Am 25. Mai 1945 erstatte der 40-jährige Fleischhauer Rudolf Kronberger aus dem 3. Wiener Gemeindebezirk eine „Anzeige gegen Angehörige der SA im Judenlager Engerau". Anlässlich des Evakuierungsmarsches Ende April 1945 aus dem Lager Richtung Bad Deutsch Altenburg habe „eine wüste Schießerei statt[gefunden], bei der 102 Juden den Tod fanden".2 Mit dieser Anzeige begannen die umfangreichsten und am längsten andauernden gerichtlichen Ermittlungen wegen NS-Verbrechen in der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte Österreichs. Sie zogen zwischen 1945 und 1954 zahlreiche Prozesse in Wien nach sich, sechs davon erhielten die Bezeichnung „Engerau-Prozesse". Die nationalsozialistischen Behörden richteten Ende November 1944 neben anderen Lagern an der östlichen Grenze der „Ostmark" auch in der slowakischen Ortschaft Engerau (heute der 5. Bezirk von Bratislava) ein Lager ein, in dem ca. 2.000 ungarischen Juden festgehalten wurden. Bis zur Evakuierung des Lagers vor der heranrückenden sowjetischen Armee Ende März 1945 kamen Hunderte ungarische Juden aufgrund der mangelhaften hygienischen Bedingungen und aufgrund von Misshandlungen ums Leben oder wurden von der österreichischen Wachmannschaft ermordet. Mehr als hundert Personen mussten auf dem „Todesmarsch" von Engerau über Hainburg nach Bad Deutsch-Altenburg – den der oben erwähnte Rudolf Kronberger angezeigt hat - und weiter auf dem Schiffstransport in das KZ Mauthausen ihr Leben lassen. Bezeichnend für den ersten Prozess wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen war das Bestreben der in- und ausländischen Öffentlichkeit, den Willen der österreichischen Justiz zu zeigen, NS-Verbrechen ihrer Schwere gemäß zu ahnden, zumal der Druck, rasch mit der Ahndung von „Kriegsverbrechen" zu beginnen, groß war. Dem Volksgericht blieb nicht allzu viel Zeit für Ermittlungen, das Vorverfahren war daher rasch abgeschlossen. Dennoch gelang es, durch einen enormen Arbeitsaufwand (Lokalaugenschein vor Ort, Exhumierung von Leichen, Sachverständigengutachten), in nur wenigen Wochen gegen vier Personen Anklage zu erheben - darunter auch Rudolf Kronberger. Offen hingegen blieben infolge der kurzen Zeit generelle Fragen nach den Verhältnissen im Lager Engerau, weshalb eine derart hohe Zahl an Opfern zu beklagen war, wer die Schuld daran trug und eine gründliche Suche nach Überlebenden sowie ZeugInnen aus der Ortsbevölkerung. Am Dienstag, den 14. August 1945 um 9 Uhr Vormittag, trat das Landesgericht Wien als Volksgericht zu seiner ersten Hauptverhandlung zusammen. Angeklagt waren der 49-jährige Koch Alois Frank (seit 1935 Mitglied bei der SA und deswegen im „Ständestaat" sechs Wochen in Haft; seit 1938 Mitglied der NSDAP; „Alter Kämpfer" und Träger der „Ostmarkerinnerungsmedaille"), der 40-jährige Fleischhauer Rudolf Kronberger und der 44-jährige Maler Wilhelm Neunteufel (beide