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ALLES MILLIONÄRE UND HAUSIERER!

Tina WALZER

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Ein unterschätztes Kapitel

Zwischen den allseits bekannten Epochen jüdischer Geschichte in Wien, jener der Hoffaktoren einerseits, jener der Künstlerwelt des fin de siècle andererseits, liegt eine relativ unbeachtete Zeitspanne eingebettet. Eine Zeit, die uns, wenn wir ihre Dynamik verstehen, nicht nur das späte 19., sondern vor allem das 20. Jahrhundert näherbringen kann.
Die Jahre 1782 (das Jahr der Erteilung des sogenannten Toleranzediktes durch Joseph II.) und 1867 (die Einrichtung des ersten Staatsgrundgesetzes in Österreich) mögen den Rahmen für eine Betrachtung der Lebenswelt jener Juden bilden, die damals nach Wien kamen, um zu arbeiten, um Familien zu gründen, um am gesellschaftlichen Leben in der Reichshaupt- und Residenzstadt Anteil zu nehmen. Ihre Bemühungen, Erfolge wie Misserfolge stellen die Basis für jede weitere Entwicklung in der Geschichte der Juden in Wien bis 1938 dar.
Die Betrachtung der Geschichte ist insoferne von Bedeutung, als bewusst wahrgenommene Traditionen und Brüche Einsichten in die Probleme der Gegenwart eröffnen.

Zum Beispiel Migration: Was bedeutet es, festzustellen, dass sich die Beweggründe für die jüdischen Einwanderer nach Wien von jenen nichtjüdischer Einwanderer auf weite Strecken nicht grundsätzlich unterschieden?
Wir haben es einerseits mit dem Phänomen eines Einwanderungsbooms nach Wien zu tun, der sich durch die epochalen Veränderungen, die die industrielle Revolution auf wirtschaftlichem, aber auch auf sozialem Gebiet im Laufe des 19. Jahrhunderts mit sich brachte, erklärt. Andererseits gab es sehr wohl Motive, die sich genuin aus der Geschichte der Juden in der Habsburgermonarchie, aber auch aus jüdischen Traditionen entwickelten.
Was bedeutet es für eine gesellschaftliche Minderheit, sei sie nun religiös, national, kulturell oder wie auch immer definiert, sich dem Phänomen der Assimilierung gegenüberzusehen? Welche Traditionen blieben erhalten, welche wurden zugunsten einer Integration in die umgebende Gesellschaft aufgegeben? Lauter Fragen, die sich jedem von uns bei der immer wieder notwendigen Auseinandersetzung mit dem Thema Identität aufdrängen.

Eine Stadt wächst

Während der langen Regierungszeit Franz Josephs I. fanden dramatische Bevölkerungsbewegungen innerhalb des Habsburgerreiches statt. Juden zogen vor allem aus Galizien, aus Böhmen und aus Mähren weg nach Wien, aber auch nach Budapest.
Unter den Juden aus den östlichen Provinzen des Habsburgerreiches ist ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Massenauswanderung festzustellen. In dieser Zeit wuchs Wien zu einer Stadt mit dem, nach Warschau und Budapest, dritthöchsten jüdischen Bevölkerungsanteil in Europa an.
Der Höhepunkt der Immigration lag zwischen 1857 und 1869.
In dieser Periode wurden die restriktiven Einwanderungsbestimmungen sukzessive beseitigt. Mit dem Staatsgrundgesetz 1867 wurde auch de iure die bürgerliche Gleichheit aller österreichischen Juden mit allen anderen Bevölkerungsgruppen garantiert.

Die Tolerierten

In Wien lebten ab dem Toleranzedikt Josefs II. bis 1848 sogenannte "tolerierte" Juden.
Erklärtes Ziel dieser Zuwanderungspolitik war es, nur vermögende Personen mit ihren Familienangehörigen in den Besitz einer speziellen Aufenthaltsgenehmigung zu setzen.
Wien war ein attraktives Zuwandererziel. In der Reichshaupt- und Residenzstadt war der persönliche Freiraum ungleich größer als in den Kleinstädten der Provinzen, die soziale Mobilität versprach wirtschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Aufstieg, in Handel und Wirtschaft war ein aktiveres und freieres Engagement möglich.

