William D. Godsey, Jr.
Es wird den heutigen diplomatischen Vertretern der Großmächte zweifellos schwerer fallen, die Lage auf der Balkanhalbinsel einzuschätzen und zu beurteilen, als seinerzeit den Vertretern der österreichisch-ungarischen Monarchie.
Im Allgemeinen mussten sich die Staatsmänner und Diplomaten in Wien, besonders ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, ständig mit dem Balkan auseinandersetzen, nicht zuletzt deswegen, weil das Habsburgerreich gemeinsame Grenzen mit Serbien, Rumänien und Montenegro hatte und die damaligen russischen Bestrebungen, die nationalen Konflikte auf dem Balkan für die eigenen Zwecke auszunützen, den Status Österreich-Ungarns als Großmacht schwer bedrohten. Schon im 18. Jahrhundert erkannte die Kaiserin Maria Theresia die Bedeutung des Nahen Ostens für den Aussenhandel und die Aussenpolitik ihrer Staaten, indem sie die Orientalische Akademie in Wien gründete. Diese Institution sollte zukünftigen Vertretern der Interessen der Monarchie in jener Region eine fundierte Spezialausbildung bieten. Im Laufe der Zeitwurde die Akademie auf diesem Gebiet führend in Europa.
Ausser der allgemeinen geopolitischen Bedeutung der Region für die Monarchie gab es ganz spezifische Gründe warum genaue Balkankenntnisse für die diplomatischen Vertreter Österreich-Ungarns unerlässlich waren. Mit dem osmanischen Reich hatten die Habsburger im 17. und im 18. Jahrhundert wiederholt Verträge gechlossen, wodurch die Monarchie auf Grund sogenannter Kapitulationen das Kultusprotektorat über die katholischen Einwohner türkischer Gebiete ausüben durfte. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten diese Kapitulationen eine neue aussenpolitische Bedeutung gewonnen: man sah darin ein Werkzeug des politischen Einflusses in den an den Süden der Monarchie angrenzenden türkischen Provinzen, namentlich in Albanien, sowie ein Mittel, die Festsetzung fremder Mächte an der Ostküste der Adria zu verhindern. Um die auf Grund der Verträge gewonnenen Rechte wahrzunehmen und in Macht und Einfluss umzusetzen, bedurfte der Ballhausplatz Beamter, vor allem im konsularischem Dienst, die sich auf dem Balkan sprachlich, geographisch, historisch, kulturell und wirtschaftspolitisch zu bewegen wussten. Vor 1914 dürfte sich, was Balkankenntnisse und die Wissenschaft über jene Länder, insbesondere Albanien, betrifft, kein Staatsgebilde so hervorgetan haben wie Österreich-Ungarn. Mit dem Zerfall der Monarchie am Ende des Ersten Weltkriegs, ging Österreich und Europa nicht nur dieses tradierte Wissen langsam verloren, sondern es verblasste auch allmählich die Erinnerung daran. Die Besetzung Österreichs 1938 durch das Deutsche Reich mit ihren verheerenden Folgen für die Wissenschaft versetzte dem endgültig den Todesstoß.
Auf dem Gebiet der Aussenpolitik hatten sich vor 1918 drei Altösterreicher durch ihre Albanienkenntnisse ganz besonders ausgezeichnet: Ludwig v. Thálloczy (1854-1916), Theodor Anton Ippen (1861-1935) und Alfred Ritter Rappaport v. Arbengau (1868-1946).
