Wie viele andere europäische Städte erfuhr auch Prag zur Zeit der vorigen Jahrhundertwende einen fundamentalen Modernisierungsschub, der eine städtebauliche Neustrukturierung erforderte. In diesem Kontext wurde auch der Stadtteil Josefov, in dem sich das alte jüdische Ghetto befand, radikal assaniert. In der Folge wurden zahlreiche alte Synagogen abgerissen und anderenorts neue erbaut. Denn auch die jüdische Bevölkerung Prags hatte nach der Emanzipation grossteils das alte Viertel verlassen und wohnte bereits über die ganze Stadt verstreut.
Zu diesen neu errichteten Betstätten gehörte auch die Jerusalems-Synagoge. Sie verdankt ihre Entstehung drei Tempelgemeinden, die sich nach dem Abriss ihrer Synagogen zusammengeschlossen hatten, um als Ersatz für die alten Bethäuser eine neue grosse Synagoge zu errichten.[i] Bereits 1899 wurde in der Jerusalemsgasse in der Prager Neustadt ein Grundstück seitens des neu konstituierten Tempelvereins erworben. Die Gasse sollte erst später namensgebend für die Synagoge werden, denn die ursprüngliche Bezeichnung war „Kaiser Franz Josef -Jubiläumstempel“, zu Ehren des fünfzigjährigen Regierungsjubiläums des Kaisers 1898.[ii] Schon die Wahl des Standortes löste Schwierigkeiten aus. Unter anderem gab es Beschwerden, dass eine Kirche in der Nähe situiert wäre. Dieser Umstand, und auch die Suche nach einem adäquaten Bauplan, führten zu Verzögerungen. Nachdem die ersten beiden Projekte keine Genehmigungen erhalten hatten, wurde schliesslich im Dezember 1904 für den von dem Wiener Architekten Wilhelm Stiassny (1842–1910) erstellten Entwurf die Baubewilligung erteilt.[iii]
Architekt
Stiassny gehörte der ersten Generation jüdischer Architekten an und hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine äusserst erfolgreiche Karriere hinter sich. Nicht nur hatte er eine Unzahl von Miethäusern errichtet, er war er auch für den Bau zahlreicher karitativer Einrichtungen der Familie Rothschild verantwortlich und galt insbesondere als Spezialist für den Synagogenbau. In Prag hatte er sich bei der jüdischen Gemeinde bereits einige Jahre zuvor mit der 1893 im Stadtteil Vinohrady erbauten Synagoge Anerkennung erworben.[iv] Darüber hinaus vertrat er stets ein selbstbewusstes Judentum, so war er unter anderem auch Mitbegründer des Jüdischen Museums in Wien und politisch als Abgeordneter im Wiener Gemeinderat tätig.[v]
Als Architekt war Stiassny dafür bekannt, dass seine Bauten höchst zweckmässig angelegt waren und dass deren Errichtung zumeist im Rahmen des Zeitplanes und des Kostenvoranschlages blieb. In formaler Hinsicht galt der Architekt eher als traditionsverbunden und vertrat im Synagogenbau eine orientalisierende Ausrichtung, die innerjüdisch – insbesondere seitens liberaler Gruppen in Wien – nicht unumstritten war. Dies führte dazu, dass Stiassny an seinem Heimatort Wien nur eine einzige Synagoge – die sogenannte „Polnische Schul“ – errichten konnte,[vi] hingegen in den Kronländern der Monarchie für eine Reihe von Tempelbauten verantwortlich war und auch immer wieder als massgeblicher Experte konsultiert wurde.
Zweifellos konnte Stiassny seine langjährige Erfahrung in das Projekt der Jerusalems-Synagoge einbringen. Neben einer äusserst funktionellen räumlichen Anordnung verband er bei der Gestaltung seines Entwurfes sehr geschickt eine maurisch-orientalisierende Formensprache mit damals aktuellen Jugendstil-Elementen. Ein weiterer günstiger Umstand für den Bau war, dass die Prager jüdischen Gemeinden grossteils durchaus wohlhabend und zusätzlich die Damenkomitees beim Sammeln von Spenden äusserst erfolgreich waren, so dass die Finanzierung gesichert war. In der Folge kam es zur Errichtung einer der bemerkenswertesten Synagogen in Europa, die binnen einer relativ kurzen Bauzeit von knapp zwei Jahren errichtet werden konnte.