Von 1792 bis 1848 gab es das "Judenamt", dessen Aufgabe es war, die jüdischen Wanderungsbewegungen zu überwachen und insbesondere unbegüterte Juden durch bürokratische Schikanen von der Niederlassung in Wien abzuhalten.
Ihnen erteilte die Stadtverwaltung prinzipiell keine Ansiedlungserlaubnis. Reisende mussten eine Leibmaut entrichten, die dann im frühen 19. Jahrhundert durch die sogenannte "Bollettentaxe" ersetzt wurde. Dem Sinn nach blieben die Bestimmungen gleich: Nicht tolerierte Juden mussten für jeden Tag ihres Aufenthaltes zahlen, mit dem Hintergedanken, ihren Aufenthalt in Wien möglichst zu verkürzen.

Auf Umwegen nach Wien

Naturgemäß gab es die unterschiedlichsten Bemühungen, solche Bestimmungen zu umgehen. Als sogenannter "Schutzjude" konnte man unter dem Schutz eines Tolerierten, das heißt als sein Dienstbote oder Familienmitglied, gemeldet werden. Für dieses Entgegenkommen kassierten die Tolerierten nicht unbeträchtliche Summen - ein ertragreiches Nebengeschäft.
Die unterschiedlichsten Vorwände, die einen längeren Aufenthalt in Wien notwendig erscheinen lassen sollten, führten zum gewünschten Erfolg. Beispielsweise benötige man einen Wiener Arzt zur Heilung einer schweren Krankheit, oder christlichen Unterricht zur Vorbereitung auf die Konversion. Viele ließen sich an der Universität Wien als Studenten einschreiben, andere ihren Aufenthalt im Gefängnis freiwillig verlängern, um ihre Geschäftstätigkeit verfolgen zu können.
Am erfolgversprechendsten indessen war der Erwerb der türkischen Staatsbürgerschaft, denn Untertanen des osmanischen Reiches unterlagen seit dem Frieden von Passarowitz im Jahr 1718 keinerlei Aufenthalts- oder Handelsbeschränkungen in den Ländern der Habsburgermonarchie.

Die Zuwanderung und die Politik

Im Vormärz gab es also ein ständiges Einsickern von Immigranten nach Wien, zunächst aus Böhmen und Mähren, dann auch aus Ungarn. Letztere kamen vor allem aus Oberungarn, der heutigen Slowakei, und ganz besonders aus Preßburg sowie aus den westungarischen Gemeinden im heutigen Burgenland, besonders aus Mattersdorf. Die westungarischen Juden hatten gute Beziehungen zu den Wiener Beamten und waren am erfolgreichsten, wenn es darum ging, eine Aufenthaltsverlängerung zu erwirken.
Aufgrund politischer Ereignisse oder sozialer Veränderungen änderte sich die Einwanderungsstärke aus den verschiedenen Herkunftsländern. Das in dieser Hinsicht entscheidende Jahr war 1848. Politische Veränderungen zogen rechtliche Veränderungen nach sich, und die Einwanderungsstärke schwankte sehr stark, je nach den politischen Bedingungen in den Herkunftsländern.


Wer kam nach Wien, woher und wieso?

Aus Westeuropa kamen zu allererst Großhändler aus bereits wirtschaftlich und gesellschaftlich bestens etablierten Familien nach Wien. Als sogenannte "Hoffaktoren" - Finanziers der Kaiser - wurden sie von Verwaltungsbeamten an den Wiener Hof geholt, sie finanzierten Kriege und verwalteten ungeheure Geldmengen. Selbst nach der Vertreibung der Juden aus Wien 1670 behielten sie weiterhin das Recht, sich in Wien aufzuhalten.

Portrait Samson Wertheimer,
Jüdisches Museum Wien.
Samuel Oppenheimer und Samson Wertheimer waren die bekanntesten Wiener Hoffaktoren, aus deren Umkreis viele für unseren Zeitraum interessante Familien wie etwa die Arnsteins hervorgingen.

Die mährischen Juden waren im 19. Jahrhundert die größte Gruppe innerhalb der Wiener jüdischen Bevölkerung. Es waren selten vermögende Stadtbürger, die sich zur Übersiedlung nach Wien entschlossen, oft aber Einzelpersonen aus Landjudengemeinden. Das gilt in erster Linie für die Zuwanderer aus Mähren - Nikolsburg wäre besonders zu nennen. In den Städten Böhmens hingegen hielt sich der Auswanderungsenthusiasmus in Grenzen.

