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Jüdischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Wolfgang BENZ

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Am 1. April 1933 - Adolf Hitler war gerade seit zwei Monaten Reichskanzler - sollten in ganz Deutschland in einer propagandistisch effektvoll begleiteten Aktion jüdische Geschäfte, Anwaltskanzleien, Arztpraxen boykottiert werden.

Die Aktion „Kauft nicht bei Juden" war von der NSDAP initiiert, an der Spitze des Boykott-Komitees stand Julius Streicher, NSDAP-Gauleiter in Franken, Herausgeber des „Stürmer", Antisemit aus fanatischer Überzeugung. Am Vorabend hielt er zum Auftakt der Aktion in München eine wüste Rede, die Aktion selbst war gut organisiert mithilfe der SA, die Posten vor jüdischen Läden und Büros aufstellte und schon dadurch Kunden, Klienten, Patienten abschrecken sollte. Weithin funktionierte das noch nicht, sehr viele nichtjüdische Bürger missbilligten die antisemitische Demonstration, viele zeigten Solidarität mit den betroffenen Juden, nicht wenige kauften demonstrativ irgendetwas im jüdischen Geschäft, um zu zeigen, dass sie sich (noch) nicht einschüchtern liessen.

In spektakulärer Weise wehrte sich auch ein jüdischer Kaufmann, Erich Leyens, Mitinhaber eines Kaufhauses in Wesel am Niederrhein, gegen den Antisemitismus der Nationalsozialisten. Leyens war 35 Jahre alt, er war deutscher Patriot und im Ersten Weltkrieg Freiwilliger gewesen. Von der Boykott-Aktion hatte er am Vorabend, am 31. März 1933, erfahren. Er wollte die Beleidigung nicht hinnehmen und beschloss, an den Anstand der Mitbürger zu appellieren. Er fand einen Drucker, der ein rasch entworfenes Flugblatt über Nacht druckte.

Am Morgen des 1. April stand Erich Leyens flankiert von zwei uniformierten SA-Männern vor seinem Geschäft und verteilte das Flugblatt. Er war sicher, den Tag nicht zu überleben. Leyens trug seine Uniform aus dem Ersten Weltkrieg mit allen Orden und Ehrenzeichen. Ausserdem hatte er, mehr als acht Jahre vor der befohlenen Stigmatisierung durch den Judenstern, einen gelben Fleck auf seinen Waffenrock geheftet. Das Publikum sah es mit Staunen und bald war Leyens von Sympathisanten umringt, die Flugblätter erbaten, um sie selbst in der Stadt zu verteilen. Die SA-Wachen standen erstarrt, bis sie sich verzogen.

Die lokalen Zeitungen, noch nicht gleichgeschaltet zu Sprachrohren des Nationalsozialismus, berichteten am folgenden Tag mit Sympathie über den Mut des jüdischen Kaufmanns unter der Überschrift „Selbsthilfe eines jüdischen Frontkämpfers". Das führende Blatt der Stadt schrieb:

„Als in Wesel Leute in Uniform das Betreten des Geschäftshauses der Firma Leyens & Levenbach zu verhindern suchten, hat einer der Inhaber, Erich Leyens, der Kriegsfreiwilliger war und Inhaber des E. K. 1 ist, sich seinen Waffenrock mit dem E. K. 1 angezogen, sich auf die Strasse neben die SA-Leute gestellt und folgendes Flugblatt verteilt:

„Unser Herr Reichskanzler Hitler, die Herren Reichsminister Frick und Göring haben mehrfach folgende Erklärungen abgegeben: ‚Wer im 3. Reich einen Frontsoldaten beleidigt, wird mit Zuchthaus bestraft!‘ Die drei Brüder Leyens waren als Kriegsfreiwillige an der Front, sie sind verwundet worden und haben Auszeichnungen für tapferes Verhalten erhalten. Der Vater Leyens stand in freiwilliger Wehr gegen die Spartakisten. Sein Grossvater ist in den Freiheitskämpfen an der Katzbach verwundet worden. -  Müssen wir uns nach dieser Vergangenheit in nationalem Dienst jetzt öffentlich beschimpfen lassen? Soll das heute der Dank des Vaterlandes sein, wenn vor unserer Tür durch grosse Plakate aufgefordert wird, nicht in unserem Haus zu kaufen? Wir fassen diese Aktion, die Hand in Hand mit verleumderischen Behauptungen in der Stadt geht, als Angriff auf unsere nationale und bürgerliche Ehre auf und als eine Schändung des Andenkens von 12. 000 gefallenen deutschen Frontsoldaten jüdischen Glaubens. Wir sehen darüber hinaus in dieser Aufforderung eine Beleidigung für jeden anständigen Bürger. Es ist uns nicht bange darum, dass es in Wesel auch heute noch die Zivilcourage gibt, die Bismarck einstmals forderte, und deutsche Treue, die gerade jetzt zu uns steht.""

