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Das Fest der Befreiung – Gedanken zu Pessach

Klaus Samuel DAVIDOWICZ

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„Rabbi Levi Jizchak hatte einst den Seder der ersten Pessachnacht mit allen Intentionen gehalten, so dass jeder Spruch und jeder Brauch in der Weihe seines geheimen Sinns am Tisch des Zaddiks aufleuchtete. Nach der Feier, in der Morgendämmerung, saß Rabbi Levi Jizchak in seiner Kammer und war froh und stolz, weil ihm der Dienst dieser Nacht so geglückt war. Da aber redete es zu ihm: „Wessen rühmst du dich? Lieblicher ist mir der Seder Chajims des Wasserträgers als der deine." Der Rabbi rief seine Hausleute und Schüler zusammen und fragte nach dem Mann, dessen Name ihm genannt worden war. Niemand kannte ihn. Auf das Geheiß des Zaddiks gingen einige Schüler ihn suchen. Lange mussten sie umherlaufen, ehe ihnen am Rand der Stadt, wo die Armen wohnen, das Haus Chajims des Wasserträgers gezeigt wurde. Sie klopften an die Tür. Eine Frau kam heraus und fragte nach ihrem Begehr. Als sie es erfahren hatte, wunderte sie sich und sagte: „Wohl ist Chajim der Wasserträger mein Mann. Aber er kann nicht mit euch kommen, denn er hat gestern viel getrunken und schläft sich nun aus, und wenn ihr ihn auch weckt, wird er die Füße nicht zu heben vermögen." Jene antworteten nur: „Der Rabbi hat es befohlen!" gingen hin und rüttelten ihn auf. Er sah sie aus blinzelnden Augen an, verstand nicht, wozu sie seiner bedurften, und wollte sich wieder zurechtlegen. Sie jedoch hoben ihn vom Lager, nahmen ihn in ihre Mitte und trugen ihn fast auf ihren Schultern zum Zaddik. Der ließ ihm einen Sitz in seiner Nähe geben, und als er stumm und verwirrt dasaß, beugte er sich zu ihm und sprach: „Rabbi Chajim, mein Herz, auf welches Geheimnis ging Euer Sinnen, als Ihr das Gesäuerte zusammensuchtet?" Der Wasserträger sah ihn mit stumpfen Augen an, schüttelte den Kopf und antwortete: „Herr, ich habe mich umgesehen in allen Winkeln und habe es zusammengesucht." Staunend fragte der Zaddik weiter: „Und welche Weihe hattet Ihr im Sinn, als Ihr das Gesäuerte verbranntet?" Er dachte nach, betrübte sich und sagte zögernd: „Herr, ich habe vergessen, es zu verbrennen. Und nun entsinne ich mich, es liegt noch auf dem Balken." Als Rabbi Levi Jizchak dies hörte, ward er vollends unsicher; aber er fragte weiter: „Und das sagt mir nun, Rabbi Chajim: wie habt Ihr den Seder gehalten?" Da war es, als erwache jenem etwas in Äug und Gliedern, und er sprach mit demütiger Stimme: „Rabbi, ich will Euch die Wahrheit sagen. Seht, ich habe von je gehört, dass es verboten ist, Branntwein zu trinken die acht Tage des Festes, und da trank ich gestern am Morgen, dass ich genug habe für acht Tage. Und da wurde ich müde und schlief ein. Dann weckte mich mein Weib, und es war Abend, und sie sagte zu mir: ‚Warum hältst du nicht den Seder wie alle Juden?’ Sagte ich: ,Was willst du von mir? Bin ich doch ein Unwissender, und mein Vater war ein Unwissender, und ich weiß nicht, was tun und was lassen. Aber sieh, das weiß ich: unsre Väter und unsre Mütter waren gefangen bei den Zigeunern, und wir haben einen Gott, der hat sie hinausgeführt in die Freiheit. Und sieh, nun sind wir wieder gefangen, und ich weiß es und sage dir, Gott wird auch uns in die Freiheit führen.’ Und da sah ich den Tisch stehen, und das Tuch strahlte wie die Sonne, und standen drauf Schüsseln mit Mazzot und Eiern und andern Speisen, und standen Flaschen mit rotem Wein, und da aß ich von den Mazzot mit den Eiern und trank vom Wein und gab meinem Weibe zu essen und zu trinken. Und dann kam die Freude über mich, und ich hob den Becher Gott entgegen und sagte: „Sieh, Gott, diesen Becher trink ich dir zu! Und du neige dich zu uns und mache uns frei! So saßen wir und tranken und freuten uns vor Gott. Und dann war ich müde, legte mich hin und schlief ein." (Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S.351-353.)