Übersicht über die Zuwanderung von Juden nach Wien

Auffällig viele Wiener Kaufleute stammten aus Preßburg, damals in Ungarn gelegen. Neben der geographischen Nähe, die gegenüber Budapest ein entscheidender Faktor bei der Auswahl des Übersiedlungszieles gewesen sein mag, ist die Ursache dieses Phänomens in politischen Zusammenhängen zu finden. Das, was Regime im Zuge eines erzwungenen politischen Kurswechsels so gerne als gerechten Volkszorn bezeichnen, war nichts anderes als das Resultat einer gezielten populitstischen Aufhetzung der Bevölkerung durch nationalistische Politiker.

Opfer des Nationalstaates

In Zusammenhang mit der Revolution und der radikalen Magyarisierungspolitik 1848 kam es zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die Preßburger Juden. Das Ghetto wurde verwüstet, viele seiner Bewohner flüchten nach Wien unter den kaiserlich-obrigkeitlichen, deutschbewussten Schutz. Der Kaufmann Sigmund Mayer, später eine bekannte Persönlichkeit im Wiener jüdischen Leben, gehörte zu jenen Pogromflüchtlingen und schildert in seiner Autobiografie sehr eindrücklich die Ereignisse in Preßburg und weitere Schwierigkeiten in Wien.

Auf der Wartebank

Eine zweite Besonderheit stellt der Zuzug aus den Sieben Gemeinden dar. Viele jener Wiener Juden, die 1670 vertrieben worden waren, hatten sich in nächster Nähe zur Reichshaupt- und Residenzstadt angesiedelt, gleich hinter der österreichischen Grenze auf ungarischem Herrschaftsgebiet. Sie kamen, kaum war die Ansiedlung wie erwartet erleichert, wieder nach Wien zurück.

Türkische Juden

Aus dem osmanischen Reich kam eine besondere Gruppe nach Wien, besonders ob der grundlegend anderen Ausgangsbedingungen für eine Niederlassung in Wien. Es handelte sich um sephardische Juden, Kaufleute, spezialisiert auf Fernhandel. Als Untertanen des Sultans hatten sie das Recht, sich in Wien aufzuhalten. Bald entwickelte sich ein in ganz Mittel- und Osteuropa blühender Orienthandel mit Wien als Zentrum. Die Wiener sephardischen Juden bekamen 1736 das Recht zugesprochen, Synagogen zu bauen, als jüdische Gemeinde wurden sie 1778 anerkannt. Das geschah immerhin beinahe ein halbes Jahrhundert vor der Gründung des Stadttempels. Bis in die 1840er Jahren gab es in Wien rund 100 sephardische Haushalte, die Familien stellten eine bedeutende Gruppe dar. 1890 wurde diese Gemeinde, die bis dahin selbständig existiert hatte, in die IKG Wien eingegliedert.

Sephardischer Grabstein auf dem jüdischen Friedhof Währing.
Foto Tina Walzer
Unten und oben, mittendrin

Josef Roth fasste in seinem Text "Juden auf Wanderschaft" (1927) die gängigen Klischees zur Berufsstruktur und den Aufstiegschancen der Wiener Juden zusammen. Aber war die angeblich typische Entwicklung vom Handelsberuf zu den künstlerischen und den freien Berufen innerhalb der Wiener jüdischen Bevölkerung weit verbreitet? War die Entwicklung vom Handel zur Großindustrie wirklich so typisch? Tatsächlich bezieht Roth seinen Text auf die Situation im 2. Bezirk, die eingeschränkte Wahrnehmung erzeugt ein düsteres Bild.

Sicher, Juden zählten innerhalb der Wiener Bevölkerung zunächst zu den armen Bevölkerungsgruppen, wie alle anderen Einwanderer auch. Meist in der zweiten Generation setzte sich ein Prozess der Verbürgerlichung durch, und es begann ein relativ starker Aufstieg in wirtschaftliche und gesellschaftliche Mittelschichten, aber auch in Oberschichten.