Heutzutage wird Thálloczy hauptsächlich durch seine Tätigkeit in der Vorkriegszeit als Chef der bosnisch-herzegowinischen Landesverwaltung und im Kriege als österreichisch-ungarischer Zivilgouverneur in Serbien in Erinnerung behalten. Weniger bekannt sind seine regen wissenschaftlichen Forschungen und seine zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschichte Albaniens. Im Jahr seines Todes gab er ein zweibändiges Werk unter dem Titel Illyrischalbanische Forschungen heraus. Noch unmittelbarer an der Albanienpolitik Österreich-Ungarns war Theodor Anton Ippen beteiligt, der es bis zum Ersten Weltkrieg zum titulierten Sektionschef im k.u.k. Ministerium des Äußern brachte. 1912 erstellte er eine ethnographische Karte der albanischen Gebiete der Türkei, die der nach London zur Botschafterkonferenz u.a. zur Regelung der Frage der albanischen Unabhängigkeit entsandten Delegation als Grundlage dienen sollte. Im Übrigen war keine der diplomatischen Vertretungen in London so gut und so genau über die nationalen Verhältnisse Albaniens informiert wie die österreichisch-ungarische. Ippens Albanienvorliebe kam durch seine wissenschaftlichen Arbeiten noch deutlicher zur Schau als bei Thálloczy. Zwischen 1892 und 1932 veröffentlichte er mehr als zwei Dutzend Aufsätze in drei Sprachen (Deutsch, Albanisch und Französisch), welche die verschiedensten Aspekte der Geschichte von Albanien, von den dortigen Siedlungen durch die Römer bis zum österreichischen Kultusprotektorat, behandelten. Seine Leistungen wurden in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine Dissertation - allerdings an einer deutschen Universität (München) - gewürdigt.
Im Vergleich zu Thálloczy und Ippen ist der Mitarbeiter des Letzteren im k.u.k. Außenministerium, Alfred Rappaport, unverdienterweise fast völlig in Vergessenheit geraten. Obwohl Rappaport die Erhebung in den Adelsstand erlangte und seine Karriere als Sektionschef beendete, erscheint sein Lebenslauf nicht einmal, wie bei Ippen, in den einschlägigen biographischen Lexika. Wie Ippen stammte Rappaport aus der jüdischen Bevölkerung der Monarchie. Während Ippen aus dem böhmischen Raum kam, lagen Rappaports väterliche Wurzeln in Galizien. Zur Zeit seiner Geburt (am 16. Juni 1868 in Wien) arbeitete sein aus Lemberg gebürtiger Vater, Eugen Barach-Rappaport (1836-1914), als Eisenbahninspektor. Eugen dürfte aus gehobenen Verhältnisse gekommen sein, da sein Vater, Dr. med. Ascher Barach-Rappaport, seinen Lebensunterhalt als Arzt verdiente. Eine familiäre Verbindung zwischen unseren Rappaports und der berühmten aus Lemberg stammenden Gelehrtenfamilie gleichen Namens, deren hervorragendsten Mitglieder Salomon Juda Löb Rappaport (1790-1867), Moriz Rappaport (1808-1880) und der gleichfalls geadelte Arnold Edler Rappaport v. Porada (1840-1907) waren, kann nicht ausgeschlossen werden. Mütterlicherseits gehörte Alfred Rappaport einer aus Wien stammenden jüdischen Juweliersfamilie an.
Sein Großvater, Salomon Johann Nepomuk Goldschmidt (1810?-1855), arbeitete in der Tradition seiner Familie als Juwelier und besaß auch die Pacht der k.k. Opalgruben.
Im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts sind bei den Rappaports Zeichen sowohl von Assimilierung als auch von Angst vor dem aufkeimenden Antisemitismus bemerkbar. Ab 1848 optierten immer mehr wohlhabende Juden für die Assimilation, eine Entwicklung die sich nach dem Aufkommen der antisemitischen Bewegung in den 70er Jahren noch beschleunigte.
Eugen Rappaport, der sich seit jener Zeit nur noch des einen Familiennamens bediente, war zeitweise Bankier und Vertreter mehrerer österreichischer Versicherungsgesellschaften in Konstantinopel, wo er sich mit seiner Familie niederließ. Bis zu seiner Pensionierung stieg er zum Chefinspektor der kaiserlichen osmanischen Eisenbahnen auf und erhielt sogar den Titel "Bey". Mit der habsburgischen Konsularvertretung in Konstantinopel, die ihn als Berater heranzog, stand er in enger Verbindung. Seinen Sohn Alfred ließ er allerdings in der Heimat, im Jesuitengymnasium zu Kalksburg bei Wien ausbilden. Das Bekenntnis zum jüdischen Glauben stellte damals kein Hindernis dar, ein katholisches Gymnasium zu besuchen. Nichtsdestoweniger trat Alfred 1883 im Alter von 15 Jahren aus der jüdischen Kultusgemeinde aus und wurde im selben Jahr mit Bewilligung der k.k. Bezirkshauptmannschaft Hernals in Wien nach römisch-katholischem Ritus getauft.
