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ROSCH HA-SCHANA:

Ferdinand DEXINGER

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In der aschkenasischen Fassung der Festtagsgebete für Neujahr wird empfohlen, als Vorbereitung auf das Schofarblasen auch einen Abschnitt (3,98b-100b) aus der sekundär dem Zohar angefügten Schrift Ra'aja Mehemna ("Treuer Hirte") zu studieren. Diese Schrift ist ein klassischer Beleg für die in der späteren Kabbala von Isaak Luria (1534-1572) vertretenen und durch seinen Schüler Chajjim Vital (1542-1620) im "Sefer ha-Gilgulim" ("Buch der Umwandlungen") systematisch entwickelten Lehre von der Seelenwanderung.

Was hat das mit Rosch ha-Schana zu tun? Die Frage erfährt sogleich eine Antwort, wenn man bedenkt, dass Neujahr, wie etwa Saadia Gaon (882-942) ausgeführt hat, nicht nur Gedächtnis der Erschaffung der Welt ist, sondern auch an das Endgericht erinnert. Mit diesem Endgericht aber findet nach kabbalistischer Lehre auch jede Seelenwanderung ihr Ende, weil ihr Ziel, nämlich die Läuterung der Seelen, endgültig erreicht ist. Im religiösen Judentum hat die Lehre von der Seelenwanderung durch die Kabbala sehr weite Verbreitung und Anerkennung gefunden. Nicht zuletzt die so umstrittene Drasche von Ovadia Joseph hat das wieder in Erinnerung gerufen. Anderseits aber blieb das in diesem Sermo Gesagte offensichtlich auch von Juden, wie Reaktionen in Pressemeldungen und Leserbriefen beweisen, weithin unverstanden. Um nachvollziehen zu können, was der geistliche Führer der israelischen Schas-Partei und ehemalige sephardische Oberrabbiner von Israel in seiner am 6.8.2000 gehaltenen Predigt gemeint hat, gilt es die theologische Funktion der Seelenwanderungslehre im Judentum kurz darzulegen. Wie nämlich die in Israel dadurch ausgelöste kontroversielle Diskussion zeigt, geht es hier nicht etwa nur um ein skurriles religiöses Randproblem. Vielmehr werden dabei zentrale Fragen der politischen Anthropologie und Weltanschauung berührt.
Die Seelenwanderung ist im Rahmen jüdisch-kabbalistischer Reflexion ein Element bei der Rückführung der Welt zu ihrem heilen Anfangszustand.
Die Lehre ist biblisch nicht belegt, hat erst in nachtalmudischer Zeit Eingang ins Judentum gefunden, und wird von wichtigen rabbinischen Autoritäten abgelehnt.
Die Lehre von der Seelenwanderung ist schon in der älteren Kabbala, d.h. jüdischen Mystik entstanden. Im aus dem 12.Jh. stammenden "Sefer ha-Bahir" (§ 86, § 104) wird die Stelle Kohelet 1,4 im Sinne der Seelenwanderung gedeutet.
§ 104: "...ist Israel aber schlecht, so nehme ich von dem Samen, der schon einmal in die Welt gekommen ist, denn es heißt" (Koh 1,4): "Ein Geschlecht geht und ein Geschlecht kommt." Woher diese Lehre in die jüdische Religion eingedrungen ist, konnte religionsgeschichtlich bisher nicht geklärt werden. Gershom Scholem vermutete einen Zusammenhang mit der parallel zur Entstehung der Kabbala im südfranzösischen Raum starken Bewegung der christlichen Katharer, die die von der Kirche abgelehnte und bekämpfte Lehre von der Seelenwanderung vertraten.
Die jüdische Kabbala dieser Zeit vertrat im Unterschied zu den Katharern aber keine allgemeine Seelenwanderungslehre, sondern wendete sie nur auf jene an, die gegen das biblische Gebot der Fortpflanzung (Gen 1,28) verstoßen hatten. Die Wiedergeburt galt auf dieser Stufe zugleich als Strafe und als Chance. In ihrem Kern ist die Seelenwanderung aber schon in dieser frühen Form wesentlich eine Vergeltungslehre.
Mit dem Problem des Leidens der Gerechten hat die biblische Religion nicht erst seit damals, sondern wie das Buch Hiob deutlich macht, schon spätestens seit der nachexilischen Periode gerungen. In der makkabäischen Zeit wurde dann mit der Auferstehungslehre eine erste Antwort gegeben.
Die Seelenwanderungslehre, wie sie Isaak Luria und Chajjim Vital im 16. Jh. entwickelt haben, ist viel umfassender angelegt. Die Wanderung der Seelen ist sozusagen nur ein Aspekt der Zerstreung der göttlichen Funken in der Welt und der ständigen Notwendigkeit des Tikkun, d.h. der Sühne des Abfalls von Gott. Es ist klar, dass dieses Modell in letzter Konsequenz keinen Platz für die Vergeltung in der Hölle hat und braucht. Dem Gesetz der Seelenwanderung sind nur jene Seelen unterworfen, die die Gebote nicht erfüllt haben.
Dieses Modell einer Vergeltungslehre gibt auch eine Antwort auf die schon im Buch Hiob so eindringlich gestellte Frage nach dem Sinn des Leidens der Gerechten. Durch solches Leiden nach der Wiedergeburt werden von einem im neuen Leben durchaus Gerechten eben jene Sünden getilgt, die die Seele in einem früheren Leben begangen hat.
