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„Auf den Messias zu harren und der Messias der Völker zu sein“ – Gustav Landauer (1870-1919)

Domagoj AKRAP

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Als beeindruckende Persönlichkeit im Stile der alttestamentarischen Propheten beschreibt Franz Schoenberner, der einstige Herausgeber der satirischen Zeitschrift „Simplicissimus", Gustav Landauer, als er ihn, während der Rätezeit in München, bei öffentlichen Auftritten erlebte.1 Der mittlerweile der Vergessenheit anheim gefallene Humanist, Schriftsteller, Sozialrevolutionär und Gesellschaftserneuerer kam am 7. April 1870 in Karlsruhe als zweites Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie zur Welt. Bereits als Schüler fühlte sich Gustav Landauer unwohl und fremd in seiner wilhelminischen Umgebung. Die Schule sah er, abgesehen von wenigen Ausnahmen, als „Abwechslung von nervöser Gespanntheit und Erschlaffung, und einen ungeheuerlichen Diebstahl an meiner Zeit, meiner Freiheit, meinen Träumen und meinem auf eigenes Erforschen und Versuchen gerichteten Tatendrang".2 Intellektuelle Höhepunkte boten ihm damals Spinoza, Nietzsche, Schoppenhauer sowie die Werke Ibsens und die Musikdramen Richard Wagners.

Nach der Matura zog Landauer auf Umwegen schliesslich nach Berlin, zunächst um dort Philosophie und Philologie zu studieren. Er wird die Studien nie abschliessen, da er an einer Ausübung eines bürgerlichen Berufs nicht interessiert war. Stattdessen zogen ihn bald diverse sozialistische und anarchistische Gruppen an, die damals in der Reichshauptstadt aktiv waren. Zwischen 1891 und 1899 war Landauer literarisch für die Zeitschrift „Der Sozialist"3 tätig. Gleichzeitig schloss er sich mit Gleichgesinnten der „Die Jungen" bezeichneten Gruppe an, die sich als Opposition zur herrschenden sozialdemokratischen Parteibürokratie verstand. Parallel zu seiner politischen Aktivität entfaltete er auch eine schöpferische Schriftstellertätigkeit.

1893 entstand der Roman „Der Todesprediger", in dem er Nietzsche verarbeitete. Eine Novellensammlung folgte 1903 unter dem Titel „Macht und Mächte". In diesem Jahrzehnt, in dem Landauer seine politische Überzeugung formte, wurde er gleich drei Mal zu kürzeren Gefängnisstrafen verurteilt, in der Regel wegen „Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Staatsgewalt". Ungeachtet dieser Unterbrechungen blieb er literarisch äusserst rege. Sein starkes Interesse für das Sprachdenken und die Sprachkritik seines Freundes Fritz Mauthner bekundete er mit der Monographie „Skepsis und Mystik - Versuche im Anschluss an Mauthners Sprachkritik" (1903). An der Arbeit zu seinen Studien über die Schriften von Meister Eckhart, dessen mittelhochdeutsche Predigten er ins Deutsche übertrug, begann er bereits im Gefängnis. Sie bekräftigten seinen ausgeprägten Hang zur Mystik.
Damals lernte Landauer in Berlin, bei einem Kommunenprojekt der „Neuen Gemeinschaft" auch den jungen, vom Zionismus ergriffenen Martin Buber kennen. Von da an werden die beiden in regelmässigen Kontakt bleiben und einen regen Briefwechsel entfachen, bei dem sie einander mit Ideen kreativ unterstützten. So ist Buber gewissermassen auch Landauers nächste längere Veröffentlichung zu verdanken. Als Herausgeber der sozialpsychologischen Schriftenreihe „Die Gesellschaft" bat Buber seinen Berliner Freund einen Beitrag zu schreiben.4 Landauer nahm das Angebot an und steuerte die Monographie „Die Revolution" bei. Das Werk zählt zu den wichtigsten Landauers überhaupt und ist unentbehrlich für ein korrektes Verständnis seines föderativ-kommunitären Anarchismus.