Sein Austritt aus der Kultusgemeinde mag wohl mit seiner Entscheidung zusammengehangen haben, eine Karriere im auswärtigen Dienst der Monarchie einzuschlagen. Juden war der Zugang zum Aussenamt formell keineswegs versperrt, doch hatten sie seit den 70er Jahren nicht wirklich die Möglichkeit, dort führende Stellen einzunehmen. Die Zeiten in denen ein Karl Ritter v. Weil (1806-1878) als gläubiger Jude am Ballhausplatz unter Fürst Felix Schwarzenberg in den Hofratsrang aufsteigen konnte waren vorbei. Selbst der Enkel Weils, Otto Ritter v. Weil (1861-1924) erlangte seinen Sektionschefposten im Aussenministerium erst nach der Konvertierung. 1886 bewarb sich Alfred Rappaport erfolgreich um die Aufnahme in die Orientalische Akademie. Die Verbindungen seines Vaters und die Ortsansässigkeit der Familie in Konstantinopel, wo er bereits Erfahrungen mit dem Orient gesammelt hatte, dürften ihm bei der Bewerbung von Vorteil gewesen sein. Er war der deutschen, französischen, italienischen und englischen Sprache mächtig und konnte auch Kenntnisse im Türkischen vorweisen. Rappaport verbrachte die Jahre 1886 bis 1891 in der Akademie und trat nach seinem Militärdienst, im November 1892 als Konsulareleve in das k.u.k. Konsularkorps ein.
1893 kam er beruflich zum ersten Mal auf albanisches Gebiet: er wurde nach Scutari im damaligen türkischen Albanien (heute Shkoder in Albanien) versetzt. Dort fing er an, sich auf Albanien zu spezialisieren: ein Schritt, der seine ganze Karriere prägen und ihn zu einem der bedeutendsten Albanienkenner des 20. Jahrhunderts machen sollte. Er hatte nun reichlich Gelegenheit, seine Albanienkenntnisse zu vertiefen, da er dort vier Jahre hindurch in dienstlicher Verwendung stand. Ende 1896 beklagte sich der junge Rappaport beim Außenministerium über die Einsamkeit und Schwierigkeiten, welche seine lange Dienstverwendung in Scutari für ihn bedeutete: "Ganz abgesehen von den schweren Entbehrungen sozialer und intellektueller Natur, welche der mehrjährige Aufenthalt an einem der civilisirten Welt so entrückten Orte, inmitten einer gänzlich barbarischen Bevölkerung mit sich bringt, war ich während meiner, so ungewöhnlich langen hiesigen Verwendung, auch was das rein materielle Leben betrifft, argen Privationen ausgesetzt." Am Ende seiner Zeit in Scutari diente er sogar unter Theodor Anton Ippen, der ihn wegen sei-ner "Local- und Personalkenntnis" länger in Scutari behalten wollte.