Genau das ist der Punkt, an dem Ovadiah Joseph angesetzt hat, um die Leiden der Gerechten in der Schoa zu erklären. "Die Ermordeten sind Wiedergeburten der Seelen von Sündern. Alles Grauen der Schoa, alle sechs Millionen Juden, diese Bedauernswerten, gingen sie alle vergeblich durch die Hände dieser Übeltäter, der Nazis, ihr Name sei ausgetilgt? Nein! Hier handelt es sich um die Wiedergeburt von Seelen Früherer, die sündigten, zum Sündigen veranlassten und alle Arten von Taten vollbrachten, die nicht getan werden sollten. Sie kehrten im Gilgul wieder, um gut zu machen, und sie, diese Be-dauernswerten, erhielten alle Strafen, Leiden und Todesarten, mit denen sie in der Schoa ermordet wurden. ...Sie kamen (wieder), um für ihre Sünden zu sühnen." (Übers. d. hebr. Textes aus Ha-Aretz vom 7.8.2000).
Nach der ersten Lektüre dieser Worte verwundert es nicht, dass sie eine Protestwelle auslösten, können sie doch leicht als Rechtfertigung der Mörder missverstanden werden. Man kann sich auch fragen, ob es religionspolitisch klug und verantwortungsbewusst war, eine solche Aussage zu machen und gleichzeitig jede Vertrauensbasis für die Friedensverhandlungen zu negieren. Die Reaktion seitens der Schinui-Bewegung fasst die Vorwürfe gegen Ovadiah sehr pointiert und polemisch zusammen: "Wenn es eine sündige Seele gibt, dann ist es die des Rav Joseph, der das Andenken an Millionen Juden verletzt, die mit schuldlosen Händen hingeschlachtet wurden und der den Neonazis in der ganzen Welt Munition für die Propaganda bietet, die Schoa zu rechtfertigen." (Ha-Aretz vom 7.8.2000). Angesichts dieser sicher nicht unberechtigten Befürchtung mag es nutzlos, ja gefährlich erscheinen, die Worte Ovadiah Josephs weiter zu interpretieren. Es scheint aber doch intellektuell redlich und dem Dialog auf verschiedenen Ebenen dienlich zu sein, sich mit diesen Gedankengängen auseinanderzusetzen. Immerhin werden die polemischen Stimmen, die angesichts dieser Aussage laut wurden, seitens der Schas-Partei als "grobe und brutale Einmischung in theologische Themen" verstanden. Es kann keinen Zweifel geben, dass die von Ovadia gegebene theologische Interpretation des Leidens der in der Schoa unschuldig Ermordeten einem gültigen Modell jüdischer Theodizee und Vergeltungslehre entspricht. Ovadiahs Worte enthalten keinerlei "Legitimation für die Nazis", sondern, wenn man so will, eine Legitimation Gottes, sie sind religiosphilosophisch ausgedrückt, Bestandteil der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes angesichts des Leidens in der Welt. Im Zusammenhang mit der Schoa wird nämlich seitens engagierter nichtreligiöser Menschen (Juden und Christen) leicht übersehen, dass die religionsphilosophische Bedeutung, die der Schoa zugemessen wird, für religiöse Menschen größte theoretische und praktische Relevanz hat. Der leider schon verstorbene Schalom Ben-Chorin hat das einmal sehr drastisch formuliert: "In Auschwitz ist für viele nicht nur der Mensch, sondern auch Gott verbrannt." Es geht religiösen Juden und Christen um ein Verständnis der Schoa, das diese nicht zu einem negativen Gottesbeweis werden lässt, sondern ein Festhalten am biblischen Gottesbegriff ermöglicht. Die innerisraelische Diskussion der letzten Zeit hat sehr klar gezeigt, dass der Schoa sehr große Bedeutung im Zusammenhang mit Identitätsfindung zukommt. Das gilt sowohl für das säkularisierte Israel, aber z.B. auch für die katholische Kirche, wenn es etwa um die Mitschuld an der Schoa geht. Man sollte nie übersehen, dass man sich bei Diskussionen und Dialogen jeweils über die theoretischen Prämissen klar sein sollte. In der von Nicht-Religiösen vor-gebrachten Kritik an Ovadiah steht die angebliche Absurdität seiner Aussage praktisch fest, so dass der nächste Schritt zu scharfen religions-kritischen Aussagen führt. Das lässt durchaus auch Probleme für den christlich-jüdischen Dialog erwarten, wenn er eigentlichen Fragen der Religion und nicht nur politischem Lobbyismus gelten soll. Sehr vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass beim Umgang des Atheisten mit der Schoa andere Aspekte zum Tragen kommen als beim Angehörigen einer theistischen Weltdeutung, genauer gesagt eines religiösen Juden oder gläubigen Christen, für die der biblische Gott das Ziel des Lebens ist und die nicht nur aus dem Trotzdem heraus leben, das ihnen angesichts eines gottentleerten Universums als einzige positive Alternative verbliebe. Wenn jüdisches Neujahr immer auch das Gedenken an den göttlichen Schöpfungsakt einschließt, impliziert diese religiöse Sicht - so hart es auch klingen mag - einen Anspruch, der durch die in Israel nun besonders vehement geforderte Trennung von Religion und Staat nicht durch vordergründige Pragmatik gelöst werden kann.