Was Landauer unter Revolution verstand, ist kein einmaliges Ereignis in der Geschichte, sondern ein über Jahrhunderte sich hinziehender Prozess, eine permanente Tat. Die gesamte neuzeitliche Geschichte entfaltet sich zwischen den Polen der „Topie" und der „Utopie", sie verläuft demnach nicht linear. Unter Topie versteht er „das Gemenge des Mitlebens im Zustand relativer Stabilität", sie umfasst das Miteinander der Menschen, den Wohlstand, bildet den Geist und die Dummheit aus.5 Dieser Zustand der Stabilität ändert sich jedoch graduell und gerät ins Wanken. Er führt zur Utopie, dem Bereich des Individuallebens, der Kritik und „Ungebundenheit des Geistes". Es sind die „Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstendenzen, die ... in einem Moment der Krise sich durch die Form des begeisterten Rausches zu einer Gesamtheit und zu einer Mitlebensform vereinigen".6 So folgt auf jede Topie eine Utopie, die wiederum zur weiteren Topie führt. „Die Utopie ist also die zu ihrer Reinheit destillierte Gesamtheit von Bestrebungen, die in keinem Fall zu ihrem Ziel führen, sondern immer zu einer neuen Topie."7 Die Zeitspanne zwischen zwei Topien nannte Landauer Revolution; sie ist der Weg von einer relativen Stabilität über Chaos und Aufruhr zur nächsten relativen Stabilität. Die gesamte Neuzeit ist somit durch eine Abfolge von „Stabilität" - „Chaos" - „(neue) Stabilität" gekennzeichnet.
Buber und Landauer teilten ihr starkes Interesse an mystischen Bewegungen.

Während Buber durch Landauer auf Eckhart aufmerksam wurde und zur gleichen Zeit einen anderen Mystiker - Jakob Böhme - studierte, war Landauer von Bubers Nacherzählung chassidischer Geschichten begeistert. Nicht zuletzt führten ihn die Beschäftigung mit dem Chassidismus und die enge Freundschaft mit Buber wieder näher an das Judentum heran. Sie halfen ihm eine neue Sicht vom Judentum und vor allem von der jüdischen Mystik zu bekommen, die seiner romantischen Religiosität entscheidend näher kam. Denn im Chassidismus erblickte Landauer, wie auch Buber, „nicht eine Kategorie der Lehre, sondern eine des Lebens".8 Natürlich lagen sowohl bei Landauer als auch bei Buber die gleichen Quellen im Hintergrund - die deutsche Neuromantik und ihr Religionsverständnis -, und dennoch dürften Bubers Schriften ausschlaggebend für seine Hinwendung zum Judentum gewesen sein.

Wie stark die Wirkung der chassisichen Erzählungen war, zeigt seine Rezension, in der er feststellt, dass der Gott, der gesucht wird, nicht nur die Grenzen und Illusionen des wahrnehmbaren Lebens befreien, sondern vor allem der Messias sein muss, der die armen gequälten Juden aus dem Leiden und der Unterdrückung führen wird. Es waren die messianischen Aspekte, die Landauer faszinierten und in seinem politischen Denken bestärkten, aber auch sein persönliches Verhältnis zum Judentum änderte sich daraufhin, denn aus Bubers Schriften lernen wir, „dass das Judentum keine äußere Zufälligkeit ist, sondern eine unverlierbar innere Eigenschaft, deren Identität eine bestimmte Anzahl von Menschen in einer Gemeinschaft vereint".9

Landauer wendet sich von nun auch an ein spezifisch jüdisches Publikum mit Vorträgen vor zionistischen Ortsgruppen, in jüdischen Volksheimen u.a. Diese Wendung bedeutet jedoch keineswegs eine Abkehr von seinen anarchistischen und revolutionären Positionen. Im Artikel „Sind das Ketzergedanken?" aus dem Jahre 1913 wird er sein Verständnis und die Aufgabe des Judentums am deutlichsten darlegen. Der Artikel ist zunächst vom jüdischen Stundentenverein „Bar Kochba" in Prag herausgegeben worden.10 Landauer drückt darin vorab seine Abneigung gegenüber dem Parteiwesen jeglicher Art aus. Es ist meist eine „tragikomische Fata Morgana als Ersatz wirklicher Lebensdramatik", die sich fernab des eigentlichen Lebens abspielt. Diese Diagnose betrifft, so Landauer, leider auch das derzeitige Judentum - nicht der kleinste Anfang einer Verwirklichung ist zu bemerken und der Parteienkampf nimmt schon alles vorweg.11

