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EIN CHANUKKA ANDERER ART

Ferdinand DEXINGER

EIN CHANUKKA ANDERER ART

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Von dem, was vor dem Zweiten Weltkrieg das jüdische Vilnius, das "Jerusalem Litauens" war, sind trotz aller Zerstörung immer noch viele Gebäude erhalten, auf die man beim Gang durch die seit der Unabhängigkeit Litauens erstaunlich gut restaurierte Altstadt stößt. Am Schabbat allerdings versammelt sich in der einzigen von den Nazis nicht zerstörten Synagoge in der Pylimo-Straße nur eine Handvoll Leute. Alle anderen 79 Synagogen sind der Zerstörung zum Opfer gefallen. Die eine, die Chorschul, hatte als Verbandzeuglager gedient und blieb so verschont. Im ehemaligen jüdischen Viertel, das zum Ghetto umfunktioniert worden war, erhob sich auf dem Areal hinter der Häuserzeile der "Deutschen Straße" die große Synagoge und die berühmte Straschun-Bibliothek, die nur mehr aus Abbildungen bekannt ist. An dieser Stelle findet man heute den bescheidenen Bau eines Kindergartens und daneben in idyllischem Grün ein Denkmal, das an den großen Gaon von Vilna (1720-1797) erinnert, dem wohl prominentesten jüdischen Sohn dieser Stadt.
Nicht nur in der eigentlichen Altstadt erinnern steinerne Zeugen an vergangene Tage jüdischen Lebens. Auch in den Stadtvierteln, die aus dem 19.Jh. stammen, findet man etwa das Gebäude, in dem einst das berühmte Tarbut-Gymnasium untergebracht war. Dort ist heute ein Teil des jüdischen Museums untergebracht, das jedoch bald in sein neues Haus übersiedeln wird. Für diesen Zweck wurde das Gebäude des ehemaligen jüdischen Theaters völlig neu adaptiert. Am anderen Ende der Stadt steht ein Ziegelbau nach Art der Fabriksgebäude des 19.Jh. Das ist die ehemalige Druckerei der Familie Romm, in der die traditonelle Standardausgabe des Talmuds und andere rabbinische Texte gedruckt wurden, die bis heute immer wieder reproduziert werden.
Was hat das alles mit Chanukka zu tun? Zunächst nichts! Wenn man allerdings ein Plakat des Brit Ivrit Olamit sieht, das in den 40ger Jahren im Ghetto entstanden ist und zu einer Chanukka-Feier einlädt, dann macht man sich unwillkürlich Gedanken: Gibt es für diese so gewaltsam zerstörte jüdische Welt ein Chanukka, ein Wiedererstehen? Realistischer Sinn weist die Antwort: Das ist nicht möglich, das Jerusalem Litauens hat endgültig aufgehört das zu sein, was es einmal war.
Und dennoch kann man das auch anders sehen, wenn es nur erlaubt ist, den Festgedanken von Chanukka etwas umzuprägen. Im Grunde ist auch in den Tagen der Makkabäer in Jerusalem nichts anderes geschehen, als daß trotz Zerstörung und Niedergang Neues sich entwickelte. Wenn man es nicht vordergründig versteht, so gilt das auch für Vilnius. Nicht daß es hier je wieder jüdisches Leben nach der Art vergangener Zeiten geben könnte. In zweifacher Hinsicht ist aber auch hier eine (andere) Art von Chanukka möglich. Die eine ist in den letzten 10 Jahren in großem Ausmaß verwirklicht worden. Hatte noch das kommunistische Sowjetregime die Erinnerungen an spezifisch Jüdisches weitgehend verdrängt und sogar den Zerstörungsprozeß der Nazis fortgesetzt, so erfahren nun die steinernen Zeugen jüdischer Vergangenheit jene Pflege, deren sie würdig sind. Es nimmt daher nicht wunder, daß man nun jüdischen Reisegruppen begegnet, die sich aus Teilnehmern zusammensetzen, die vor Jahrzehnten ihre Heimat verlassen haben, in Südafrika Zuflucht fanden und nun in Israel leben. Sie kommen zurück, um wenigstens als Touristen, die steinernen Zeugen der Vergangenheit zu suchen.
