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Patriot und Weltbürger zugleich

Claus STEPHANI

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Sie kamen aus fernen Landstrichen in Galizien und der Bukowina, die im damals österreichisch geprägten Osten Europas lagen, sie kamen aus Städten wie Brody (in der heutigen Ukraine), Czortkow (heute Tschortkiw, Ukraine), Zablotow (heute Sabolotiw, Ukraine), Tarnopol (heute Ternopil, Ukraine), Lemberg (heute L´viv, Ukraine)  und Czernowitz (heute Tschernivzi, Ukraine), oft aus Schtetln am Rande des großen Habsburgerreichs, deren Namen heute meist nur deshalb noch im Gedächtnis der Menschen weiterleben, weil dort einst ein ostjüdischer Schriftsteller oder Künstler geboren wurde. So stammt der Dichter Kubi Wohl, ein „Meteor der proletarisch-revolutionären Dichtung in jiddischer Sprache", aus Zibau bei Mariensee-Kirlibaba, einer  abgelegenen Holzfällersiedlung in den bukowinischen Waldkarpaten (heute Tibau bei Carlibaba Noua, Rumänien), Isaac Schreyer wurde im Schtetl von Wischnitz am Tscheremousch (heute Wyschnyzja, Ukraine) geboren, und der heute in Israel lebende Schriftsteller, Übersetzer und Hochschulprofessor Manfred Winkler erblickte in Putila bei Radautz, einem kleinen Dorf in der Südbukowina (heute Radauti, Rumänien) das Licht der Welt. Viele dieser Dichter, Künstler und Musiker haben einen herausragenden und unvergesslichen Beitrag zur europäischen Literatur und Kultur geleistet, ihr Werk ist heute von internationalem Rang. Der elitäre Reigen spannt sich von Karl Emil Franzos bis zu Manès Sperber, von Paul Celan zu Rose Ausländer, um hier nur vier große Namen des 19. und 20. Jahrhunderts hervorzuheben, stellvertretend für jene vielen, die ebenfalls unvergesslich geblieben sind.

Zu ihnen gehört auch der österreichische Schriftsteller, Romancier, Essayist und Journalist Joseph Roth, an den - anlässlich seines 70. Todestages - nun erinnert werden soll. Hermann Kesten, Herausgeber einer bedeutenden Werkausgabe Roths, charakterisierte ihn treffend als „Rigorist im Moralischen und Ästhetischen", denn

„Wahrheit und Gerechtigkeit, Maß und Melodie, Vernunft und Reinheit sind die Merkmale seiner Schriften. Er war ein Romantiker, aber mit den Augen eines Realisten. Er kam aus dem Osten und ging in den Westen."

Joseph Moses Roth, so sein vollständiger Name, wurde am 2. September 1894 in der galizischen Kleinstadt Brody geboren, in der damals mehrheitlich jüdische Einwohner lebten. Später behauptete der Schriftsteller, er sei in Schwabendorf (heute Szwaby), einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Brody geboren, wo es damals neben der lokalen deutschen Mehrheitsbevölkerung auch einige jüdische und polnische Familien gab. Tatsache ist, dass Roth ab 1901 in Brody die Baron-Hirsch-Schule - eine Gründung des bekannten Eisenbahnmagnaten und Philanthropen Maurice de Hirsch - mit Deutsch als Unterrichtssprache besuchte und danach von 1905 bis 1913 in Brody Schüler des Kronprinz-Rudolf-Gymnasiums war. Hier wurde er 1913 als einziger jüdischer Schüler seines Jahrgangs beim Abitur mit dem Prädikat „sub auspiciis imperatoris" ausgezeichnet.