Seit mehr als zwei Jahrtausenden leben Juden überall auf der Welt zerstreut. Trotz aller Unterschiede sind sie nicht nur durch die Religion verbunden, sondern durch das Gedenken an eine gemeinsame Geschichte. Der Exodus ist dabei ein zentrales Element. Immerhin erinnern gleich drei Feste an den Auszug aus Ägypten: Pessach, Schawuot und Sukkoth. Der Auszug aus Ägypten soll beim Seder-Abend sinnlich erfahrbar werden. Überlieferung und Aktualisierung - in jeder Generation muss sich jeder so fühlen, als ob er persönlich  aus Ägypten gezogen wäre. In der Haggda werden zu Beginn viele Fragen gestellt, die den Dialog zwischen den Generationen aufzeigen. Die Jüngsten fragen und die Ältesten antworten, in dem sie die Geschichte erzählen. Es ist traurig zu sehen, wenn Menschen angegriffen werden, wenn sie Fragen über Glauben und Rituale stellen. Das passiert gewöhnlich, wenn Lehrer oder Eltern für bestimmte Lehren der Tora keine befriedigenden Erklärungen haben. Um ihren Glauben zu verteidigen verdammen sie zugleich die Frage und denjenigen, der die Frage stellt. Dieses ist aber nicht der richtige Weg. Der Fragende könnte daraus schließen, dass es nicht richtig ist, Fragen über das Judentum zu stellen. Ein besorgter Vater kam zu einem chassidischen Rebben und sagte: „Mein Sohn ist dabei die Gemeinde zu verlassen. Was soll ich tun?" Der Rebbe antwortete: „Gib ihm mehr Liebe!" Der Name unseres Volkes, Israel, bedeutet schließlich: „der mit Gott ringt." Die Spannung zwischen Ritual und innerer Frömmigkeit tritt bei einem Fest wie Pessach besonders deutlich zu Tage. Ein Sederabend kann halachisch korrekt ablaufen und dennoch ein inhaltsloses Gefäß bleiben. Rund 200 Jahre später als der Seder des Wasserträgers Chajim gab es hier kürzlich einen ebenso unkorrekten Seder, bei dem Kinder im Garten am Lagerfeuer Kartoffeln rösteten und Lieder sangen. Die Nachbarn beschwerten sich und eines der Kinder, neun Jahre alt, stand auf und rief: „Heute feiern wir unser Befreiungsfest, da dürfen wir laut sein!" Die Befreiung aus der Sklaverei durch „Gottes starke Hand" ist das Herz der Pessach-Feier. Wie kein anderes Volk der Geschichte wurden Juden immer und immer wieder ihrer Freiheit beraubt und „nach Ägypten verkauft". Am Seder-Abend sollte man nicht zuviel Zeit damit verschwenden, darüber zu diskutieren, wann und wie oft man welche Mazza bricht oder isst, sondern mehr über die geistige Essenz des Festes nachdenken. Unter den unglaublichsten Bedingungen haben Juden in den letzten Jahrhunderten trotz tödlicher Gefahren und Gefangenschaft das Fest der Befreiung begangen. Wie man weiß, wird die Authentizität des Auszuges aus Ägypten, wie er in der Tora beschrieben wird, von vielen Wissenschaftlern heute bezweifelt, da es außerhalb der Tora keine historischen Beweise gibt. Unzählige Archäologen wie Israel Finkelstein haben sich vergeblich auf die Suche nach definitiven Spuren gemacht. Dabei ist es nicht nur der „Mann Moses", der Künstler und Denker im Laufe der Jahrhunderte beschäftigt hat – war er nun ein Ägypter oder nicht. Die moderne Forschung hat z.B. immer wieder versucht das Schilfmeer zu lokalisieren oder die Teilung der Wasser natürlichen Phänomenen zuzuschreiben. Ist es wirklich so wichtig herauszufinden, ob dieser Befreiungsakt damals in Ägypten stattfand? Was bringt es zu beweisen, dass der Exodus und die Moses-Geschichte eine Legende ist? Es ist viel wichtiger zu erkennen, was diese Geschichte den Juden immer wieder bedeutet hat und wie viel Hoffnung sie durch dieses Geschehen gewinnen konnten.