ab 1938 NSDAP- und SA-Mitglied) sowie ein weiterer Mitangeklagter. Gegenwärtig waren neben den drei SchöffInnen als Vorsitzender der Präsident des Wiener Landesgerichts Dr. Otto Nahrhaft, als beisitzender Richter Oberlandesgerichtsrat Dr. Sucher und als Vertreter der Anklagebehörde der Leiter der Staatsanwaltschaft Wien Dr. Eugen Prüfer.3 Diese erste Hauptverhandlung eines österreichischen Gerichts, bei der österreichische NS-Täter von österreichischen Richtern nach österreichischen Gesetzen abgeurteilt wurden, stieß auf großes nationales und internationales Interesse. Von der österreichischen Politprominenz befanden sich der Staatssekretär für Justiz Dr. Gerö (parteilos) sowie die Unterstaatssekretäre Dr. Altmann (KPÖ) und Dr. Scheffenegger (ÖVP) im Gerichtssaal. Die RAVAG berichtete um 22.15 über jeden Verhandlungstag in einer eigenen Abendsendung. Richter und Staatsanwälte wohnten der Verhandlung ebenfalls bei. Auch die alliierten Besatzungsmächte entsandten Beobachter, um zu überprüfen, ob die österreichische Justiz in der Lage wäre, NS-Verbrechen wirksam zu verfolgen. Vertreter der in Österreich zu dieser Zeit erschienen Zeitungen und Angehörige der ausländischen Presse einschließlich englischer, amerikanischer und sowjetischer Pressefotografen und Zeichner befanden sich ebenfalls unter den Beobachtern. Nach dreitägiger Hauptverhandlung wurde am Freitag, den 17. August 1945, das Urteil gefällt. Ein Augenzeuge berichtete darüber: „Heute um 13 Uhr bei der Urteilsverkündung im ersten Volksgerichtshof Prozess - obgleich die Urteile so ziemlich feststanden, erfüllte eine fühlbare Spannung den großen Schwurgerichtssaal, als sich der Vorsitzende, Präs. Dr. Nahrhaft, erhebt, um den Spruch zu verkünden. Der Raum ist dicht gefüllt, der Staatssekretär für Justiz mit seinen beiden Unterstaatssekretären, alliierte Journalisten in Uniform, Russen, Anwälte, Neugierige drängen sich auf den Bänken und den engen Gängen. Es ist düster, draußen gehen Regenschauer nieder. Der Präsident verliest mit leiser, dünner, glasklarer Stimme das Urteil, monoton fallen die Worte der Gesetzesstellen und Ziffern. [...] der Präsident gibt in freier Rede die Begründung - ein Meisterwerk sachlicher, ruhiger Rede, ohne Pathos, doch eindringlich und packend in seiner nüchternen Sprache, die dennoch ins Herz dringt, gerade durch ihre streng verhaltene Erregung, die so viel stärker wirkt, als große Tiraden. [...] Damit werden wir auch im Ausland nur den besten Eindruck von der gediegenen Qualität unserer wiedererstandenen Justiz machen"4
Das Volksgericht Wien verurteilte drei der vier Angeklagten, nämlich Rudolf Kronberger, Alois Franz und Wilhelm Neunteufel, zum Tode, ein Angeklagter erhielt eine Freiheitsstrafe von acht Jahren.5 Die drei Delinquenten wurden am 20. und 28. November 1945 im Richthof des Landesgerichts Wien durch den Würgegalgen hingerichtet.