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Joseph Roth in Paris 1935. Abb. mit freundlicher Genehmigung C. Stephani

Im selben Jahr zog Joseph Roth nach Lemberg, um dort zu studieren, doch bereits im Herbst hielt er sich zeitweilig in Wien auf, wo er von 2. bis 9. September am 11. Zionisten-Kongress teilnahm. Nachdem er bekanntlich seine „literarische Heimat offenbar in der deutschen Literatur sah", entschloss er sich damals, in Wien zu bleiben und an der Universität zu immatrikulieren. Zeitweilig wohnte er zusammen mit seiner Mutter Maria, geb. Grübel, und einer Tante, die vor den Wirren des Krieges im Osten nach Wien geflohen waren in bescheidenen Verhältnissen im 22. Bezirk, Wallensteingasse 14/16. Roths materielle Lage verbesserte sich erst, als er ein Stipendium und einige Hauslehrerstellen erhielt. Doch dann begannen die politischen Ereignisse auch das Leben in Wien zu verändern. Davon wurde nun auch der Pazifist und als „kriegsuntauglich" eingestufte junge Schriftsteller und Journalist Joseph Roth betroffen:

„Als der Krieg ausbrach, verlor ich meine Lektionen, allmählich, der Reihe nach. Die Rechtsanwälte rückten ein, die Frauen wurden übelgelaunt, patriotisch, zeigten eine deutliche Vorliebe für Verwundete. Ich meldete mich endlich freiwillig zum 21. Jägerbataillon."

Das war am 31. Mai 1916. Sechs Monate später, als am 21. November der 86-jährige Kaiser Franz Joseph verstarb, stand Roth in der Kette von Soldaten entlang des Wegs, den der Beerdigungszug nahm. Die teils schmerzliche „Erkenntnis, dass ein historischer Tag eben verging", und „die zwiespältige Trauer um den Untergang eines Vaterlandes, das selbst zur Opposition seine Söhne erzogen hatte" wurden nun zur zentralen Metapher für den Zusammenbruch des Habsburgerreichs sowie für den Verlust von Heimat in Roths literarischem Schaffen, so in seinem erzählerischen Spätwerk „Radetzkymarsch" (1932) und „Kapuzinergruft" (1938). Und in den letzten Wochen der Weimarer Republik vermerkte er bekenntnishaft:

„Mein stärkstes Erlebnis war der Krieg und der Untergang meines Vaterlandes, des einzigen, das ich je besessen: der österreichisch-ungarischen Monarchie."

Im Vorwort zum „Radetzkymarsch" heißt es dann:

"Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland, die österreichisch-ungarische Monarchie, zertrümmert. Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen österreichischen Völkern. Ich habe die Tugenden und die Vorzüge dieses Vaterlands geliebt, und ich liebe heute, da es verstorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und Schwächen. Deren hatte es viele. Es hat sie durch seinen Tod gebüßt. Es ist fast unmittelbar aus der Operettenvorstellung in das schaurige Theater des Weltkriegs gegangen."

Noch während seiner Militärzeit hatte Roth begonnen, Berichte, Feuilletons, Gedichte und Prosa zu veröffentlichen, zuerst in den Zeitschriften Der Abend und Der Friede sowie in Österreichs Illustrierter Zeitung. Im April 1919 wurde er Redakteur der Zeitung Der Neue Tag, zu deren Mitarbeiter Alfred Polgar, Egon Erwin Kisch und Anton Kuh gehörten. Ab Januar 1923 arbeitete Roth als Feuilletonkorrespondent für die renommierte Frankfurter Zeitung und veröffentlichte in den folgenden Jahren außerdem zahlreiche Beiträge in der Wiener Sonn- und Montagszeitung sowie in den Zeitungen Neues 8-Uhr-Blatt, Der Tag (beide in Wien) und Prager Tageblatt. Während dieser Zeit arbeitete er an seinem ersten Roman („Das Spinnennetz"), der im Herbst 1923 in Fortsetzungen in der Wiener Arbeiter-Zeitung abgedruckt wurde, jedoch letztlich unvollendet blieb.

