempelplatz oder gar dem Neubau des Heiligtums und, was politisch brisanter ist, auch nicht zur profan-staatlichen Souveränität über dieses Areal.
In unserer Zeit der Medienkultur und des "Imagegerangels" bleiben solche Schreibtischüberlegungen aber weithin wirkungslos. Was zählt, sind plakative Symbolhandlungen als Ausdruck säkularer Politik. So gesehen, mußte Ariel Sharon auch genau wissen, was er mit seinem kaum religiös zu motivierenden Tempelbesuch auslösen würde. Die arabisch-islamische Reaktion glich jedenfalls der der Makkabäer, die zu den Waffen griffen, als Antiochus' IV das Heiligtum schändete. Antike Parallelen, oder was als solche erscheinen mag, lassen jedenfalls erkennen, daß die Tendenz besteht, nationale Symbole auch unter eine ihnen entsprechende Souveränität zu stellen, ganz so, wie es die Hasmonäer erreicht haben. Es geht an Chanukka natürlich nicht darum, den Stellenwert des Felsendomes in der islamischen religiösen Tradition zu beschreiben und seine Bedeutung für säkulare Politik zu bewerten. Man wird dem hier bestehenden Problem aber auch nicht gerecht werden können, ohne den Tatsachen ins Auge zu schauen. Die Minimalisierung dieser Bedeutung, wie man ihr gelegentlich im Tourismus, aber auch in Vorträgen begegnet, ist Selbsttäuschung. Vielmehr muß jede "Realpolitik" die diese Bezeichnung verdient, den identitätsstiftenden Aspekt solcher Traditionen respektieren. Wie es scheint, und auch das könnte zu Chanukka nachdenklich stimmen, ist der islamische Spielraum hier kleiner als der jüdische. Aber auch im Hinblick auf seine profan-nationale identitätsstiftende Symbolik ist der Haram esh-Sharif wohl nicht die geeignetste hauptstädtische Visitenkarte für den modernen souveränen Staat Israel.