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Unterwegs von Györ in Richtung Székesféhervar:

Gerald GNEIST

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Fährt man die Landstraße 81 von Györ (Raab) in Richtung Székesféhervar (Stuhlweißenburg) nach Moor, einer früheren Schwabenstadt Westungarns, so springt am Ortsanfang dem Neugierigen eine geheimnisvolle Umfriedung ins Auge. Umgeben von jahrhundertealten Akazienbäumen, zieht sich, eine aus Bruchsteinen errichtete, kurze Mauer den Straßengraben entlang. Was sie dahinter verbarg, gab mir vorerst ein Rätsel auf. Vielleicht ein Soldatenfriedhof, dachte ich, denn im vorigen Jahrhundert kämpften hier aufständische Ungarn gegen die Habsburger. Einige Anfragen bei der zu einem erheblichen Teil nicht autochthonen Bevölkerung führten zu keinem Ergebnis. Erst eine alte Lehrerin wußte Bescheid. Es wäre dies, so wurde mir mitgeteilt, der alte jüdische Friedhof.
Eines Tages schlich ich, nur mit japanischer Plastikkamera samt Tele bewaffnet, zur Moorer Ortsgrenze hinaus, begleitet von meiner ungarischen Adjudantin, die mir auch als Dolmetscherin helfen konnte. Als wir beim verrosteten Eisentor anlangten, fanden wir dieses mittels einer Kette und einem Vorhangschloß versperrt vor. Durch die Gitterstäbe blickend, begann ich vorerst das Areal zu sondieren. Doch die beim desolaten "Pförtnerhaus" inmitten von Gerümpel und Alteisen angeketteten Köter begannen wütend zu kläffen. Einige Hühner gurrten plötzlich vorbei, die Gänse schnatterten, und der Gänserich streckte den Hals zur Attacke vor. Während dieses Infernos erschien dann ,Gott sei Dank, die relativ junge "Pflegerin" des Gottesackers, die uns in den sekundär genutzten Friedhof einließ. Er war ziemlich verwahrlost, doch die Hauptwege waren noch begehbar. Seitlich davon herrschte allerdings ein eher dschungelartiger Zustand. Da schossen Sprößlinge hervor und lästiges Dornengestrüpp. Aber man konnte doch mit einiger Mühe zu den letzten Ruhestätten der im Leben und im Tod isolierten Juden vordringen. Sie nannten sich Stejner, Eiltzer, Schiller, Grünfeld, Löwy, Friedmann, Pargit, Eibisch, Sternfeld, Ehrenfeld, Lazar, Deutsch, Stern, Kohn, Fleischmann und nicht zuletzt Buchler. Aus dieser Familie stammte auch der Rabbi.
Obwohl am Moorer Friedhof der Zahn der Zeit erheblich nagt, ist er dennoch nicht ganz vergessen. Es gibt angeblich ein schwaches Dutzend jüdischer Familien, welche die Erinnerung an Verstorbene aufrecht erhalten. Vor allem Besucher aus Budapest und Frankreich würden auftauchen und Kränze hinterlegen, erzählte die "Pflegerin". Nachdem ich ihr einen Geldschein zugesteckt hatte, berichtete sie auch von ihren Sorgen und Ängsten. Zwar erhielte sie von der jüdische Gemeinde in Budapest bescheidene finanzielle Zuwendungen, da aber dort ein jüdisches Gymnasium errichtet werden soll, fürchte sie selbst um diese karge Unterstützung.
Was den Zustand des sehenswerten Friedhofes anbelangt, so muß korrekter Weise gesagt werden, daß diese Frau ohne geeignete Mittel und Werkzeuge natürlich nicht in der Lage sein konnte, wie ein k & k Hofgärtner zu agieren. Und Hilfe von der städtischen Gärtnerei hatte sie wohl gar keine zu erwarten, denn nach Ferenc Schmidt, Bürgermeister der Stadt Moor, wäre die jüdische Gemeinde in Stuhlweißenburg für die Erhaltung zuständig. Der Friedhof kann auch nicht als devastiert bezeichnet werden. Das heißt, hier in Moor wurden weder die Grabsteine zerstört noch die Gräber geplündert. Dem Besucher bietet sich vor Ort trotzdem ein trauriges und trostloses Bild, welches eindeutig erkennen läßt, daß die Juden in und um Moor schon weit bessere Zeiten erlebt haben mußten.