Am 5. März 1922 hatte Joseph Roth in Wien Friederike (Friedl) Reichler geheiratet. Friedl war eine attraktive und intelligente Frau, doch das ruhelose, mondäne Leben an der Seite eines reisenden Starjournalisten entsprach nicht ihren Bedürfnissen. Sie verfiel zunehmend in Apathie, wurde psychisch krank und pflegebedürftig, und so brachte man sie im November 1930 in das Sanatorium Rekawinkel bei Wien. Im Dezember 1933 kam sie in die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof bei Wien und schließlich im Sommer 1935 - nachdem Roth die Scheidung beantragt hatte - in das Landesklinikum Mostviertel Amstetten-Mauer. Von hier wurde Friedl Roth nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Richtung Linz verschickt und am 15. Juli 1940 im Zuge des NS-Euthanasieprogramms ermordet.

Schon am 30. Januar 1933, jenem Tag, an dem Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt wurde, hatte sich Joseph Roth entschlossen, Deutschland zu verlassen und nach Frankreich zu gehen. In einem Brief an Stefan Zweig zeigte er einen erstaunlichen Weitblick:

„Inzwischen wird es Ihnen klar sein, dass wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten - unsere literarische und materielle Existenz ist ja vernichtet - führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert."

Bald wurden auch Roths Bücher verbrannt, und so blieb er zunächst in Paris, hielt sich aber im Laufe der folgenden Jahre nicht ständig in Frankreich auf. Er unternahm öfters, manchmal auch längere Reisen - in die Niederlande, nach Österreich und nach Polen, wo er auf Einladung des polnischen PEN-Clubs eine Reihe von Vorträgen hielt. Von Juni 1934 bis Juni 1935 lebte Roth, wie viele andere Exilanten auch, an der französischen Riviera. Zusammen mit Hermann Kesten und Heinrich Mann hatten Roth und Manga Bell, seine damalige Lebensgefährtin - Tochter einer Hamburger Hugenottin und eines farbigen Kubaners - in Nizza ein Haus gemietet. Anfang Juli 1936 fuhr Roth auf Einladung Stefan Zweigs nach Ostende, wo er die Schriftstellerin Irmgard Keun kennen lernte. Jahre später schrieb sie über diese Begegnung:

„... da hatte ich das Gefühl, einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung, und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram."

Von 1936 bis 1938 lebten die beiden zusammen in Paris. Keun begleitete Roth auch auf seinen Reisen, unter anderem bei seinem Besuch in Lemberg zu Weihnachten 1936, wo er sie seiner alten Freundin Helene von Szajnoda-Schenk vorstellte. Im Unterschied zu anderen österreichischen und deutschen Exilanten gelang es Roth, nicht nur literarisch produktiv zu bleiben, sondern auch seine Werke zu veröffentlichen. Sie erschienen in den niederländischen Exilverlagen Querido und Allert de Lange, sowie im christlichen Verlag De Gemeenschap.  Außerdem publizierte Roth auch Beiträge in der von Leopold Schwarzschild herausgegebenen Exilzeitschrift Das Neue Tage-Buch. Infolge häufigen Alkoholkonsums verschlechterte sich sein gesundheitlicher Zustand nach 1937 immer mehr. Hinzu kam ein „zweiter Heimatverlust": Im November 1937 hatte man das Hotel Foyot, wo er zehn Jahre lang gelebt hatte, abgerissen. Daraufhin bezog er in derselben Straße, der Rue de Tournon, über seinem Stammcafe, dem Café Tournon, ein bescheidenes Zimmer. Es sollte sein letztes Logis auf dieser Welt bleiben.