In seinem konsequenten Antinationalismus lehnt er auch den jüdischen Nationalismus ab. „Die starke Betonung der eigenen Nationalität ist Schwäche."12 Sie verharrt in Ideen und Geist, ohne auf Verwirklichung zu drängen. Die Aufgabe des Judentums ist für Landauer eine Aufgabe für die Menschheit. So wird das uralt Gewordene, das wir aus unserer Seele emporheben, der Weg der werdenden Menschheit, und unsere sehnsuchtsvolle Tradition nichts anderes als die Revolution und Regeneration der Menschheit. Der Jude kann nur mit der Menschheit erlöst werden, was dazu führt, dass auf den Messias in Verbannung und Zerstreuung zu harren und der Messias der Völker zu sein, ein und dasselbe ist.13 Hier verleiht Landauer den Juden eine besondere, fast schon heilsgeschichtliche Rolle.

Zum Zionismus blieb er stets auf Distanz, denn es sind die „Doktrinäre", die das Eine für das All nehmen. Es ist gerade die Diasporasituation der Juden, die es dem Judentum ermöglicht, als Erlöser für die Welt in der Welt zu wirken. Sie ist Voraussetzung, damit überhaupt eine sozialistische gerechte Gesellschaftsordnung entstehen kann. Landauer verstand sich als Jude: „Mein Judentum spüre ich in meiner Mimik, in meinem Gesichtsausdruck, meiner Haltung ... [sie] geben ... mir die Gewissheit, dass es in allem lebt, was ich beginne und bin." Aber ebenso ist er auch Deutscher, sein „Deutschtum und Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb".14

Einer, wie er sagt, Simplifizierung, die einer Verleugnung eines Teils seiner Identität gleichkam, muss er sich entziehen. Denn der überragende Vorteil des Judentums gegenüber den Nationen liegt genau darin, dass sie, die sich zu Staaten abgegrenzt haben, draussen Nachbarn haben, die ihre Feinde sind; die jüdische Nation hat die Nachbarn in der eigenen Brust; und tiefe Nachbargenossenschaft ist Friede und Einheit in jedem, der ein Ganzer ist und sich zu sich bekennt.15

Ein Bekenntnis zum Judentum ist für Landauer zwingend auch ein Bekenntnis zur Menschheit und genau darin liegt die Berufung der Juden.
Aller Warnungen vor einer drohenden Kriegsgefahr zum Trotz, konnten Antimilitaristen und Antinationalisten wie Landauer den Flächenbrand, der im Sommer 1914 Europa entzündet hat, nicht verhindern. Mit dem Ausbruch des Weltkrieges hat sich auch das Verhältnis zu seinem langjährigen Freund Buber gewandelt. Buber teilte anfangs die allgemeine Kriegseuphorie unter anderem in der Hoffnung, die Ostjuden vom Joch des Zaren zu befreien. Landauer übte starke Kritik am „Kriegsbuber". Der Kontakt riss aber nicht ab, im Verlauf des Krieges wich Buber, vor allem Dank des Einflusses seines revolutionären Freundes, allmählich von seiner Haltung ab und wird ab 1916 zum entschiedenen Kriegsgegner.

Nicht nur politisch setzte der Weltkrieg Landauer zu, er musste seinen schwersten Schlag im Privatleben Anfang 1918 erleiden, als Hedwig Lachmann, seine zweite Frau, plötzlich starb. Erst langsam konnte er sich, bestärkt durch die Ereignisse rund um das Kriegsende, erholen. Es begann die dramatische kurze und gehetzte Zeit, die schliesslich zum Tod führen wird.16 Der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner bat ihn, sich an der „Bewusstseinsrevolution" zu beteiligen. Landauer sagte zu und wurde Mitglied des „Revolutionären Arbeiterrats" sowie des provisorischen Nationalrats von Bayern. Hier versuchte er seine Rätegedanken und Vorstellungen von einem föderalistischen Deutschland zu verwirklichen. Nicht nach bolschewistischem Vorbild, sondern auf dem Fundament echter Gemeinschaft und Beziehung von Mensch zu Mensch solle der Sozialismus entstehen. Landauer ist ganz im Bann des revolutionären Rausches, den er mit apokalyptischen Worten beschreibt: „Das Chaos ist da ... die Geister erwachen ..., möge aus der Revolution die Wiedergeburt kommen; ... möge uns aus der Revolution Religion kommen, Religion des Tuns, des Lebens, der Liebe, die beseligt, die erlöst, die überwindet."17

