Ausgabe

Zimtkuchen aus der Heimat Die Feldpostbriefe des Elsässer Juden und Kaufmanns Henri Levy aus Biesheim 1916–1918

Fabian Brändle

Rund sieben Milliarden Feldpostbriefe, so eine qualifizierte Schätzung, schickten deutsche Armeeangehörige im Ersten Weltkrieg (1914–1918) an ihre Lieben nach Hause. 

Inhalt

Unter den zahllosen Schreibern fand sich auch der Elsässer Jude Henri Levy (1890–1962) aus Biesheim, dessen rund sechzig Feldpostbriefe und Postkarten die Zürcher Historikerin Karin Huser in einer mustergültigen Edition herausgegeben, annotiert und kommentiert hat. Es handelt sich um die erste vollständige wissenschafliche Edition einer kompletten Serie jüdischer Feldpostbriefe aus der Hand eines einzelnen Individuums. Einzelne Briefe waren schon in den 1920er und 1930er Jahren in Sammelbänden ediert worden, nicht zuletzt, um Patriotismus, Tapferkeit, ja den Todesmut jüdischer Soldaten und Offiziere zu dokumentieren. Dies geschah in erster Linie gegen antisemitische Anfeindungen von völkischer Seite. Denn den Juden im Ersten Weltkrieg wurde in diesen Kreisen Feigheit und Drückebergertum sowie Habgier unterstellt.

Die meist recht kurzen Schreiben Henri Levys geben indessen kaum einmal Auskunft über das Schlachtengetümmel an der Ostfront gegen das zaristische Russland, und der eigentliche militärische Alltag wird auch kaum zum Thema gemacht. Dafür waren Feldpostbriefe der falsche Platz, denn Selbst- und Fremdzensur bewirkten einen Rückzug ins Alltägliche, womöglich gar ins Banale. Der Schreiber eines Feldpostbriefs wollte die Adressaten innnerhalb seiner Familie nicht mit der Brutalität des beschwerlichen, mitunter auch langweiligen Frontalltags ängstigen, wollte sie nicht mit Geschichten von Sterben und Tod zusätzlich in Sorge bringen und belästigen. Ein Tabuthema in Feldpostbriefen war auch die Sexualität (gemeinsame Bordellbesuche, Homosexualität et cetera)  Die offizielle Zensur der deutschen Armee verhinderte zudem ein Nennen von konkreten Orten (Geheimhaltungsgebot). Diese Zensur konnte indessen der schieren Menge der Korrespondenz wegen nur stichprobenhaft durchgeführt werden und war folglich äusserst lückenhaft.
Henri Levy, dessen Vater, ein Kultusbeamter, als Kantor sowie Schächter der jüdischen Gemeinde des Dorfes Biesheim wirkte (im einstmals französischen Elsass hatte sich eine grosse jüdische Gemeinschaft etabliert), war als  Krankenwärter in einem Feldlazarett sowie als Offizierskoch eingeteilt worden, wirkte also vornehmlich in der Etappe, eine bestimmte Distanz weit weg von der Front. Das heisst freilich nicht, dass der Dienst dort lax gewesen wäre. Levy beschwerte sich denn auch oft über die langen Arbeitstage. Zudem setzte die winterliche grimmige Kälte nicht nur den Mannschaften an der Front zu. Auch die Lebensmittel, namentlich das Fleisch, froren zum Teil ein und mussten umständlich aufgetaut werden. Zudem war der Auf- und Abbau von Feldlazaretten eine mühsame Angelegenheit, ebenso wie das Kochen für hundert und mehr hungrige Mäuler, die zudem kritisch mit dem Gebotenen umgingen.