Gestaltung
Die prachtvoll polychromierte Fassade zur schmalen Jerusalemsgasse wurde von einem Davidstern dominiert, der von einem Hufeisenbogen umrahmten war. Durch die darunter liegende, gleichfalls von Hufeisenbögen abgeschlossene Vorhalle gelangte man zu den Eingängen, wobei sich jene für die Männer in der Mitte befanden, die Zugänge für die Frauengalerien hingegen an der Seite. Über den drei Mittelbögen stand ein Vers des Propheten Malachi (2,10) „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat nicht ein G'tt uns erschaffen?“ in Tschechisch, Hebräisch und Deutsch, entsprechend der sprachlichen Ausrichtung der damaligen Prager jüdischen Gemeinde. Der dreischiffige Innenraum enthielt ursprünglich 488 Plätze für Männer im Parterre und 366 Plätze für Frauen auf der Galerie.
Wie die Vorhalle orientierte sich auch die Innengestaltung an maurisch-spanischen Vorbildern. Der durch seine Farbenpracht bestechende Innenraum war nach dem dreischiffigen Basilika-Typus strukturiert, die Seitenschiffe waren durch Arkaden mit dekorativen Kleeblattbogen getrennt. Der Thora-Schrein war in der Form eines Stufenportals gestaltet, am Scheitel mit den Tafeln des Dekalogs. Der Vorhang des Thora-Schreines stammte aus einer der drei demolierten Synagogen und auch die Thora-Rollen wurden von den ursprünglichen Prager Synagogen hierher übertragen. Die Glasfenster trugen die Namen der Spender und zeigten jüdische Kultgegenstände. Grosse Aufmerksamkeit wurde auf die Sicherheit gelegt. Bis auf die Sitzbänke wurden keinerlei brennbare Materialien verwendet und insgesamt verfügte der Bau neben sieben Eingangstüren an der Hauptfront über insgesamt 21 Ausgänge, die alle nach aussen zu öffnen waren, so dass innerhalb weniger Minuten das Gebäude geleert werden konnte. [vii]
Einweihung
Am Sonntag, dem 16. September 1906 fand die Schlusssteinlegung und feierliche Einweihung der Synagoge statt. Anwesend war alles, was Rang und Namen hatte: sämtliche Vorstände der Prager Kultusgemeinden, aber auch zahlreiche Gemeindevorstände aus Böhmen und Mähren. Des Weiteren waren auch Vertreten diverser zivilen und militärischen Behörden anwesend, insbesondere auch der Statthalter von Böhmen, Graf Coudenhove, in grosser Galauniform.
Im Vestibül begrüssten der Obmann des Exekutivkomitees, Otmar Rosenbaum, und der Architekt Wilhelm Stiassny die prominenten Gäste und dankten allen, die Anteil an der Entstehung des Baus gehabt hatten. Nach dem Singen eines Chorals verlas der Architekt Stiassny die Schlusssteinurkunde auf Deutsch und der Baumeister Alois Richter auf Tschechisch, dann wurde mit drei Hammerschlägen die Vollendung des Baus symbolisiert.
Die Bedeutung der Zweisprachigkeit manifestierte sich auch in den Predigten der beiden Rabbiner Dr. Weiner und Dr. Deutsch, die sowohl auf Deutsch als auch auf Tschechisch gehalten wurden. Unter Psalmengesang wurden dann die kostbaren alten Thora-Rollen in den Thora-Schrein eingestellt. Schliesslich wurde, wie üblich, die Volkshymne gesungen, gleichfalls auf Tschechisch und Deutsch. Nach dem Ende der Zeremonie sprach Graf Coudenhove seine vollste Anerkennung zum Bau des schönen Tempels, aus welcher „eine Zierde der Stadt Prag“ geworden sei und ein Symbol für die Bedeutung der Prager jüdischen Gemeinde.[viii] Durch glückliche Umstände ist der Bau bis heute erhalten und ein beeindruckendes Wahrzeichen im Stadtbild von Prag.
Die Jerusalems-Synagoge in Prag. Foto: U. Prokop. mit freundlicher Genehmigung.
Die Jerusalems-Synagoge in Prag, Detail. Foto: U. Prokop. mit freundlicher Genehmigung.
[i] Bei den drei abgerissenen Synagogen handelte es sich um die Grosse Hofsynagoge, die Neusynagoge und die Zigeunersynagoge.
[ii] S. Tanaka, Wilhelm Stiassny, Synagogenbau, Orientalismus und jüdische Identität, Diss. Wien 2009 und Prager Tagblatt 16.9.1906
[iii] Prager Tagblatt 2.12.1904
[iv] Diese Synagoge wurde 1945 abgerissen.
[v] I. Scheidl/U. Prokop/W. Herzner, Wilhelm Stiassny (1842-1910), Wien 2019
[vi] Die „Polnische Schul“ wurde 1893 in der Leopoldsgasse im 2. Bezirk errichtet und wie fast alle Wiener Synagogen 1938 zerstört.
[vii] Prager Tagblatt 6.7.1906
[viii] Dr. Blochs Wochenschrift 1906, Nr. 38, S.637