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Ein Gespräch mit dem Historiker Tom Segev

Karl PFEIFER

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„Die entscheidende und wichtigste Frage ist die, was getan werden muss, um die Juden zu retten, die in Europa in der Falle stecken und dahingeschlachtet werden. Wir alle müssen tun, was in unserer Macht steht, um sie zu retten." David Ben Gurion 19421

 

Herr Segev, welches war Ihr erfolgreichstes Buch?
Tom Segev: Wenn Sie die Zahl der verkauften Bücher meinen, dann war es mein Buch über die Zeit des britischen Mandats „Es war einmal ein Palästina". Es könnte aber sein, dass mein Buch über Simon Wiesenthal diesen Erfolg übertreffen wird.

Interessant fand ich den Hinweis in Ihrem Buch, dass Simon Wiesenthal einige Jahre ein Gehalt von 300 Dollar vom Mossad bezog.

Als Israeli bin ich ziemlich froh, dass der Mossad 1960 beschlossen hat Wiesenthal zu finanzieren. Aber Wiesenthal war kein Agent, kein Spion, wie das einige österreichische Journalisten behaupten.

Sie qualifizieren ihn als einen „Rechten", obwohl er mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes eng zusammengearbeitet hat, dessen Leiter der Kommunist Herbert Steiner und später der Sozialdemokrat Dr. Wolfgang Neugebauer war.
Aber er hatte doch enge Kontakte zur ÖVP, auch wenn er nicht Mitglied war, hat sie  gewählt und in der jüdischen Gemeinde stritt er doch mit den Sozialisten (SPÖ).

Ich war damals Mitglied eines Kreises von Sympathisanten der linken Mapam und wir unterstützten Wiesenthal, und uns gelang es zusammen, die bis dahin SPÖ hörige Führung der IKG abzulösen.

Wiesenthal war ein Schüler von Zeev Jabotinsky und Sie waren bei Palmach, also ein Linker. Sie schrieben 1994: Die neuen Historiker „sind die Ersten, die Archivmaterial benützen [...] es handelt sich um die erste Generation von Historikern." Halten Sie das aufrecht?
Was man damals „Neue Historiker" nannte, das sind heute alles alte Herrschaften wie ich, das hat ja 1980 angefangen. Bis dahin hatten wir keine israelische Geschichtsschreibung.


Aber Dina Porat zum Beispiel?

Dina Porat2 schrieb über den Jischuv (die jüdische Gesellschaft in Palästina vor der Staatsgründung) und nicht über Israel. So um 1980 wurden nach 30 Jahren die Archive geöffnet und wir sahen Dokumente, die kein Historiker vor uns gesehen hat.

Manche sagen, die neuen Historiker lassen sich von der Ideologie leiten, während die anderen die Massstäbe akademischer Historiographie respektieren.

Jeder Historiker schreibt sowohl politisch als auch akademisch. Es gibt keine objektive Geschichte. Ich ging in die Archive, nahm Dokumente in die Hand und konnte sagen, wau, so habe ich es nicht in der Schule gelernt.
Aber gerade was Sie in Ihrem Buch „Die siebte Million" leugnen, das kenne ich ja aus meiner eigenen Erfahrung, ich war Anfang 1943 auf der Durchreise  in Istanbul und weiss, dass die Emissäre alles in ihrer Macht getan haben, um Juden zu retten. Die Zionisten haben doch viel Geld geschickt in das besetzte Europa und haben viele Initiativen ergriffen. Dass es nicht erfolgreich war, war doch nicht ihre Schuld oder die von Ben Gurion ...
Nein, sie waren zu schwach, aber sie waren auch nicht so furchtbar daran interessiert, den Juden zu helfen, sie haben zu schnell aufgegeben und abgeschrieben.

Aber Tuvia Friling3 ist da anderer Meinung.

Ja, deswegen haben wir viele Historiker, ich spreche ihm ja nicht das Recht ab diese Meinung zu haben, ich  aber halte fest an meiner.
Unabhängig von jeder Analyse der Fakten wird Israel als rassistisch und nazistisch verteufelt, ihm wird Apartheid unterstellt, dem jüdischen Volk allein wird das Recht auf einen eigenen Staat abgesprochen und es wird zum Boykott Israels und nicht nur der Produkte aus den Gebieten aufgerufen. Die Behauptung, dass die Zionisten nicht alles in ihrer Macht getan haben, um Juden zu retten und was die „Neuen Historiker" erklären wird im Ausland instrumentalisiert...

Ja, das ist schon möglich. Es gibt eine Politik, die von der israelischen Regierung gemacht wird, und die wird in Israel oft und scharf kritisiert, z.B. in der Zeitung, bei der ich arbeite. Ich glaube auch, dass es sehr gut ist, dass diese Politik vom Ausland her kritisiert wird, weil Menschenrechte in allen Ländern, nicht nur in Israel vom Ausland her verteidigt werden sollen. Es gibt kein Land, das nicht empfindlich ist, wenn es kritisiert wird, sogar die schlimmsten Diktaturen.
Es gibt keine Ausgewogenheit, wenn Sie den Nahen Osten sehen, wie ist es möglich, dass ein Land, das nur 0.015 Prozent der Erdoberfläche deckt, im Ausland derartig angegriffen und dämonisiert wird, und Länder in der Nachbarschaft, die ungleichmässig mehr Menschenrechte verletzen, denen wird das nachgesehen.