Bereits nach der Türkenbefreiung hatten Moorer Juden den Handel in der Hand. Der Steuerbogen von 1732 nennt zwei von ihnen mit dem Namen Hirschl.
Einer pachtete die örtliche Schnapsbrennerei, der andere ein Geschäft. Die "Urbarialischen Tabellen" des Marktfleckens Moor von 1768 weisen bereits 124 Juden unter rund 4000 Christen auf. Im Zeitalter des Merkantilismus wandte sich die örtliche Zunft der Stiefelmacher an die Königin mit der Bitte, den Juden den Verkauf von Stiefeln im Geschäft zu untersagen, um deren wirtschaftlichen Einfluß unterbinden zu können. Da aber das herrschaftliche Monopol an einen Juden verpachtet worden war, mußten sie dem Grundherrn gehorchen.
Die Juden verfügten auch über eine Synagoge. 1805/06 lebten sechs jüdische Kaufmannsfamilien im Ort, "Gewölb" hatte nur einer, die anderen hausierten. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts stieg ihre Zahl auf 19 an, und um 1870 zählte man schon über 400 Juden. 1853 entstand damals der eigene Friedhof. Es gab sogar einen jüdischen Wohltätigkeitsverein. Seine Mitglieder erhielten freie ärztliche Versorgung und finanzielle Hilfe. Ab 1868 waren Juden als Gemeindeärzte tätig, wie Nathan Steiner, dem Leopold Blau und Maxim Löwy knapp vor der Jahrhundertwende folgten.
Nicht nur in Moor, sondern im ganzen Königreich hatte diese Minderheit am gesamtungarischen Kulturbewußtsein einen relativ großen Anteil, obwohl sich die Wissenschaft und auch sie selbst nicht einig sind, ob sie einem Volk oder einer Religionsgemeinschaft zuzuordnen sind.
Den Juden im Reich der Stephanskrone war die Welt der Ostjuden fremd. Sie fühlten sich in der Mehrzahl dem deutschen Kulturkreis zugehörig, galten als kaisertreu und sind selbst heute noch - hier vor allem in Budapest - im kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben integriert. Am 2. November 1918 lief aber für die Moorer Juden nichts mehr. Dieser Tag gilt heute als schwarzer Tag der Handelsgeschichte, da das örtliche Gesindel die Geschäftsläden plünderte. Unter der Räterepublik wurde 1919 dann die Judenschule aufgelöst, obwohl der Lehrer damals, Nathan Beregis, der Beauftragte des Unterrichtswesens war. Im ganzen Land leisteten damals die Juden durch Magyarisierung ihres Namens der Assimilierung scheinbar einen Vorschub, dennoch blieb vor allem das jüdische Bürgertum nach wie vor deutsch.
Die Weltwirtschaftskrise in den 30-er Jahren verursachte in Ungarn ebenfalls einen Tiefpunkt des Handelslebens, was natürlich auch an den Moorer Juden nicht spurlos vorbei ging. Als dann 1939 judenfeindliche Gesetze in Kraft traten, zeichnete sich der Untergang schon deutlich ab. Ihre Geschäfte und anderen Immobilien im Ort wurden beschlagnahmt. Sie selbst wurden zu Zwangsarbeiten herangezogen oder kamen nach der Besetzung Ungarns im März 1944 durch deutsche Truppen in Vernichtungslager. Ein Großteil der Moorer Bevölkerung, meist nur Alte, Frauen und Kinder, stand der Verschleppung der Juden mit Gleichgültigkeit gegenüber. Von einer oft behaupteten, glücklichen Symbiose von Schwaben, Ungarn und Juden war nichts zu bemerken.

Moor (ungar. Mór): Die Kleinstadt liegt in einer Senke zwischen dem Schildgebirge (Vértes) und dem Buchenwald (Bakony). Sehenswert ist im Zentrum nur das Schloß Lamberg und das Luzenszky- oder Kettenkastell. Ungarische Patrioten dürfen das Heldendenkmal für die in den Kämpfen von 1848 gefallenen ungarischen Soldaten natürlich nicht versäumen. Ein Fresko in der Kapuzinerkirche erinnert an die Sárréter Schlacht (südlich von Moor).

Fotos vom Moorer Judenfriedhof