1897 erhielt Rappaport seinen ersten selbständigen Posten und zwar in der Stadt Prizren im Kosovo, damals auch türkisches Gebiet, wo er bis November 1899 als Leiter des dortigen k.u.k. Konsulats verblieb. Wegen verschiedener Verkehrsstörungen musste die Fahrt von Scutari nach Prizren durch die Berge zu Pferde zurückgelegt werden. Die äußerst schlechte Verkehrsverbindung zwang Rappaport sogar seine Möbel und sonstige Einrichtungsgegenstände in Scutari zu veräussern, da ihr Transport nach Prizren kaum durchzuführen gewesen wäre. Nach einer mehrtägigen Reise, die aus Sicherheitsgründen teilweise mit einem bewaffneten Begleiter gemacht werden musste, traf er am 19. April 1897 in Prizren ein und am gleichen Tag übernahm er die Amtsleitung. Rappaports Leben im Kosovo entsprach keineswegs den Vorstellungen von einem eleganten Diplomatenleben um die Jahrhundertwende, sondern eher dem eines Soldaten im Felde. Kurz nach seiner Ankunft in Prizren bat er das Außenministerium in Wien, ihm die Kosten für "Reitzeug, Feldbett, wasserdichte Mäntel und Decken u. dgl." zurückzuerstatten. Es gab in Prizren kein internationales Telegraphenamt, was die Verbindung zur Aussenwelt stark beeinträchtigte. So musste Rappaport die Geschäfte in seinem Jurisdiktionsbereich zu Pferde erledigen. Trotz dieser Schwierigkeiten konnte er nach Wien berichten, dass er "mit den hiesigen Behörden und sämtlichen Kreisen der albanischen Bevölkerung in freundschaftliche Beziehungen [getreten war] und zwischen den betreffenden Persönlichkeiten und diesem k.u.k. Amte ein intimeres Verhältnis [geschaffen hatte]."
Eine dreijährige Zuteilung nach Bagdad (1900-1903) war die einzige Unterbrechung seines Spezialeinsatzes auf dem Balkan und hinterließ in seiner Karriere keine bedeutenden Spuren. Schon 1903 kehrte er auf die Balkanhalbinsel zurück, diesmal nach Mazedonien. Dort verbrachte er fünf Jahre: zuerst als Stellvertreter des österreichischen Zivilagenten, dann als Leiter des Konsulats in Uesküb (heute Skopje), zuletzt mit der Führung der Geschäfte des Zivilagenten betraut. In diesen Verwendungen nahm er wesentlichen Anteil an der Verwirklichung des zwischen Österreich-Ungarn und Russland vereinbarten und dem Sultan aufoktroyierten Mürzsteger Programms (1903). Dieses zielte - durch die Ausführung von Verwaltungs- und Justizreformen im türkischen Mazedonien unter der Aufsicht von Vertretern der Großmächte - auf die Beruhigung der für die Stabilität Europas gefährlichen Lage auf dem Balkan und auf die Erhaltung des territorialen Status quo. Seine Erinnerungen an die Jahre in Mazedonien hat Rappaport in der Zwischenkriegszeit in seinen 1927 in Paris erschienen Memoiren festgehalten: Au pays des martyrs. Notes et souvenirs d'un ancien consul général d'Autriche-Hongrie en Macédonie (1904-1909).
In einem Vortrag 1908 an Kaiser Franz Joseph bezeichnete der damalige Außenminister, Alois Freiherr v. Aehrenthal die Arbeit Rappaports in der Reformaktion in Uesküb als "hervorragend". Ende 1909 sah sich der Minister dazu veranlasst, Rappaport, "welcher einer der besten Kenner des Orients, insbesondere Albaniens, ist, als Subreferenten für die albanischen Angelegenheiten in die Zentralleitung des Ministeriums des Äußern einzuberufen, wo selbst er so vortreffliche Dienste leistete, das ihm sowohl im politischen Referate für die orientalischen Angelegenheiten als auch im kirchenpolitischen Referate die Stellung des Stellvertreters des Referentes anvertraut werden konnte".
Am Ballhausplatz erlangte Rappaport unter Außenminister Leopold Graf Berchtold (1912-1915) die Stellung eines wichtigen Ratgebers für Balkanangelegenheiten. Die ersten Monate Berchtolds waren sogar von der Krise um die Unabhängigkeit Albaniens überschattet. Bei dem Besuch des von den Großmächten auserwählten neuen Fürsten von Albanien, Wilhelm Prinz zu Wied im Februar 1914 in Wien mussten ihn Rappaport, Ippen und Thallóczy "mit ihren genauen Kenntnissen" beraten. 1912 hatte Rappaport mit seiner Ernennung zum Generalkonsul I. Klasse die höchste Stufe des konsularischen Dienstes erreicht. Danach dauerte seine Verwendung in der Zentralleitung des Aussenministeriums ohne Unterbrechung bis zum Ende der Monarchie.