Zu Beginn des Jahrhunderts stellte sich die Sozialstruktur der Wiener Juden in vier Schichten dar. Zur untersten zählten ländliche Juden, die vom Hausieren, vom Geld- und Viehhandel lebten, zur zweiten Unterschicht all jene, die im Klein- und Hausgewerbe tätig waren.
Zur Mittelschicht gehörten die eigentlichen Stadtjuden, Händler und Geldleute.
Die schmale Oberschicht bestand in früher Zeit aus den Hoffaktoren, später aus Bankiers. Sie bildete den Grundstock des städtisch-großbürgerlichen Judentums.

Innovative Berufsstrukturen

Handel und Geldwesen blieben die dominanten Wirtschaftssektoren. Sehr stark entwickelte sich die Industrie, in erster Linie in den Bereichen Textil sowie Nahrungsmittel. Ein in der zweiten Jahrhunderthälfte entstehender neuer Berufszweig war sehr stark jüdisch dominiert, jener der Privatbeamten. Er galt als prestigeträchtig, und er bot gute soziale Absicherungen.
Die bürgerliche Gleichstellung eröffnete den Zugang zum Bildungswesen. Der Einstieg in die freien Berufe war die längste Zeit durch Gesetze verhindert gewesen. Am einfachsten war es, sich als Arzt zu betätigen, später kamen die Berufsfelder der Juristen und der Lehrer hinzu. Ab den 1860er Jahren schließlich besserte sich die Lage zusehends. Ende des
19. Jahrhunderts war in Wien ein guter Teil der Studenten jüdischer Herkunft.
Tolerant?

Die Berufmöglichkeiten waren, wie könnte es anders sein, von gesetzlichen Rahmenbedingungen abhängig, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrmals fundamental änderten. Man kann also den Versuch unternehmen, diesen Zeitraum in mehrere Abschnitte zu unterteilen. Zwischen 1784 und 1848 galten, je nach persönlichen Präferenzen des jeweils Herrschenden mehr oder weniger, die Bestimmungen des josephinischen Toleranzpatentes. Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution folgend hatte Joseph II. den Plan gefasst, Juden in eine - im Habsburgerreich erst zu schaffende - bürgerliche Gesellschaft eingliedern zu wollen. Diese Überlegungen liefen deklariertermaßen auf eine möglichst vollständige Assimilation hinaus, ganz im Sinne einer Gleichheit aller Bürger.
Als ersten Schritt versuchte nun Joseph II., möglichst viele diskriminierende Sonderrelungen für Juden abzuschaffen, bzw. durch weniger ausgrenzende zu ersetzen. Juden sollten, um eine Umbildung der Gesellschaft zu erreichen, aus den als "unproduktiv" abqualifizierten Handelsberufen zu den "produktiven" Handwerks-berufen hinüberwechseln.
Von besonders menschenfreundlichen Beweggründen in der josephinischen Politik sprechen zu wollen, hieße das Wesen des aufgeklärten Absolutismus verkennen und hält einer Prüfung durch die Realität auch gar nicht stand. Ausschlaggebend für Josephs II. Reformpolitik waren ökonomische Motive.

Emanzipiert?

Die Zahl der in Wien lebenden Juden war nun, wenn auch höher als die Handvoll Hoffaktorenfamilien bis dahin, nach wie vor beschränkt. Nur vermögende Juden, von denen die staatlichen Verwaltungsbehörden annahmen, dass sie der Staatswirtschaft dienten, wurden in Wien zugelassen.
Die zeitgenössische Zuwanderungspolitik übte sich zwar in einer Förderung von Handel und Industrie, brachte die Zulassung von Juden zu allen Schulen, brachte aber auch das Verbot, die hebräische Sprache in öffentlichen Angelegenheiten zu verwenden. Heftige Reaktionen waren die Folge. Innerhalb der jüdischen Bevölkerung wurde die Kritik an der Aufgabe kultureller Traditionen, aber auch des Glaubens immer lauter. Christliche Handwerker und Kleingewerbetreibende waren gegen diese Art von Assimilationspolitik, denn sie fürchten die entstehende Konkurrenz.
Als Folge des josefinischen Aufklärungskurses hatte sich um 1800 eine jüdische Bevölkerungsgruppe in Wien entwickelt, die ganz und gar nicht repräsentativ für die soziale Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung im Rest der Monarchie war, denn sie bestand fast ausschließlich aus Großhändlern und jenen, die unter ihrem "Schutz" in Wien leben durften.

Grab des Großhändlers Siegfried Philipp Wertheimer auf dem jüdischen Friedhof Währing.
Foto Tina Walzer

Was weiter geschah...