Sie vergaßen vielleicht für einen Moment ihre eigene Unfreiheit und schöpften wieder neuen Mut, sich für die Freiheit einzusetzen und Widerstand zu leisten – gegen die Sklavenhalter und Judenhasser von damals und heute. Unzählige Deutungen der Exodus-Geschichte füllen die Bücherregale und zahlreiche Bilder und Skulpturen hängen in Museen oder Kirchen. Dennoch lädt die Tora immer wieder dazu ein, tiefer in den Text hinein zu blicken. Statt verzweifelt ein „richtiges" Schilfmeer zu suchen, könnte man auch den Namen dieses Meeres näher betrachten. „Jam suf", das Schilfmeer, könnte man auch „Jam sof" lesen - das Meer des Endes. Schließlich war es für die Ägypter ein bitteres Ende. Natürlich gehört zur Moses-Geschichte auch die Übergabe der Tora. Besonders um das zweite Gebot werden bis heute heftige Debatten geführt: „Mache dir keine Statue oder irgendein Bildnis im Himmel, auf der Erde oder im Wasser unter der Erde. Verbeuge dich nicht vor ihnen und diene ihnen nicht." Das Gebot geht eigentlich eher in Richtung „Götzendienst" als in Richtung eines allgemeinen Kunstverbotes, wie es oft missverstanden wird. Im weiteren Sinn bedeutet dies, dass der Mensch immer wieder die leidige Angewohnheit hat, Götzen zu erschaffen. Dann macht er sich von ihnen abhängig und unterwirft sich den „goldenen Kälbern" von heute - vom Geld bis zum High-Tech-Handy. Abgesehen davon ist es zu bezweifeln, dass die Tora tatsächlich von einem „goldenen Kalb" spricht. Aaron formte aus Gold ein Objekt. Die Tora benutzt hierfür das Wort „egel" (Kalb), das auch als „agol" (rund) gelesen werden kann. Da anzunehmen ist, dass Aaron ein ägyptisches Götterbild geformt hatte, war es möglicherweise eine runde goldene Scheibe, das Sinnbild des ägyptischen Sonnengottes Re. Schließlich erzählte Aaron selbst: „Ich warf es ins Feuer, heraus trat dieses Kalb." Bei so einem Herstellungsprozess kann sicher keine Kalb- bzw. Stierstatue, sondern eher eine Scheibe herauskommen.

Durch den Exodus wird das Judentum zu einem Volk mit eigener Identität, eigenen Gesetzen und eigener Religion. Und diese Religion kennt im Gegensatz zu den Kulturen der Umgebung nur EINEN Gott – und der ist auch noch unsichtbar, nicht darstellbar und namenlos. Warum ohne Namen? Nur feste „benennbare" Dinge können eben auch einen Namen haben. Diese Vorstellung ist etwas, mit dem viele Menschen bis heute noch nicht zu Recht kommen. Wir haben nur „Ha-Shem", den „Namen."

„Mosche sprach zu Gott: Da komme ich denn zu den Söhnen Jisraels, ich spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter schickt mich euch, sie werden zu mir sprechen: Was ists um seinen Namen? - was spreche ich dann zu ihnen? Gott sprach zu Mosche: Ich werde dasein, als der ich dasein werde. Und er sprach: So sollst du zu den Söhnen Jisraels sprechen: ich bin da schickt mich zu euch."

Das Pessach-Fest fordert uns jedes Jahr aufs Neue heraus – wir müssen uns den Fragen der Jüngsten stellen. Wer kann eine Antwort auf das Warum wirklich geben? Wenn Kinder uns fragen, warum wir immer wieder verfolgt wurden und werden? Wir können nur die Geschichte erzählen und aus ihr lernen, dass man die Hoffnung auf Freiheit nicht aufgeben darf – „od lo awdah tikwatenu".

„Rabbi Levi Jizchak von Berditschew pflegte, wenn er in der Pessach-Haggada an die Stelle von den vier Söhnen und in dieser an den vierten Sohn kam, über, »der nicht zu fragen weiß«, zu sagen: „Der nicht zu fragen weiß, das bin ich, Levi Jizchak von Berditschew. Ich verstehe dich nicht zu fragen, Herr der Welt, und wenn ich’s verstünde, ich brächte es doch nicht fertig. Wie könnte ich mich unterfangen, dich zu fragen, warum alles so geschieht wie es geschieht, warum wir aus einem Exil ins andere getrieben werden, warum unsere Widersacher uns so peinigen. Aber in der Haggada wird zum Vater des Frageunkundigen gesprochen: ,Eröffne du es ihm! Sie beruft sich auf die Schrift, in der geschrieben steht: ,Ansagen sollst du es deinem Sohn!’ (Exodus 13,8) Und ich bin ja, Herr der Welt, dein Kind. Nicht darum bitte ich dich, dass du mir die Geheimnisse deines Weges enthüllst, - ich könnte sie nicht ertragen. Aber das eröffne du mir, tiefer, klarer, was dies hier, das jetzt eben geschieht, mir meint, was es von mir fordert, was du, Herr der Welt, mir damit ansagst. Ach, nicht warum ich leide, will ich wissen, nur ob ich dir zu willen leide." (Martin Buber, Die Erzählungen, S.342-343)