Das Essen war sowieso ein häufiges Thema in den Feldpostbriefen des Biesheimer Kaufmanns. Henri Levy war oftmals hungrig und bat die Familienangehörigen um Nahrung, die ihm in Esspaketen auch prompt zugestellt wurde. Wie freuten sich Henri Levy und seine Kameraden auf Post aus der Heimat. Gegen Ende des Kriegs, ab 1917, als im Elsass und an der gesamten „Heimatfront“ Mangel herrschte, sandte Levy Essbares sowie Bargeld, das er sich vom Sold abgespart hatte, zurück nach Hause. Levy wünschte sich auch andere Dinge für den täglichen Bedarf von seiner Familie als Esspakete, mal eine Seife, mal Rasierzeug, mal Likör, mal einen Zimtkuchen (Elsässer Spezialität), aber auch neue Gebetsutensilien, denn er war ein (nicht allzu streng-) gläubiger Jude. So fragte er einmal nach einem jüdischen Kalender, wohl auch, um seinem Vater seine Frömmigkeit zu beweisen. Henri Levy ging auch, wenn immer möglich, in die Synagoge und liess sich vom vielbeschäftigten jüdischen Feldrabbiner seelsorgerisch betreuen. Wenn es zu Pessach kein ungesäuertes Brot (Matze) gab, war Henri Levy gar nicht zufrieden. 
In den Dörfern und Kleinstädten Litauens oder Weissrusslands (damals russisches Zarenreich), seinen Einsatzorten in der Etappe, traf Henri Levy auch auf einheimische Juden. Wenn es ging, nahm er am kulturellen Leben eines nahe gelegenen Schtetls teil; allein, oft fehlte die Zeit dazu. Umso mehr beeindruckt zeigte sich Levy beispielsweise nach einem Theaterbesuch mit Laienschauspielern.

Wichtig war, mit den Lieben zu Hause in Kontakt zu bleiben, sich nach ihrem Wohlergehen zu erkundigen. Das war zentral für den Emotionshaushalt der Soldaten, aber auch wichtig für die Angehörigen, die natürlich in ständiger Sorge lebten, denn die Verlustzahlen auch an der Ostfront waren hoch. Henri Levy erkundigte sich nach entfernten Verwandten und thematisierte im Wesentlichen das Vertraute und Bekannte aus der Heimat. Dass manchmal auch etwas Klatsch und Tratsch unter den ausgetauschten Informationen war, versteht sich von selber. Henri Levy wollte wissen, wie es seinem Bruder Sally Levy ging, der ebenso in der Etappe eingesetzt war und den Krieg auch überlebte. Gross war die Freude, wenn Urlaub gewährt wurde. Dann konnte Henri Levy ins weit entfernte Elsass reisen und dort seine Liebsten wiedersehen, ein wahrhaft freudiges Ereignis. Im kalten Osteuropa plagte Henri Levy oft das Heimweh: der „cafard“, wie ihn die Franzosen nannten und heute noch nennen, setzte ein.

Aus den Briefen und Postkarten Henri Levys spricht eine tiefe Friedenssehnsucht. Levy sah als Krankenhauswärter viele Schwerstverwundete, Verstümmelte und auch Sterbende; dies setzte der Moral sicherlich zu. Zudem war der Erste Weltkrieg nicht sein Krieg, trotz eines durchaus und sichtlich vorhandenen deutschen Patriotismus. Aber fühlte sich Henri Levy nicht auch verbunden mit den zahlreichen Juden in der russischen Armee?

Henri Levy überlebte den Krieg zumindest physisch unbeschadet und ging in den 1920er Jahren in die Schweiz nach Derendingen im Kanton Solothurn, wo er weiterhin als Kaufmann arbeitete und die Shoah überlebte. Seine Feldpostbriefe wurden in der Familie sorgsam aufbewahrt. Die Historikerin Karin Huser entdeckte sie eher zufällig, während ihrer Recherchen zur Geschichte der Juden im Kanton Solothurn.

Huser, Karin: „Haltet gut Jontef und seid herzlichst geküsst.“ Feldpostbriefe des Elsässer Juden Henri Levy von der Ostfront (1916-1918). Zürich: Chronos 2014.