Nach der Ermordung Eisners im Februar wurde am 7. April die erste Räterepublik mit anarchistischer Beteiligung in München ausgerufen. Landauer nahm für einige Tage die Funktion des „Beauftragten für Volksaufklärung, Unterricht, Wissenschaft und Künste" an. Es sei für das Heil der Menschheit, schrieb er an seine Tochter. Daraufhin überschlugen sich die Ereignisse. Nur eine Woche später kam es, nach vorausgegangenem gegenrevolutionären Putsch, zur Ausrufung der zweiten kommunistischen Räterepublik. Sie lehnten Landauers Mitwirkung ab, worauf sich dieser zurückzog. An einer Diktatur der Roten Armee wollte er nicht teilhaben.

Am Ende des gleichen Monats zogen Truppen der Berliner Zentralregierung in München ein, um den revolutionären Experiment ein jähes Ende zu bereiten. Landauer wird am 1. Mai verhaftet und am nächsten Tag im Zuchthaus Stadelheim von Freicorpstruppen brutal ermordet. Erst 1923 konnte die Urne auf dem Münchner Waldfriedhof überführt werden. Die Nationalsozialisten haben im Juni 1933 das Grabmal zerstört und die Urne an die Münchner Jüdische Gemeinde geschickt, sie wurde dann am Israelitischen Friedhof beigesetzt.

1  S. Franz Schoenberner: Confessions of a European Intellectual, New York 1965, S. 106 (zit. nach: Paul Breines: The Jew as Revolutionary, in: Leo Baeck Yearbook Vol. 12 (1967), S. 75).

2   S. Gustav Landauer: Zwang und Befreiung, Köln 1968, S. 49.

3   „Der Sozialist" verstand sich als Zeitschrift der inneren Opposition in der Partei. In den 90-er Jahren war sie das einzige in Deutschland regelmäßig erscheinende Blatt des Anarchismus (s. Siegbert Wolf in: Gustav Landauer: Auch die Vergangenheit ist Zukunft, Frankfurt am Main, 1989, S. 10f.).

4   In einem Brief vom 26.7.1906 schrieb Buber: Lieber Landauer - In Sachen „Gesellschaft" steht es so: dem Verleger liegt es begreiflicherweise daran, bald einen Band über das aktuelle und interessante Thema „Die Revolution" zu bringen ... nicht bloß der Verleger, sondern auch ich von meinem Gesichtspunkte halte es für höchst wünschenswert, dass in der Zeit einer so paradoxen Revolution, wie die ist, die wir miterleben dürfen, ein wesentliches Wort darüber gesagt wird ... (in: Martin Buber: Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Heidelberg 1972, Bd.1: 1897-1918, S. 245f.).

5   S. Gustav Landauer: Die Revolution, Münster 2003, S. 32.

6   S. ebenda.

7   S. ebenda, S. 33.

8   Vgl. Martin Buber: Die chassidische Botschaft, in: Werke, 3. Bd., München - Heidelberg 1963, S. 760.

9   Vgl. Michael Löwy: Erlösung und Utopie, Berlin 2002, S. 198.

10   Vor dem gleichen Studentenverein hat auch Buber in den Jahren zuvor seine berühmt gewordenen frühen Reden über das Judentum gehalten.

11  Landauer spielt hier an die diversen Strömungen innerhalb der zionistischen Bewegung an, die sich schon zu Lebzeiten Herzls bitter bekämpften. Der Begriff „Verwirklichung" war in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg auch für Bubers Philosophie zentral.

12   Gustav Landauer: Sind das Ketzergedanken?, in: Auch die Vergangenheit ist Zukunft, S. 209.

13   S. ebenda, S. 211.

14   S. ebenda, S. 212.

15   S. ebenda, S. 214.

16  S. Vorwort in: Gustav Landauer: Zwang und Befreiung, Köln 1968, S. 20.

17   S. Vorwort zur zweiten Ausgabe von „Aufruf zum Sozialismus" 1919, in: Auch die Vergangenheit ist Zukunft, S. 271f.