Ein zweiter Aspekt dieser Wiedergeburt sollte nicht übersehen werden. Die neugewonnene Möglichkeit, diesen Ort - und natürlich auch andere Städte Osteuropas - aufzusuchen, zu bereisen, trägt nicht unwesentlich dazu bei, daß dieser facettenreiche Teil der jüdischen Geistes-und Kulturgeschichte, ohne den die heutige jüdische Lebenswirklichkeit nicht verständlich ist, neu ins Bewußtsein - last but not least - auch der nichtjüdischen Welt dringt und dringen wird.
Man darf sich freilich nicht auf nostalgische Reminiszenzen mit Klezmer-Musik untermalt beschränken. Es gilt sozusagen Häuser und Plätze sprechen zu lassen, die besser als jedes Denkmal es vermag, die Furchtbarkeit der Schoa hautnah erfahren lassen. Am 23. Sep. 1943 wurde das Ghetto liquidiert.
Aber auch dabei kann und soll man nicht stehen bleiben. Wer waren die Menschen, die hier gelebt und gedacht haben, ehe sie ermordet wurden? Wer waren ihre Vorfahren? Was prägte das geistige Leben der einst im traditionellen Gebiet Litauens lebenden Juden?
Immerhin hatte der fast mythisierte Gründer des mittelalterlichen Litauens, Vytautas (1350-1430) die ersten Juden ins Land geholt. Von ihnen erhoffte man sich einen wichtigen Beitrag beim Aufbau des Landes. Es ist hier nicht der Ort die 600jährige Geschichte der Juden Litauens vorzuführen. Nur an einiges aus der jüngeren Geschichte sei hier erinnert. In Vilnius wurde 1897 die Gründungsversammlung des "Bundes" abgehalten.Wie das später nach New York übersiedelte 1924 in Vilnius gegründete YIVO-Institut zeigt, war Vilnius auch das Zentrum jiddischer Gelehrsamkeit und literarischen Wirkens. Nicht minder bedeutsam war natürlich die Vermittlung des modernen Hebräisch als Teil einer weltlichen jüdischen Kultur durch seine Verwendung als Unterrichtssprache in Teilen des jüdischen Schulwesens.
Die jüdische Gemeinde in Vilnius war vom Ende des 19.Jh. bis zu ihrer Vernichtung sozusagen ein Kosmos des jüdischen Lebens im Kleinen - auch mit allen politischen Gruppierungen. Über alles Trennende hinweg kam es im Jänner 1942 zur Gründung der Widerstandsgruppe FPO (Fareinigte Partisaner Organisatsje). Ihr blieb ein Erfolg, wie ihn die Makkabäer verzeichnen konnten, bekanntlich versagt und damit auch ein Chanukka im eigentlichen Sinn.
Moshe Kulbak (1896-1940), selbst ein Sohn Vilnas, in dessen Biographie auch etwas von der Problematik jüdischer Identität sichtbar wird, hat mit seinem im Jahre 1927 in jiddischer Sprache verfaßten expressionistischen Gedicht "Wilne" dem jüdischen Vilnius ein literarisches Denkmal gesetzt:

"Du bist ein dunkles Amulett, in Litauen gefaßt,
Auf deinem ruhelosen Grund erglühen Gestalten:
Die strahlendbleichen Weisen eines fernen Lichts,
Mit harten Knochen, von der Arbeit abgeschliffen;
Der glutvoll stählerne Bundist im Rothemd;
Der blaue Talmudist vormgrauen Bergelson.
Jiddisch ist hier der schlichte Kranz von Eichenblättern
Über den hehren Toren zur Profanen Stadt,
Jiddisch ist graues Licht, das in den Fenstern funkelt -
Und wie ein Wandrer, der am alten Brunnen rastet,
So sitz ich da und lausche seiner rauhen Stimme,
Die mir das Blut in allen Gliedern rauschen läßt.
Ich bin die Stadt! Die tausend schmalen Weltentüren,
Der Schwall von Dächern hoch zum schmutzigkalten Blau.
Ich bin die schwarze Flamme, die an den Mauern züngelt
Und in den Augen des Vertriebnen glüht.
Ich bin das Grau! Die schwarze Flamme! Bin die Stadt!"