Die josefinische Gesetzgebung wurde unter Josephs Nachfolgern, unter Franz II. und besonders unter der Regierung Metternich, schrittweise zurückgenommen, die alten Beschränkungen zu einem guten Teil wieder eingeführt: Aufenthaltsverbote, Berufsbeschränkungen, unverhältnismäßig hohe Steuern, und so weiter. Nach wie vor begünstigt blieb eine schmale großbürgerliche jüdische Gruppe, welche die einander abwechselnden Regime finanziell unterstützte. So gelangte die Familie Rothschild zu ihrem Adelstitel, das Bankhaus Salomon Rothschild hatte nämlich die Regierung Metternich in deren skandalerschütterter Spätphase unterstützt - als Anerkennung winkte die prestigeträchtige Adelsverleihung. Die wachsende Masse der Wiener Juden aber war sozial wie rechtlich diskriminiert und blieb es auch weiterhin.


Wappen der geadelteten jüdischen Familie Wertheimstein.
Original ÖStA

Revolution

Ganz übersehen lässt sich nicht, dass jene Unternehmer - Bankiers und Großkaufleuten - die Grundlage für die kapitalistische Wirtschaftsordnung schufen und gleichzeitig den Boden für eine Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft erst vorbereiteten - damit auch für die Revolution von 1848. In dieser Volkserhebung wurde versucht, die Interessen breiter Bevölkerungsschichten öffentlich durchzusetzen - für die demokratiepolitisch hoffnungslos unterentwickelte Habsburgermonarchie ein Novum, das die Obrigkeiten dermaßen erschreckte, dass sie die Protestierer mit militärischer Hilfe gewaltsam zum Schweigen brachte.

Ein Klischee entsteht

In den 1830er Jahren begann sich neben dem Großbürgertum bereits eine demokratisch orientierte jüdische Intelligenz herauszubilden. Juden waren durchschnittlich besser ausgebildet als die christliche Bevölkerung, und sie zeichneten sich durch eine größere berufliche Flexibilität aus. Politisch schien ein Engagement auf Seiten der Opposition zum absolutistischen, konservativ-reaktionären Regime der gesellschaftlichen Etablierung förderlich. Einige dieser akademisch geschulten Intellektuellen waren an der Ausformulierung von Forderungen und an der Planung der Revolution von 1848 beteiligt, etwa Adolf Fischhof, Sekundararzt am AKH. Dieses aktive Engagement für die Durchsetzung bürgerlicher Rechte wurde schnell zum politisch eingesetzen Argument reaktionärer Kreise; es brachte den Wiener Juden den Ruf ein, ein "gefährliches umstürzlerisches Element" zu sein - ein antisemitisches Klischee, das sich bis ins 20. Jahr-hundert fortsetzt.

Auf und ab

In einem legistischen Intermezzo, dem Verfassungsentwurf von Kremsier, wurden wesentliche Elemente der josefinische Verordnungen wieder aufgenommen.1851 allerdings führte der neue Herrscher, Franz Josef I., die neoabsolutistische Herrschaftsform ein, und nahm die Entschlüsse des Kremsierer Exilreichstages zurück. Eine eklatante Verschlechterung der Stellung der Juden innerhalb der österreichischen Gesellschaft war die Folge.
Beruflich bedeutete das, dass zum Beispiel der Zutritt zu Staatsämtern und der Beamtenlaufbahn wieder stark erschwert war.
Mit den militärischen Niederlagen der Monarchie in Italien 1859 war schließlich das Ende des Neoabsolutismus gekommen. Eine neue Gesetzgebung brachte endlich die staatsrechtliche Gleichstellung für jüdische Bürger.
Gerade in beruflicher Hinsicht war das eine große Erleichterung. Aufgehoben wurde etwa die alte Zunftverfassung, sodass nun auch Juden Handwerksmeister werden konnten und volle Gewerbefreiheit genossen.