Zwischen 1945 und 1954 ermittelte das Volksgericht Wien gegen mehr als 70 der für die Verbrechen verantwortlichen österreichischen SA-Männer und politischen Leiter und führte insgesamt sechs Prozesse durch. Neun der 21 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet, ein Angeklagter erhielt eine lebenslange Haftstrafe, das waren 21 % der Gesamtzahl an Höchsturteilen der österreichischen Volksgerichte bis 1955. Die so genannten „sechs Engerau-Prozesse" sind die einzigen Volksgerichtsverfahren, die sich über fast den gesamten Zeitraum der österreichischen Volksgerichtsbarkeit, die 1955 abgeschafft wurde, erstreckten. Anhand der im Laufe von neun Jahren durchgeführten Prozesse zeigt sich die Entwicklung der österreichischen Volksgerichtsbarkeit, die ein Spiegelbild der österreichischen Gesellschaft im ersten Nachkriegsjahrzehnt darstellt. Bei den Volksgerichten handelte es sich um Schöffengerichte, bestehend aus zwei Berufs- und drei LaienrichterInnen. Am 26. Juni 1945 wurde von der Provisorischen Staatsregierung das Kriegsverbrechergesetz beschlossen, das die für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft typischen Verbrechen unter Strafe stellte. Dazu zählten die Denunziation von Nazi-Gegnern sowie der Raub jüdischer Vermögenswerte („Arisierung") ebenso wie Verletzung der Menschenwürde und alle Verbrechen, die den „natürlichen Anforderungen der Menschlichkeit" widersprachen. Es gab vier Gerichtsstandorte – an den Landesgerichten Wien, Graz (mit Außensenaten in Leoben und Klagenfurt), Linz (mit Außensenaten in Ried und Salzburg) und Innsbruck. Es galt die österreichische Strafprozessordnung, und außer auf dem Verbots- und dem Kriegsverbrechergesetz fußten die Urteile auf dem österreichischen Strafgesetz. Das für die sowjetische Besatzungszone zuständige Volksgericht Wien nahm seine Tätigkeit im Sommer 1945 auf, die Volksgerichte der westlichen Besatzungszonen fällten im Frühjahr 1946 erste Urteile. Insgesamt wurden 136.829 Verfahren eingeleitet, in 28.148 Fällen wurde Anklage erhoben. Von den 23.477 Urteilen waren 9.870 Frei- und 13.607 Schuldsprüche. Von den 43 Todesurteilen wurden 30 vollstreckt, zwei Verurteilte begingen Selbstmord. 29 Angeklagte wurden zu lebenslänglichem Kerker verurteilt. Am 20. Dezember 1955, wenige Wochen nach dem Abzug der letzten alliierten Besatzungssoldaten, wurde die Volksgerichtsbarkeit abgeschafft. Mit der NS-Amnestie 1957 wurden auch das Kriegsverbrechergesetz und Teile des NS-Verbotsgesetzes außer Kraft gesetzt. Die Tatsache, dass österreichische Gerichte Verbrechen an ungarischen Juden, die beim „Südostwall"-Bau auf dem Gebiet der ehemaligen Ostmark Zwangsarbeit leisten mussten, nach 1945 nach österreichischen Gesetzen ahndeten, war über Jahre hinweg ein Forschungsdesiderat und ist international nach wie vor weitgehend unbekannt. Neben den Engerau-Prozessen fanden in Wien, Graz und Linz eine Reihe weiterer „Südostwallverfahren" statt, wie beispielsweise wegen des Massakers an ungarischen Juden im burgenländischen Rechnitz, wegen der Ermordung von ungarischen Juden in Deutsch-Schützen, sowie Prozesse wegen Verbrechen beim „Südostwall"-Bau im burgenländischen Strem. Neben Verbrechen an der österreichischen Zivilbevölkerung zu Kriegsende und Verbrechen bei der Räumung von Justizanstalten zählen die Morde beim „Südostwall"-Bau zu jenen so genannten „Endphaseverbrechen", die insbesondere in den ersten Nachkriegsjahren häufig Gegenstand von Volksgerichtsprozessen waren. Die österreichische Volksgerichtsbarkeit war kein von den Entwicklungen im Nachkriegseuropa abgekoppeltes Vorgehen einer Sondergerichtsbarkeit. Die Prozesse fanden vor dem Hintergrund der Ahndung von NS-Verbrechen in zahlreichen europäischen Ländern statt. Ausgehend vom Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurden in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowohl von den Alliierten aber auch von nationalen Gerichten Standards im Bezug auf die Ahndung von Kriegs- und Humanitätsverbrechen gesetzt, die bis heute ihre Gültigkeit haben und die beispielsweise auch in der aktuellen Diskussion um den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angewendet und weiterentwickelt werden.