Das entschlossene und mutige Auftreten von Erich Leyens hat in Bürgerkreisen der Stadt allseits Sympathie und Anerkennung gefunden. Das Geschäft wurde nicht geschlossen, und auch die öffentlichen Boykott-Aufforderungen hörten sehr bald auf. Der Appell des couragierten jüdischen Bürgers an die politische Moral und den Anstand der Mitbürger widerlegt die Lebenslüge aller Passiven, man habe nichts machen können. Aber weil der Widerstand gegen die staatlich angeordnete Beleidigung der Minderheit vereinzelt blieb, bewirkte er auch nichts über den Augenblick hinaus.

Erich Leyens hat sich, ausgehend von seiner persönlichen Erfahrung unter nationalsozialistischer Herrschaft als selbstbewusster Bürger, zeitlebens mit der Ausgrenzung der Juden beschäftigt. Er hat seine Erinnerungen an Deutschland 1933-1938 veröffentlicht. Der Text ist längst vergriffen, aber immer noch ein wichtiges Zeugnis als Frucht der Reflexion über die Zerstörung von Kultur und Humanität, Gesittung, Recht und Moral in Deutschland unter Hitler. Dass eine Verbrecherbande die Staatsmacht erringen konnte und welcher Ideologie sie sich dazu bediente, welche sozialen und ökonomischen Voraussetzungen dafür bestanden und welche politischen Mechanismen zur Installation dieses Regimes in Gang gesetzt wurden, interessierten den ehemals deutschen Patrioten und dekorierten Soldaten des Ersten Weltkriegs nicht so sehr. Im Zentrum seines Denkens steht das Problem, wie ein solches Regime die Gefolgschaft und begeisterte Zustimmung der gebildeten und gesitteten Bürger finden konnte, welche Veränderungen im Freund und Nachbarn, im Mitbürger und Beamten, im Studienrat oder Bäckermeister vorgegangen sein müssen, damit sich die grosse Mehrheit der Deutschen in einen Haufen dem Hitlerkult besinnungslos ergebener, den Leiden der jüdischen Minderheit gegenüber blinder und stumpfer und gegen die Völker ausserhalb Deutschlands ebenso arroganter wie gefühlloser Herrenmenschen verwandelte.

Dem Rätsel der bürgerlichen Moral war Erich Leyens‘ Bericht gewidmet. Sein Anliegen war es, auf Fragen wie diese Antwort zu finden: War seine Aktion des öffentlichen Protestes am 1. April 1933 sinnlos oder verständlich, hätte man ihn verhaften oder als Störenfried der „neuen Ordnung" erschlagen sollen? Wie war die Entscheidung seines Freundes Hermann zu beurteilen, der den Juden Erich Leyens im Jahr 1933 aufsuchte, um für seinen Entschluss, der NSDAP beizutreten, um Verständnis zu bitten? Und war die Haltung Richards, eines anderen Freundes, der Erich Leyens regelmässig aufsuchte, um in nächtelangen Diskussionen Solidarität zu beweisen, töricht, bewundernswert, gefährlich oder was sonst? War das Schweigen der Kirchen zur Diskriminierung, Verfolgung und schliesslichen Vernichtung der Juden verständlich? War es zu billigen oder zu missbilligen? War es bekannt, wie viele „Mischehen" zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland existierten? Was wusste man als gewöhnlicher Sterblicher in Deutschland in jenen Jahren vom Abtransport der Juden mit unbekanntem Ziel? Wer hat solche Deportationen gesehen und davon gehört? Und wer wusste von den Vernichtungslagern Auschwitz und Treblinka, Sobibor und Majdanek oder wie sie alle hiessen?

Und die Kardinalfrage schliesslich, die Erich Leyens am Ende seines Berichts stellt, als er Abschied nimmt von seiner Heimatstadt, in der ihn keiner mehr kennen will, in der zwei Jahre nach seinem öffentlichen Protest gegen die Nationalsozialisten keiner mehr wagt, ihn zu grüssen: Ist es den Machthabern gelungen, gute Menschen unbeteiligt, gleichgültig für das Leiden von Mitmenschen zu machen? Konnte man in dem Verhalten der früheren Mitbürger einen Beweis für den Sieg der nationalsozialistischen Ideologie sehen? Würde so der Deutsche der Zukunft sein?

Erich Leyens schrieb seinen Text „Unter dem NS-Regime 1933-1938" im Mai 1990 in New York. Er setzte ihm die Worte voraus:

„Nach mehr als einem halben Jahrhundert und tausende Meilen entfernt ist mir die Gedankenwelt, die hier sichtbar werden soll, fremd geworden. Fremd ist mir der deutsche Junge, der im Grossen Krieg begeistert kämpfte. Und fremd geworden der Mann, der als Jude die Nazizeit erlitt. Und doch: Ich widme dieses mühsame Nachdenken dem Deutschen Juden, der ich einmal war."

Der mutige jüdische Kaufmann emigrierte zwei Jahre später, 1935, nach Italien, lebte dann in der Schweiz und in Kuba, konnte schliesslich in den USA das Bürgerrecht erwerben und brachte es nach vielen kümmerlichen Jobs zu einigem Wohlstand, der es ihm schliesslich erlaubte, die Wintermonate in Florida und den Sommer in einem Seniorenstift in Konstanz am Bodensee zu verbringen. Dort ist er im Alter von 103 Jahren am 1. Oktober 2001 gestorben.