Wohnen

Die Wiener jüdische Bevölkerung konzentrierte sich im großen und ganzen auf den 1., 2. und
9. Bezirk, mit großen sozialen Unterschieden innerhalb der Bezirke.
Im 1. Bezirk lebten die vermögenden Angehörigen des Großhandels und der freien Berufe. Wohnen stand unter der Prämisse der Repräsentation: es ging um gesellschaftlichen Status und darum, der Annäherung an die christliche Umgebung auch räumlich Ausdruck zu verleihen. Gerade für wohlhabende, assimilationsorientierte Bürgerfamilien war die Suche nach der räumlichen Nähe zu anderen Juden kein Motiv bei der Wohnungswahl.
An der Ringstraße sowie am Schwarzenbergplatz sieht man heute noch die Palais, die sich die assimilierten großbürgerlichen jüdischen Familien hatten bauen lassen. Sie spielten damit eine höchst aktive Rolle bei der baulichen Gestaltung der Ringstraße, die ja als Manifest des großbürgerlich-liberalen Aufschwunges der "Gründerzeit" gedacht war. Im Herrengassen-viertel, das ganz allgemein von Adeligen und von hohen Beamten bewohnt war, siedelten sich jüdischerseits Freiberufler und Großhändler an, ebenso im Schottengassenviertel, das ansonsten dominiert war von mittleren Beamten und größeren Gewerbebetrieben.
Bis heute erhalten hat sich das Textilviertel, entlang Wipplingerstraße, Hohem Markt und Rotenturmstraße.

Textilhandel in der Seitenstettengasse.
Foto Bruno Frei, Wien

Die Mazzesinsel

Die höchste jüdische Bewohnerdichte ist im zweiten Bezirk festzustellen, der die Leopoldstadt und die Brigittenau umfasste. Interessanterweise ließen sich alle Neuzuwanderer zunächst im 2. Bezirk nieder. Unterschiedliche soziale Schichten lebten hier zusammen im Bemühen, das jüdische Gruppenbewusstsein zu stärken und so die Aufgabe von Traditionen bis hin zur vollständigen Assimilation zu verhindern.
Die Wohnsituation war vor allem für die Zuwanderer aus dem Osten der Monarchie verheerend. In winzigen Wohnungen lebten sechsköpfige Familien und zusätzlich noch entfernte Verwandte oder fremde Untermieter, bis zu 60 Personen hatten in Herbergen auf Strohsäcken ein hartes Nachtlager, Obdachlose schliefen im Prater.
Während in der Binnenleopoldstadt, zwischen Taborstraße und Augarten, ärmere Kleinhändler und Gewerbetreibende zu finden waren, lebten wohlhabende Händler und Börsianer im Gebiet zwischen Taborstraße und Praterstraße, an der Kanalfront. Gesellschaftliche Aufsteiger zogen innerhalb des Bezirkes in "reichere" Wohngegenden, oder sie wanderten in den 1. oder den 9. Bezirk ab.

Schauplatzwechsel

Besonders die Freiberufler zogen gerne in den 9. Bezirk um, wo sich in Nähe zur Universität, zwischen Währingerstraße und Porzellangasse, ein schmales jüdisches Siedlungsgebiet entwickelte. Prominentes Beispiel ist wohl Sigmund Freud mit seiner Wohnung in der Berggasse.

In den anderen Wiener Bezirken lassen sich keine jüdischen Siedlungschwerpunkte erkennen.
Wohl lebten die geadelten jüdischen Familien mitunter im vom Adel überhaupt bevorzugten vierten Bezirk, so die Rothschilds oder die Gutmanns.
Jüdische Fabrikanten ließen sich zunächst im 6. und 7. Bezirk, wo in den Hinterhöfen industrielle Fertigungsstätten dominierten, nieder.
Ab den späten 1870er Jahren wurden die Außenbezirke 18 und 19 als Villengegenden beliebt. In dieser Zeit zogen die Wertheimsteins in ihre Döblinger Villa.

Die Villa Wertheimstein in Döbling. Foto WSLA

Vom Gehilfen zum Angestellten

Der Beruf des Gehilfen war in seiner frühen Form eine Beschäftigung in einem Geschäft oder einem Gewerbebetrieb. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts überwog diese Form unselbständiger Tätigkeit innerhalb des Wiener jüdischen Berufsspektrums. Mit der industriellen Weiterentwicklung der Wirtschaft kam es zur Gründung von Versicherungen, Banken und ähnlichen wirtschaftsverwaltenden Institutionen. Damit wurde eine völlig neue Berufsgruppe ins Leben gerufen, nämlich jene der sogenannten "Privatbeamten", also Angestellten in privat geführten Verwaltungseinrichtungen.