Gerade als Israeli, der zu jenen gehört, die sehr besorgt sind, weil Israel systematisch die Menschenrechte der Palästinenser verletzt, sind wir froh darüber, das Druck von aussen kommt, z.B. von Präsident Obama, es gibt genug Menschen auf der Welt, die ihren Antizionismus mit Antisemitismus vermischen. Ich würde Kritik daran messen, ob sie von Leuten kommt, die von Israel das verlangen, was sie von sich selber verlangen. Ich bin sehr stolz darauf, dass wir in den 80er Jahren in die Archive gehen konnten, dass diese Archive offen sind.
Aber das ist doch ein Zeichen der Demokratie?
Die Demokratie ist sehr gefährdet heute, in allem was die arabische Minderheit angeht, aber nicht nur. Ich glaube, dass die demokratische Gesinnung in Israel geschwächt ist, das zeigen alle Umfragen.
Während der frühen achtziger Jahre konfrontierte ich einmal Kreisky mit der Frage, wieso er von Israel sozialistische Prinzipien einfordert, die er zuhause nicht respektiert. Bis heute bekommt die slowenische Minderheit 65 Jahre nach der Befreiung hier nicht zweisprachige Ortstafeln. In Israel gibt es aber überall dreisprachige Ortstafeln und niemand demonstriert dagegen.

Wenn Sie das nächste Mal in Israel sind, schauen Sie sich an, wie viele Ortstafeln mit arabischer Schrift es noch gibt und wie viele geschwärzt wurden.
Also ich war 2009 in Jerusalem und habe da einige Strassentafeln mit dem Wort „Nakba" beschmiert gesehen und überall in den jüdischen Vierteln der Stadt sah ich die Strassenschilder auch in arabischer Sprache.

Ein anderes Thema: "Wenn die palästinensischen Araber die Waffen niederlegen, gibt es keinen Konflikt mehr, wenn die Israelis das tun, gibt es kein Israel mehr." Stimmen Sie zu?

Nein, das ist oberflächlich. Ich glaube, dass der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern so tief ist, dass er im Moment gar nicht zu lösen ist.

Wenn man antisemitische Karikaturen in arabischen Mainstream- Medien sieht, die kein antijüdisches Stereotyp - vom Ritualmord und bis zur Weltverschwörung - auslassen, gibt es fast keine Reaktionen darauf, während wenn in Israel ein Rabbiner eine rassistische Bemerkung macht, erfolgt ein Aufschrei in den Medien.

Gott sei Dank ...

Kann man diesen Konflikt noch symmetrisch sehen?

Womit wollen Sie ihn vergleichen, mit arabischen Antisemiten oder mit europäischen Demokratien?

Auch die haben ein Problem, denn es gibt antisemitische Aggressionen, die von muslimischen Jugendlichen mit „Migrationshintergrund"  ausgehen. Das Wort „Jude" ist in vielen deutschen, aber auch österreichischen Schulen zum Schimpfwort geworden ...
Ich bin Israeli, wenn das Wort „Jude" in österreichischen Schulen als Schimpfwort gebraucht wird, dann ist das ein Problem Österreichs, kein Problem Israels. Wenn es in arabischen Ländern Antisemitismus gibt, dann sollen die arabischen Menschenrechtskämpfer dagegen kämpfen.

Das tun sie aber nicht
Dann haben sie ein Problem.

Israelis sind also von der antisemitischen Hetze in den Nachbarländern nicht beeinflusst?

Nein. Wir haben sehr gut angefangen, aber wir haben heute einen Außenminister, der nur mit Jörg Haider zu vergleichen ist.

Wie erklären Sie sich diesen Rechtsdruck?

Weil die meisten Israelis - mit gutem Recht, weil nichts passiert - ihre Hoffnung auf einen Frieden verloren haben. Sie wollen den Frieden, das zeigen alle Umfragen, sie sind bereit, sehr viel den Palästinensern zu geben.
Seit Oslo ist sichtbar, dass die Positionen zu sehr auseinander sind. Israelis glauben auch mit gutem Grund nicht mehr an Politik. Wir haben einen Präsidenten, der vor Gericht steht, weil er seine Sekretärin vergewaltigt haben soll, wir haben einen Ministerpräsidenten und Minister, die wegen Korruption belangt werden 
Ja aber zeigen nicht gerade diese Gerichtsverfahren, dass Israel eine starke Demokratie ist?

Wir haben in Israel ein intaktes Justizsystem und ich behaupte nicht, dass wir keine Demokratie haben, sondern dass diese in Gefahr ist.

 

Danke für das Gespräch.

 

1) http://www.bpb.de/themen/5GAAUS,0,0,Shoah_und_Einwanderung.html

2) Dina Porat: An Entangled Leadership The Yishuv & the Holocaust, 1942-1945

3) http://www.bpb.de/themen/5GAAUS,0,0,Shoah_und_Einwanderung.html