An diese Jahre des Exils, die vom Nationalsozialismus bedrohlich überschattet waren, erinnerte vor Kurzem eine umfassende Dokumentarausstellung in München, die von der Gesellschaft zur Förderung jüdischer Kultur und Tradition e.V. unter Vorsitz von Ilse Ruth Snopkowski veranstaltet wurde. Unter dem Titel „Joseph Roth im Exil 1933 bis 1939" zeigten die beiden verdienstvollen Kuratoren, Heinz Lunzer, der frühere Leiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur (Wien) und Victoria Lunzer-Talos, wie Roths Leben in jenen sechs Jahren immer hoffnungsloser und verzweifelter wurde, obwohl er auch vielen österreichischen und deutschen Schicksalsgenossen Mut machte und ihnen dadurch half, die aussichtslos scheinende Situation irgendwie zu meistern. Manche Exponate waren, wie es im Begleitbuch heißt, erst vor kurzem aufgefunden worden, und viele stammen aus dem Forschungsmaterial der beiden ersten Roth-Wissenschafter: David Bronsen, der die erste große Roth-Biographie schrieb, und Senta Zeidler, die sich als erste in Österreich wissenschaftlich mit Joseph Roth auseinandersetzte. Beide hatten bereits in den 1950er und 1960er Jahren, als noch viele Zeitzeugen Roths lebten, die Wege des Schriftstellers in der schmerzlichen Zeit des Exils erkundet. Dieses bisher wenig bekannte und kaum veröffentlichte Material wurde im Rahmen der Schau erstmals gezeigt und ausführlich kommentiert.

Im künstlerischen Begleitprogramm zur Ausstellung wurde eine Verfilmung des Romans „Das Spinnennetz" (D 1989, Regie: Bernhard Wicki) gezeigt sowie „Hiob" - ein Bühnenspiel nach Joseph Roths gleichnamigem Roman aufgeführt. Hier interpretierten die Grazer Schauspieler Johannes Pump und Katharina C. Sobotka sprachlich ausdrucksvoll und mit meisterhaftem Charme die biblische Geschichte des von Schicksalsschlägen heimgesuchten Melamed Mendel Singer. Zu einem besonderen Ereignis der Joseph-Roth-Tage wurde die Lesung mit Franz Tscherne, dem bekannten österreichischen Schauspieler, der im Film „Radetzkymarsch" Kaiser Franz Joseph gespielt hatte. Tscherne las mit hinreißender Begeisterung und Leidenschaft aus Roths Essays „Juden auf Wanderschaft". Musikalisch umrahmt wurde die Lesung mit Klezmermusik (Alexander Maier, Klarinette und Bartek Stanczyk, Akkordeon). Im Vorwort zu diesem Essay (veröffentlicht 1927) stellt Roth die Frage, für wen das Buch bestimmt sei und ob es noch westeuropäische Leser gebe,

„die fühlen, dass sie vom Osten viel zu empfangen hätten und die vielleicht wissen, dass aus Galizien, Russland, Litauen, Rumänien große Menschen und große Ideen kommen".

Einer dieser großen Menschen, die aus dem Osten kamen, war auch Joseph Roth, der, von den Natio-nalsozialisten ins Exil gehetzt, am 23. Mai 1939 ins Armenspital Hôpital Necker eingeliefert wurde, nachdem er zuvor im Café Tournon zusammengebrochen war, als er vom Selbstmord Ernst Tollers erfahren hatte. Am 27. Mai starb der bekannte Schriftsteller, vereinsamt, krank und heimatlos, an einer doppelseitigen Lungenentzündung im Alter von nur 45 Jahren. Sein Grab liegt in der katholischen Sektion der Cimetière de Thiais im Süden von Paris. Die schlichte Inschrift auf dem Grabstein lautet „écrivain autrichien - mort à Paris en exil". In seiner galizischen Heimatstadt Brody, deren Name durch Joseph Roth weltbekannt wurde, erinnert nur eine kleine, ukrainisch und deutsch beschriftete Gedenktafel an den großen Sohn dieser Stadt. Doch wichtiger als Inschriften und Gedenktafeln ist sein bleibendes Werk.