Familienplanung

Angehörige dieses Berufes wanderten in erster Linie ledig und in jungen Jahren nach Wien zu mit dem Ziel, sich über die Anstellung eine Existenz aufzubauen und dann selbständig einen Betrieb zu führen.

Oft kamen junge Männer zu Familienangehörigen, um in deren Betrieb mitzuarbeiten. Erst wenn er sich selbständig machen konnte, wurde geheiratet, hier wieder in erster Linie mit aus Wien gebürtigen Frauen, um den erreichten Status in Wien zu festigen.

Die Frage, ob junge Leute mit ihrer ganzen Familie zusammen nach Wien kamen, stellt sich für diese frühe Phase der Angestelltentätigkeit gar nicht, da ein Großteil dieser Angestellten ja nicht verheiratet war. Es kam jedoch oft genug vor, dass Männer kurz nach der Hochzeit nach Wien gingen, während ihre Ehefrauen bis zur gelungenen Etablierung des Ehemannes in der Herkunftsgemeinde blieben und erst dann nach Wien nachfolgten. Dies bedingt in der Statistik einen ständigen Überschuss an ledigen jungen Männern unter den Wiener Juden, da der Zuzug nie aufhörte. Sobald Ehefrauen nachkommen konnten, wurde an Kinder gedacht. Dies erklärt das im Vergleich zu anderen Berufsgruppen höhere Alter der Frauen von Angestellten bei der Geburt des ersten Kindes.
Ledige junge Frauen kamen nie alleine nach Wien, um hier Arbeit zu suchen. Hingegen zogen Eltern mit ihren Töchtern nach Wien, um die Heiratschancen für die Kinder zu verbessern. Eine baldige Verheiratung der Töchter entlastete die Eltern ja finanziell, und in einer Großstadt war die Wahrscheinlichkeit höher, geeignete Ehemänner zu finden, die auch eine soziale Absicherung garantieren konnten.

Die Vielfalt jüdischen Lebens in Wien

Das Beispiel der jüdischen Angestellten zeigt, dass das übliche Bild vom Juden als Händler in seiner Verallgemeinerung nicht zutrifft. Es gab auch ganz andere Bereiche im jüdischen gesellschaftlichen Spektrum.
Gerade die ideologisch so oft missbrauchte Polarisierung in "reiche Juden - arme Juden" bedarf einer Korrektur, da die soziale Bandbreite der Wiener Juden jedenfalls über Millionäre und Hausierer hinausreichte. Dies scheint umso notwendiger, als die antisemitische Rhetorik genau diesen angeblichen Sachverhalt immer als Hauptargument eingesetzt hat. Dass die Realität jüdischen Alltags in Wien noch weit komplexer war, als sich hier in gebotener Kürze darstellen ließ, darauf sei hier noch einmal ganz deutlich hingewiesen.

Literaturhinweise
Steven Beller, Wien und die Juden 1867-1938,
Wien-Köln-Weimar 1993.
Leon Botstein, Judentum und Modernität. Essays zur Rolle der Juden in der deutschen und österreichischen Kultur 1848 bis 1938,
Wien-Köln 1991.
Albert Lichtblau (Hg.), Als hätten wir dazugehört.
Österreichisch-jüdische Lebensgeschichten aus der Habsburgermonarchie. Wien-Köln-Weimar 1999.
Sigmund Mayer, Die Wiener Juden 1700 - 1900. Kommerz, Kultur, Politik, Wien-Berlin 1917.
Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Köln 1985.
Marsha L. Rozenblit, Die Juden Wiens 1867-1914. Assimilation und Identität, Wien 1988.
Robert S. Wistrich, Die Juden Wiens im Zeitalter Franz Josephs. Wien 1999.

Mag. Tina Walzer, Studium der Geschichte, Germanistik
und der ungarischen Sprache, ist freie Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Juden in Österreich und leitet das Forschungsprojekt "Sozialgeschichte der Wiener Juden 1784-1874". In jahrelanger Arbeit wurden biographische Daten zu mehr als 8000 Personen gesammelt. Demnächst sollen diese Daten, die neben Geburts- und Sterbedaten Angaben zu den Herkunftsorten, den Berufen, Wohnadressen und den Todesursachen enthalten, auf
CD-ROM veröffentlicht werden. Damit wird umfangreiches Quellenmaterial für Genealogie und Wissenschaft erstmals in leicht zugänglicher Form zur Verfügung stehen.