Im Krieg fungierte Rappaport als selbständiger Referent für die albanischen Angelegenheiten sowie gleichzeitig als Stellvertreter des Referenten für die Angelegenheiten des Krieges und für die kirchenpolitischen Angelegenheiten. Wegen seiner Verdienste beantragte das Außenministerium 1916 seine Erhebung in den österreichischen Ritterstand. Bei der Auswahl seines Adelsprädikates konnte Rappaport seine Albanienkenntnisse und seine Vorliebe für das Land in besonderer Weise zum Ausdruck bringen. Er durfte drei akzeptable Prädikate vorschlagen, von denen ihm eines nach Überprüfung durch das k.k. Innenministerium verliehen werden sollte. Seine drei Vorschläge waren: "Drinek" - gebildet aus dem Namen des Flusses Drin in Albanien, dann "Arbengau" - gebildet aus dem mittelalterlichen Namen Arbanum, einer Gegend in Oberalbanien und schließlich "Arward" - gebildet durch Umstellung des Flussnamens Wardar in Mazedonien. Am 15. März 1916 wurde er von Kaiser Franz Joseph in den Ritterstand erhoben und erhielt am 6. Mai desselben Jahres nachträglich das Prädikat "Arbengau". So führte er bis zur Abschaffung des österreichischen Adels 1919 den Namen "Ritter Rappaport v. Arbengau".
Obwohl zahlreiche Angehörige des ehemaligen k.u.k. auswärtigen Dienstes mit dem Zerfall der Monarchie in den Ruhestand traten, um nicht der Republik Österreich dienen zu müssen, setzte Rappaport zunächst seine Karriere fort.
Allerdings dürfte auch ihm die neu entstandene geographische Einteilung Mitteleuropas nicht gefallen haben; seine Überzeugung, dass ein multinationales Staatsgebilde die beste Lösung für das Zusammenleben der kleinen Nationalitäten darstellte, hatte er bestimmt nicht abgelegt. In den 20er Jahren ist eine Wehmut nach der alten Ordnung und dem bunten Völkergemisch bei ihm sehr deutlich spürbar. Auf der anderen Seite erhoffte er sich von der Republik zweifellos die Möglichkeit einer höheren Verwendung im auswärtigen Dienst, die ihm im früheren aristokratischen Ministerium versagt geblieben war. Nach der Errichtung des neuen Staatsamtes für Äußeres leitete er in der Tat die politische Abteilung für Skandinavien, Russland und den Balkan. Während der Friedensverhandlungen hat er nebstdem die Agenden der ad hoc errichteten Abteilung für Angelegenheiten des Friedensvertrages und die Leitung eines Teiles der politischen Sektion übernommen. 1920 avancierte er sogar zum politischen Sektionschef und wurde dadurch der ranghöchste Beamte am Ballhausplatz.
Diese Tätigkeit dauerte jedoch nur wenige Monate und seine Hoffnungen auf eine dauernde, seinen Fähigkeiten entsprechende Karri-ere gingen nicht in Erfüllung. Vielmehr fiel er dem Antisemitismus der ersten Republik zum Opfer: Es wurde ihm eröffnet, daß seine Stelle im Zuge einer Neugliederung des Staatsamtes verloren gehen sollte. Trotz seiner unbestreitbaren Qualifikationen bekam er als Ersatz nicht einmal einen Auslandsposten. Den Grund dafür erfuhr er in einem Gespräch mit dem damaligen Staatssekretär Karl Renner, der ihm "nach langen Umschweifen" seinen angeblich jüdisch klingenden Namen vorwarf. Renner meinte, dass seine Partei in dieser Hinsicht ohnehin allzu "belastet" sei und er sie nicht noch mehr belasten wolle. Am 30. September 1920 wurde Rappaport im Alter von 52 Jahren, trotz seiner heftigen Proteste zwangspensioniert. In einem Schreiben an das Staatsamt für Äußeres drückte er seine Bitterkeit über die ihm zuteil gewordene Behandlung aus. Zugleich bietet sein Brief einen beißenden, wahrheitsgetreuen Kommentar über die damaligen Verhältnisse und seinen eigenen Werdegang. Er schrieb:
"...daß der Herr Staatssekretär Dr. Renner mir meinen ehrlichen Namen vorgeworfen und ihn als ein Hindernis meiner Laufbahn, ja sogar als eine Belastung bezeichnet hat! Obwohl meine Familie schon seit Anfang der sechziger Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts jede tatsächliche Fühlung mit ihrem Ursprungslande [Galizien] verloren hat, obwohl ich samt meinen Angehörigen katholisch und in Kalksburg erzogen bin, habe ich weder hierin, noch in meiner Staatsdienstleistung jemals einen Grund erblickt meinen Namen zu verleugnen. Es war vielmehr stets mein Stolz, daß ich unter diesem Namen und trotz dieses Namens eine schöne Laufbahn im Staatsdienste zurückgelegt habe, und daß derselbe bisher nie ein Hindernis dagegen gebildet hat, daß mich im In- und Auslande Herrscher, Staatsmänner und Kirchenfürsten geehrt und ausgezeichnet haben, ohne daß jemals die leiseste verletzende Anspielung auf meinen Namen gefallen wäre! Erst im jüngsten Stadium meiner Laufbahn ist es mir vorbehalten gewesen diese bittere Kränkung zu erdulden!"
Nach seiner Frühpensionierung lebte Rappaport noch ein Vierteljahrhundert. Er wohnte weiterhin in Wien, in der Hörlgasse im 9. Bezirk, und scheint seine Zeit hauptsächlich mit der Verfassung seiner Memoiren und zahlreicher Aufsätze über Aussenpolitik und den Balkan verbracht zu haben. Wegen seiner jüdischen Herkunft hätte ihm der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 zum Verhängnis werden können. Die Inkonsequenz des Rassenwahns der Nazis dürfte ihn allerdings gerettet haben. 1909 hatte Rappaport in Thessaloniki eine Italienerin katholischen Glaubens, Therese Anelli, deren Familie aus Palermo stammte, geheiratet. Dieser Ehe entsprossen ein Sohn und zwei Töchter, die katholisch getauft und erzogen wurden. Durch seine katholische Familie war er nach 1938 im Prinzip vor einer Deportation gesetzlich geschützt. Es könnte aber auch sein, dass die Nazis Bedenken hatten, einen so hervorragenden Balkan-Fachmann zu verfolgen, dessen Kenntnisse unersetzlich waren. Im Oktober 1938 konnte Rappaport immer noch einen Artikel zum Thema "Die machtpolitischen Verschiebungen in Südosteuropa seit den Pariser Friedensverträgen 1919" in den Berliner Monatsheften veröffentlichen. Möglicherweise war dem Regime die Verfolgung dieses ausgezeichneten Albanienkenners angesichts der Verwicklungen Deutschlands auf dem Balkan im Zweiten Weltkrieg unklug erschienen. Am 11. Oktober 1946 starb Alfred Rappaport, der sich ein halbes Jahrhundert früher seine Sporen als Leiter eines habsburgischen Konsulates in Kosovo verdient hatte, in Wien.
Quellen: Personalakt Alfred Rappaport im Haus, Hof- und Staatsarchiv (Wien), Administrative Registratur, Fach 4; Personalakt Alfred Rappaport im Archiv der Republik (Wien), Neue Administrative Registratur, Fach 4; Adelsakt Alfred Rappaport in Allgemeinen Verwaltungsarchiv (Wien); Geburts- und Sterbematriken der Jüdischen Kultusgemeinde (Wien); Die Presse vom 25.1.1947; Alfred Rappaport, Au pays des martyrs. Notes et souvenirs d'un ancien consul général d'Autriche-Hongrie en Macédonie (1904-1909), Paris 1927; Franz Plener (Hrsg.), Das Jahrbuch der Wiener Gesellschaft. Biographische Beiträge zur Wiener Zeitgeschichte, Wien 1929; Hugo Hantsch, Leopold Graf Berchtold. Grandseigneur und Staatsmann,
Graz/Wien/Köln, 1963.